Unfassbare Realität

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«Wenn du wirk­lich mein Freund wärst, wür­dest du es machen.» Jan ist ein selbst­be­wuss­ter jun­ger Mann (Jonas Rüegg). Er liegt im Bett eines Pflegezentrums und erlebt sei­nen ste­ten Zerfall bei voll­stem Bewusstsein und schar­fem Verstand. Er lei­det an Muskelschwund. Ausser sei­nem Kopf und sei­nem lin­ken klei­nen Finger kann er nichts mehr bewe­gen. Seine Eltern wol­len von ihm nichts wis­sen. «Mach’ es end­lich!» Seine Aufforderung zur Tat gilt Max (Lukas Kubik). Der ist weit weni­ger selbst­ge­wiss als Jan, was er zwar geschickt über­spielt, aber Jan nicht ent­geht. Max ist Zivildienstleistender. Er arbei­tet im Pflegeheim, Jan ist ihm zuge­teilt. Mit «es machen» meint Jan eine zwar etwas abwe­gi­ge, aber doch harm­lo­se Sache: Max soll Jan’s Kissen mit einem Plastik-Abfallsack über­zie­hen, damit die­ser die kal­te, glat­te Substanz des Plastiks füh­len kann. Max, der from­me und anstän­di­ge Zivi, fin­det das per­vers und es ist ihm auch ein biss­chen pein­lich. Er will nicht. Aber er will dem armen Jan eben auch nicht jeden Wunsch abschla­gen.

Zum Zeitpunkt, als Jan «sei­nen» Zivi Max um dies bit­tet, ken­nen sich die bei­den schon eine Weile. Es ist eine Freundschaft ent­stan­den. Und eine Abhängigkeit. Beide sind auf­ein­an­der ange­wie­sen, bei­de sind auf ihre Art hilf­los. Ohne Max’ Betreuung kann Jan schlicht nichts tun. Max wäscht ihn, klei­det ihn, spielt mit ihm Schach. Und Jan spielt mit Max ande­re Spiele. Er lotet stän­dig die Grenzen sei­nes Zivis aus. Versucht mit ver­ba­ler Barschheit her­aus­zu­fin­den, wie Max auf was reagiert und macht sich zunut­ze, dass Max, der nicht vie­le Freunde hat, Jans Freundschaft anstrebt. Er testet auch, wie weit Max dafür zu gehen bereit ist, und nutzt die Unsicherheit und Naivität sei­nes Zivis aus.

Sterbehilfe spie­len

Schon nach zehn Minuten Spiel wer­den die­se Abhängigkeiten deut­lich. Nur Max scheint sie nicht zu regi­strie­ren. Und dies wie­der­um wird durch Jan regi­striert. Dieser baut immer mehr Druck auf. Knüpft die Freundschaft immer öfter an Bedingungen, zeigt Stärke, Willenskraft und teils anstös­si­gen Galgenhumor, der Max zu weit geht. «Pimmel, Pimmel, bald kommst du in den Himmel!» Und manch­mal zeigt Jan auch Zweifel, Schwäche, Hoffnungslosigkeit. «Warum? Was habe ich getan, dass ich hier so vor mich hin­fau­len muss?» Mit die­sem Wechselspiel, das ver­mut­lich nicht immer nur Spiel ist, hat er Max bald im Griff. Soweit, bis die­ser ihn tötet. Auf eine Art und Weise, wie Max wohl sel­ber nie und nim­mer auf die Idee gekom­men wäre. Er packt ihn in Abfallsäcke ein und wirft ihn in den Müllcontainer, wo Jan bald dar­auf stirbt. Und dies alles auf Jan’s aus­drück­li­chen Wunsch. Max meint, Jan habe alles so vor­be­rei­tet, dass er als­bald wie­der aus dem Container geholt wer­de. «Es ist ja nur ein Spiel!»

Eine ganz nor­ma­le Entwicklung

Lukas Kubik und Jonas Rüegg nähern sich die­sem unfass­ba­ren Ende in einer Weise, wie unser­ei­ner beim Kochen auf das fer­ti­ge Nachtessen hin­ar­bei­tet. Ihr Spiel ist gera­de dar­um so über­zeu­gend, weil es wenig Spektakuläres hat, dafür umso mehr Wahrhaftigkeit. Das Stück unter der Regie von Doris Strütt nimmt einen schein­bar ganz natür­li­chen Verlauf, die Beziehung die­ser zwei jun­gen Männer wächst und wächst, die Zuneigung wird grös­ser und plötz­lich stecken sie in einer Situation, die von aus­sen betrach­tet nicht absur­der, nicht unfass­ba­rer, nicht schlim­mer sein könn­te: Ein Freund packt einen Freund, der sich nicht ein­mal weh­ren könn­te, wenn er denn woll­te, wie ein Stück Abfall fein säu­ber­lich in Müllsäcke, ver­klebt ihm den Mund und schmeisst ihn in den Container. Natürlich ver­läuft die Entwicklung die­ser Freundschaft, die­ser Geschichte nicht rei­bungs­los und aus­ge­las­sen. Natürlich gibt es Konflikte, Enttäuschungen, Vorwürfe. Aber in Anbetracht der Extremsituation, in der sich die bei­den befin­den, hat all dies nichts Tragisches, nichts aus­ser­ge­wöhn­lich Beunruhigendes. Und wel­che Beziehung ver­läuft denn schon «rei­bungs­los»? Und doch gip­felt die­se in einem Moment abso­lu­ter Tragödie. Und unmit­tel­bar steht die Frage im Raum: Wer von bei­den war der Täter?

Vielleicht lie­fert das Lied, das sogleich ein­ge­spielt wird, eine Antwort? «Don’t stop me now». Die hohen Töne von Queen ergies­sen sich über den Menschen, der da im Abfallsack liegt.

Die Hoffnung stirbt zuerst

Der Ausgang ist von vorn­her­ein klar. Das Ende ist bekannt. Und den­noch erwar­tet man es bis zum Schluss nicht. Weil soweit wer­den sie ja dann doch nicht gehen, die bei­den. So naiv wird Max wohl doch nicht sein. Und Jan wird es gar nicht tat­säch­lich wol­len, ver­mut­lich steht er doch ein­fach nur auf Plastik. Es bleibt ein Spiel. So hofft man. Was in die­sem Stück aber noch vor Jan stirbt, ist die Hoffnung. Umso mehr, als die Geschichte noch nicht ein­mal erfun­den ist. Sie ist pas­siert. In einem Hamburger Pflegeheim fand man im Februar 2001 an einem kal­ten Freitagmorgen die Leiche eines jun­gen Bewohners im Abfallcontainer. Der 27-jäh­ri­ge Muskelkranke war ein­ge­packt in Abfallsäcke, sein Mund war zuge­klebt. Noch am sel­ben Morgen hol­te die Kripo den 20-jäh­ri­gen Zivildienstleistenden ab, der das Opfer betreut hat­te. Dieser erzähl­te vom «Spiel», das der Kranke hat­te spie­len wol­len. Über die Begegnung die­ser bei­den jun­gen Männer und die Entwicklungen, die zu die­ser Tat führ­ten, schrieb Heiko Buhr ein Hörspiel mit dem Titel «Abfall», das nun im Kellertheater Winterthur als Bühnenstück urauf­ge­führt wur­de. Es zeigt die Realität in ihrer gan­zen Rohheit. Und die wiegt schwer.

Die unauf­ge­reg­te Inszenierung im Kellertheater wirkt sehr doku­men­ta­risch. Nur hin und wie­der wer­den mit­hil­fe von Ton- und Licht-Spielen traum­haf­te Sequenzen ein­ge­baut. Dieses Dokumentarische ist sehr stim­mig. Doch lässt es einen manch­mal ver­ges­sen, dass die Dialoge nur erfun­den sein kön­nen. Basierend auf Erzählungen von einem der bei­den Involvierten, aber ins­ge­samt erfun­den. Dass die Geschichte an sich wahr, ihre Rekonstruktion aber fik­tiv ist, macht die Frage, die am Schluss über allem schwebt, voll­ends unbe­ant­wort­bar. Und umso dring­li­cher. «Abfall» bringt auf den Punkt, was nicht in Worte zu fas­sen ist. Und dies gilt weit über die­se eine Geschichte hin­aus.

Am Dienstag, 13.3. spricht Barbara B. Peter (DRS2) mit Fachleuten und der Regisseurin über das Stück «Abfall», sowie über die Unversehrtheit und was das Leben lebens­wert macht. Im Kellertheater Winterthur um 20.30 Uhr.

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