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Rousseau und die Freidenker

Der Tag des Herrn, und außer­dem noch der drit­te Sonntag im September, folg­lich der eid­ge­nös­si­sche Dank‑, Buss- und Bettag: Der radi­kal-athe­isti­sche Freidenker-Verband beweist gutes Timing mit sei­ner Tagung zu Jean-Jacques Rousseau, dem gros­sen Denker der Aufklärung und der Religionskritik. Einen gan­zen Tag lang soll aus Anlass sei­nes 300sten Geburtsjubiläums in Vorträgen, sze­ni­schen Lesungen und Diskussionen das Werk des Verfassers von «Emile» und «Du Contrat Social» reflek­tiert wer­den. Was trifft man hier wohl für ein Publikum? Viele der Anwesenden sind schon wür­dig ergraut, doch es gibt auch weni­ger alte und auch eini­ge wirk­lich jun­ge. Drei Generationen von ein­ge­fleisch­ten Atheisten sind der Einladung gefolgt, sodass man sich die Frage stellt, wie gross eigent­lich die Schnittmenge des­sen ist, was sie sich jeweils unter Freiheit, Selbstbestimmung und Aufklärung vor­stel­len. Rousseaus Hauptwerke erschie­nen immer­hin schon vor 250 Jahren, zu ihm kann sich heu­te eigent­lich jeder beken­nen. Auffällig ist zunächst nur, dass man so vie­le karier­te Hemden wie sonst nur in der Mensa der ETH sieht. Der Frauenanteil liegt opti­mi­stisch geschätzt bei zwan­zig Prozent. Die Kongresshalle im Zentrum Karl der Grosse erfüllt alle Anforderungen, aber sie bleibt eben eine Kongresshalle. Helfer lau­fen in T‑Shirts der Freidenker her­um und betrei­ben einen Bücherstand. Nun hat­te man frei­lich vom «Denkfest», so schon der offi­zi­el­le Titel, kei­ne rau­schen­de Orgie erwar­tet, und das alles wirkt auf sei­ne Art durch­aus sym­pa­thisch; aber man wird an die etwas trau­ri­ge Gewissheit erin­nert, dass es der Vernunft ganz ein­fach an Sex-Appeal man­gelt, und dass das ein struk­tu­rel­les Problem zu sein scheint.

Rousseau und das Böse

Den span­nend­sten Beitrag lie­fer­te sicher­lich der Philosophieprofessor Urs Marti mit sei­nem Vortrag über Rousseaus Sicht auf das Böse. Für Rousseau, der den berühm­ten Begriff des «guten Wilden», des «bon sau­va­ge» präg­te, ist das Böse im Menschen eine Folge sei­ner Vergesellschaftung. Es macht kei­nen Sinn, über den Naturmenschen in den Begriffen von Gut und Böse zu spre­chen. Die Natur ist das Indifferente und Gegebene, Moral ist nur in der Zivilisation denk­bar. Während der Naturmensch jedoch einem gesun­den Selbsterhaltungstrieb folgt, so Rousseau, und des­halb sei­ne Bedürfnisse befrie­digt, erzeugt die Zivilisation künst­li­che Bedürfnisse, und schon ist das Ausmass an Schaden und Verwirrung beträcht­lich. Eine ver­häng­nis­vol­le Eigenliebe ergreift den Menschen, genährt durch Neid, Missgunst, Gehässigkeit, Herrschsucht und fremd­be­stimm­te Ressentiments, kurz: aus­nahms­los Gefühle, die aus sei­ner (ant­ago­ni­sti­schen) Beziehung zu ande­ren ent­ste­hen. Hierin liegt das Böse, und im Grunde liegt hier auch schon die Wurzel für Rousseaus Gesellschaftsvorstellungen, die letzt­lich dar­auf hin­aus­lau­fen, die Menschen mög­lichst auf Distanz von­ein­an­der zu hal­ten, um das Schlimmste zu ver­hin­dern. Je weni­ger Institutionen, die den Menschen gegen sei­nen Willen an ande­re Menschen bin­den, desto bes­ser. Ist Rousseau ein Philosoph für Autisten? Natürlich nicht, doch im Vortrag von Urs Marti klang es manch­mal wit­zi­ger­wei­se so. Allerdings sind die­se Themen in Zeiten der zuneh­men­den Vernetzung, aber auch der schwä­cher wer­den­den tra­di­tio­nel­len Bindungen aktu­el­ler denn je. Selbst wenn die Antworten kom­ple­xer sind.

Vom Nutzen und Nachteil sze­ni­scher Lesungen

Szenische Lesungen, zumal von phi­lo­so­phi­schen Texten wie dem «Gesellschaftsvertrag», sind immer schwie­rig (der Disput mit David Hume, eben­falls auf­ge­führt, war grif­fi­ger und inso­fern ein­fa­cher). Die ursprüng­li­che Idee dahin­ter muss gewe­sen sein, dass man den Gedanken beim Wachsen zuschau­en kann, dass sie sich schein­bar aus der Rede ent­wickeln, dass die Evidenzen sich schein­bar von selbst anstel­len; kurz, dass man sich der gros­sen Aufgabe stellt, das Erlebnis des Denkens nach­zu­zeich­nen. Man muss sagen, dass dies den Schauspielern über­ra­schend gut gelang. Meistens schaff­ten sie es, der Theorie den leicht schwär­me­ri­schen, fast nai­ven Enthusiasmus mit­zu­ge­ben, der die Epoche der Aufklärung eben auch aus­mach­te. Diesen heu­te kaum mehr nach­fühl­ba­ren intel­lek­tu­el­len Optimismus tat­säch­lich halb-dra­ma­tisch aus­zu­spie­len, ist bei nähe­rer Betrachtung sogar ziem­lich mutig (es fal­len einem unwill­kür­lich Filmdarstellungen von Danton oder Robespierre ein, ganz ohne Hintergedanken). Der Vollständigkeit hal­ber: Lesungen von poli­ti­scher Philosophie miss­lin­gen genau dann, wenn sie sich wie ein Volkshochschulkurs in Staatsbürgerkunde anhö­ren. Schlimm waren in die­sem Sinne die Einspielungen vom Band, in denen die Grundgedanken der Demokratie und der libe­ra­len Gesellschaft noch­mal in ein­fa­chen Aussagesätzen zusam­men­ge­fasst wur­den. Zum Glück muss­te man nicht mit­spre­chen.

Schweizer Zeitgeist

Es ist eine Binsenweisheit, dass man den Zeitgeist dar­an able­sen kann, wie über gros­se Geister der Vergangenheit gespro­chen wird. Urs Marti wur­de in sei­nem zwei­ten, kür­ze­ren Vortrag nicht müde zu beto­nen (im Übrigen voll­kom­men wahr­heits­ge­mäss), dass Rousseau beim besten Willen kein Proto-Sozialist und kein Kommunitarist war; es ging ihm um Freiheit und Rechtsgleichheit, aus­drück­lich nicht um den Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum oder gar die staat­li­che Umverteilung von Gütern. Nicht zu ver­ges­sen sein nach­drück­li­ches Beharren auf dem Schutz des Privateigentums. In der Lesung hat­te man schon erfah­ren: «Der Mittelstand ist der gesün­de­ste Teil der Republik.» Gut, dass man das noch ein­mal geklärt hat. Rousseau ist für den Schweizer Liberalismus geret­tet. Aufatmen. Vielleicht war es auch kein Zufall, wenn Marti an ande­rer Stelle auf Hobbes, Spinoza und Locke ver­wies, der Blick auf die Wirkungsgeschichte sich aber auf Nietzsche beschränk­te – wäh­rend ein moder­ner Vertragstheoretiker wie John Rawls, der durch­aus einen wei­te­ren Begriff von Gerechtigkeit ent­wickel­te, lie­ber uner­wähnt blieb.

Bekenntnisse

Bei der Podiumsdiskussion zum Thema «Welcher Gesellschaftsvertrag für die Schweiz von heu­te?», an der Vertreter von vier gros­sen Parteien teil­nah­men, kam dann zunächst eine Überraschung: Man spricht tat­säch­lich über Rousseau, zumin­dest am Anfang. Alle hat­ten sich nach­weis­lich ein­ge­le­sen. Vermutlich muss man, wie der Autor die­ser Zeilen, aus einem Land kom­men, in dem die popu­lär­ste poli­ti­sche Talkshow von Günter Jauch mode­riert wird, um so etwas wert­schät­zen zu kön­nen. Man war sich schnell einig, dass die Volksabstimmungen eine gute Sache sind, das hät­te Rousseau sicher auch so gese­hen. Schliesslich lan­de­te man aber natür­lich doch bei den Niederungen der Tagespolitik. Jaqueline Badran (Nationalrätin, SP) war dabei argu­men­ta­tiv mit Abstand die Beste und hau­te Claudio Zanetti (SVP) mehr­mals nach allen Regeln der Kunst in die Pfanne (dafür muss sie drin­gend an ihrem impres­si­on manage­ment arbei­ten; manch­mal wirkt sie so zän­kisch und ver­bis­sen, dass man ein biss­chen Angst bekommt). Zanetti: Das gros­se Ganze im Blick behal­ten, sich nicht in Details ver­lie­ren, wenn es um Volksabstimmungen geht. Badran: Ach, und Minarette sind das gros­se Ganze? Treffer. Zanetti: Der Staat darf die Freiheit des Einzelnen nicht beschnei­den. Badran: Warum die SVP dann so vehe­ment für das Marihuana-Verbot sei? Treffer, ver­senkt. Man möch­te nicht ihr Sohn sein. Schliesslich Ovationen aus dem Saal, als Zanetti die tota­le Trennung von Kirche und Staat for­dert. Dass es die im Grunde schon gibt, muss­te nicht mehr dis­ku­tiert wer­den; nun war klar, was hier eigent­lich das eini­gen­de Band war. Im Übrigen wol­le man auch kei­ne sau­di-ara­bi­schen Hassprediger in der Schweiz. Links? Rechts? Antiklerikal, das ist doch auch was. Nun kam Bewegung in die Sache, die sich jedoch schnell wie­der ver­lief, als offen­sicht­lich wur­de, dass man beim klein­sten gemein­sa­men Nenner ange­langt war. Es war auch kein Hassprediger im Raum, und so kehr­te gegen Ende wie­der Ruhe ein.

Zum Schluss eine gute Nachricht für alle Philosophie-Interessierten, denen die­se Ausflüge in die Tagespolitik schon zu viel sind: Rousseau sah es im Grunde genau­so. In sei­nem Leben stets ein Einzelgänger, konn­te ihn auch alles Theoretisieren über Fragen der Verfassung und der Staatsformen nicht von der Überzeugung abbrin­gen, dass es für das Denken letzt­lich nur eine Heimat geben kann: «Der Philosoph ist nicht Vater, nicht Bürger, nicht Mensch. Er ist Philosoph.»

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