Von Marseille 1940 zum 7. Oktober 2023

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Von Dr. Regula Stämpfli – Die Wüste apo­li­ti­scher indi­vi­du­el­ler Beleidigten-Literatur ist durch­schrit­ten. Unsere Essayistin erzählt von der gros­sen Flucht der Literatur in Marseille im Jahr 1940 und von der gran­dio­sen Widerstandsliteratur seit dem 7. Oktober 2023.

Anna Seghers, André Breton, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel, Bertolt Brecht, André Gide, Aldous Huxley, Boris Pasternak dräng­ten sich in Paris im Juli 1935 mit über 250 ande­ren bekann­ten Autorinnen und Autoren in brü­ten­der Hitze im «Maison de la Mutualité» neben­ein­an­der. Es war ein Literaturfest für über 3000 Zuhörer und Zuhörerinnen. Ein Kongress, des­sen ein­zi­ges Ziel es war, die Kultur gegen die deut­schen Nationalsozialisten und gegen die Faschisten in Italien zu mobi­li­sie­ren. Initiiert von mos­kau­treu­en Autoren und Autorinnen wie Anna Seghers, ging der Kongress dar­um, die Sowjetunion als «mora­lisch akzep­ta­ble Alternative zum Terror der Faschisten und gegen kapi­ta­li­sti­sche Ausbeuterei» in Stellung zu brin­gen. Während der Session kam es zu üblen Tumulten, da die stram­men Stalinisten der Autoren, die in Stalins Todeslager elen­dig­lich ver­reck­ten oder schon längst ermor­det wor­den waren, nicht geden­ken woll­ten: «Nachrichten über Gegner Stalins, die in Lagern ver­schwin­den, kön­nen wir nicht gebrau­chen.» Die stram­me Kommunistin Anna Seghers, die in ihrem Leben unzäh­li­ge ande­re Namen trug, war «nicht nur eine gros­se Erzählerin», son­dern eine gewief­te Politikerin. Sie spiel­te «die Gefahren des Faschismus für den gan­zen Kontinent gegen das Schicksal eines angeb­lich ver­wirr­ten Einzelnen aus». Klingt bekannt, nicht wahr? «In einem Haus, in dem es brennt, kann man nicht einem Menschen hel­fen, der sich in den Finger geschnit­ten hat», waren die Worte Seghers’, die den Literaturkongress als anti­fa­schi­sti­sche Veranstaltung für die Sowjetunion ret­te­te. So also ord­nen Ideologinnen Massenmorde ein: als einen Fingerschnitt in der Utopie. Klingt irgend­wie auch bekannt, nicht wahr? Auch Lion Feuchtwanger – obwohl er kein Kommunist war – liess sich als eit­ler Fratz ger­ne von der UdSSR ver­füh­ren. Die Aussicht, durch die rus­si­sche Übersetzung sei­nes Bestsellers «Erfolg» noch rei­cher zu wer­den und bei einem all­fäl­li­gen Besuch in Moskau sei­ner unstill­ba­ren Gier auf Frauen –in Bordellen und an Kongressen– nach­kom­men zu kön­nen, mach­te aus Feuchtwanger, sehr oppor­tu­ni­stisch, einen Bewunderer Stalins.

Es gehört zur bösen Ironie der Geschichte, dass kei­ner der glü­hen­den lite­ra­ri­schen Sozialisten auf der Flucht vor den SS-Schergen in Paris 1940 ein Visum von der UdSSR erhielt. Nicht mal die glü­hen­de Kommunistin Anna Seghers: Der Pakt zwi­schen NS-Regime und UdSSR ver­hin­der­te dies. Ausgerechnet die Erzfeinde Hitler und Stalin hat­ten sich – zwecks Unterwerfung Europas, Liquidation über­lie­fer­ter Eliten und Judenverfolgung – zusam­men­ge­schlos­sen. Gerettet wur­de die deut­sche Literatur, die bis heu­te das «Land der Dichter und Denker» an Universitäten, Theatern und in Medien beflü­gelt, nur durch Amerikaner und Französinnen. Menschen, die Haushaltsnamen wie Brecht, den Manns, dem schon erwähn­ten Feuchtwanger, Döblin, Arendt, Chagall, Max Ernst, Lévy-Strauss, Lubitsch, Alma Mahler und Tausenden ande­ren Flüchtlingen unter Einsatz des eige­nen Lebens eine Zukunft ermög­lich­ten. Es sind die­se bis heu­te namen­los geblie­be­nen Heldinnen und Helden, denen Uwe Wittstock in «Marseille 1940» im Jahr 2024 ein Zeugnis setzt: Varian Fry (1907–1967) und Mary Jayne Gold (1909–1997) bei­spiels­wei­se. Wittstock schreibt packend über Berühmte und Heldinnen; «Marseille 1940» ist ein Buch, das man immer wie­der lesen kann, um sel­ber noch mehr über die namen­los Gebliebenen in Erfahrung zu brin­gen. «Marseille 1940» heisst das Werk des­halb, weil der Blitzkrieg der ganz nor­ma­len deut­schen Massenmörder nun auch in Frankreich ein­ge­fal­len war und damit die Flucht der Betroffenen, die sich im schö­nen Paris lan­ge sicher gefühlt hat­ten, von einem Tag auf den ande­ren zur Überlebenssache mach­te. Bitter ist: Die geret­te­ten Berühmtheiten, Literaten alle­samt, Künstler halt, mit fein­füh­li­gen Seelen, dank­ten es ihren Helfern nie.

«Überraschend ist, wie wenig Anerkennung Varian Fry und sei­ne Leute in Deutschland gefun­den haben, obwohl die deut­sche Kulturgeschichte ihnen doch eini­ges zu ver­dan­ken hat», meint Uwe Wittstock in sei­ner nüch­ter­nen Art. So wie er in sei­nem Buch sehr sach­lich die Wirklichkeit hin­ter den Hollywood-Inszenierungen des Zweiten Weltkriegs zurecht­rückt: «Während der letz­ten erbit­ter­ten Schlachten mit der bri­ti­schen Nachhut (Dünkirchen, 26. Mai bis 4. Juni 1940) erschies­sen SS-Truppen am 27. Mai in einem Dorf namens Lestrem neun­und­neun­zig ver­letz­te Kriegsgefangene mit Maschinengewehren; am sel­ben Tag erschiesst die Wehrmacht sechs­und­acht­zig Zivilisten; am näch­sten Tag in Oignies acht­zig Zivilisten.» Morde, von denen heu­te kei­ner mehr spricht. Jeder Tote erzählt von den Leerstellen in der Geschichte des deut­schen Mordens, das von der rechts­extre­men AfD als «Fliegenschiss der Geschichte» bezeich­net wird. Die ein­zi­ge Ehrung zu Lebzeiten erfuhr Varian Fry im April 1967, als er im fran­zö­si­schen Konsulat in New York mit dem Ritterorden der Ehrenlegion aus­ge­zeich­net wur­de. Mary Jayne Gold nahm an der Feier eben­falls teil, von Ehrungen für sie ist in Wittstocks Buch nichts zu fin­den: Frauen wer­den eh unter­kom­plex behan­delt, aber so ist es halt immer noch. Erst 1994 – lan­ge nach sei­nem Tod – wur­de Varian Fry von Yad Vashem der Titel «Gerechter unter den Völkern» ver­lie­hen. Der dama­li­ge amtie­ren­de US-Aussenminister Warren Christopher (1925–2011) stell­te in sei­ner Ehrenrede fest, dass mit «Fry ein Mensch geehrt wur­de», des­sen Heldentum zu Lebzeiten nie aner­kannt oder gar unter­stützt wor­den sei; allen vor­an habe das State Departement, das Aussendepartement, dabei eine sehr unrühm­li­che Rolle gespielt. Immerhin: ein anstän­di­ger Politiker, was man von den geret­te­ten Kulturschaffenden nicht behaup­ten kann, die­sen – um mit Sibylle Berg zu spre­chen – «Ausnahmemenschen». «Selbst in umfang­rei­chen Biografien der Schriftstellerinnen und Schriftsteller, zu deren Rettung Fry wesent­lich bei­getra­gen hat, wird ihm und sei­nem ‹Centre› sel­ten mehr als eine Seite ein­ge­räumt – und die Angaben, die sich in die­sen weni­gen Zeilen fin­den, sind oft genug falsch. Fry wird wahl­wei­se als Quäker, Unitarier, Diplomat oder Universitätsprofessor aus­ge­ge­ben.» In eini­gen Autobiografien, etwa der­je­ni­gen von Heinrich Mann (aus­ge­rech­net!), wird Fry völ­lig igno­riert. Es ist, als sei «Fluchthilfe für pro­mi­nen­te Autoren eine Art Servicebetrieb, des­sen Personal nicht wei­ter genannt wer­den muss», meint Wittstock, der bis 2018 als Redaktor beim «Focus» gear­bei­tet hat und schon 2021 sei­nen ersten Bestseller zum Thema «Februar 33. Der Winter der Literatur» geschrie­ben hat. Apropos undank­ba­re, eit­le, fehl­ge­lei­te­te Künstler und Künstlerinnen: Willkommen in der Gegenwart und bei mei­nem zwei­ten Buch, das per­fekt zu «Marseille 1940» passt.

Ron Leshem (Jahrgang 1976) ist ein schwu­ler Linker, Friedensaktivist, gefei­er­ter Drehbuchautor («Euphoria», «No Man’s Land»), Schriftsteller («Beaufort», des­sen Verfilmung für den Oscar nomi­niert war) und ehe­ma­li­ger israe­li­scher Geheimdienstoffizier. «Feuer. Israel und der 7. Oktober» ist eines der gröss­ten lite­ra­ri­schen Werke der letz­ten 30 Jahre. Leshem gibt palä­sti­nen­si­scher Geschichte eine mit­füh­len­de Sprache, wäh­rend er gleich­zei­tig die Abgründe des Judenhasses auf­zeigt: «Mitgefühl ist der wich­tig­ste Muskel der mensch­li­chen Existenz.»

850 000 jüdi­sche Flüchtlinge aus den ara­bi­schen Staaten, die ihre Heimat mit zum Teil tau­send­jäh­ri­ger Geschichte ver­las­sen muss­ten, kom­men eben­so zu Wort wie die 700 000 Palästinenser, deren UNO-Versprechen eines eige­nen Staats durch die Araber in einem Krieg 1948 ver­nich­tet wur­de. Leshem erzählt von der Million Griechen, die von der Türkei ins Exil getrie­ben wur­den, von den zwölf Millionen Deutschen, die aus Polen, der Tschechoslowakei und Russland ver­trie­ben wur­den, und von der Million Ghanaer aus Nigeria. Er berich­tet von Bethlehem, der Geburtsstadt Jesu, die in den 1950er-Jahren zu 86 Prozent christ­lich, heu­te über 80 Prozent isla­misch ist. 22 ara­bi­sche Staaten gibt es, einen klei­nen jüdi­schen Staat mit einer jüdi­schen Weltbevölkerung von nur 15 Millionen. Bei Leshem ist Menschlichkeit nichts, das man besitzt, son­dern etwas, das man tut. Er macht uns klar, wie eng der Zusammenhang zwi­schen Ignoranz, Gewalt, Sprache und Codes ist. Leshem appel­liert mit gros­ser ana­ly­ti­scher Empathie an das Vermögen aller Beteiligten, ein demo­kra­ti­sches Miteinander zu pfle­gen. Er erzählt auch davon, was seit dem 7. Oktober mit der Linken, mit den LGBTQ+ gesche­hen ist: Aktionen von Menschen, die durch­aus mit den Pogromen des Intellekts zugun­sten der Nationalsozialisten und der Kommunisten in den 1930er-Jahren ver­gli­chen wer­den müs­sen. Säkulare und lin­ke Israelis, deren Kids übri­gens das Peace-Musikfestival fei­er­ten, bei dem sie dann bru­tal abge­schlach­tet wur­den, waren am 7. Oktober 2023 über­zeugt davon, dass die UNO das Massaker sofort ver­ur­tei­len, die Hamas mit Katar zwin­gen wür­de, die Geiseln sofort frei­zu­las­sen, und die Mörder vor den Internationalen Gerichtshof stellt. So wur­den Recht und inter­na­tio­na­le Ordnung schliess­lich nach dem Zweiten Weltkrieg betrach­tet. Dabei hät­ten es die Israelis bes­ser wis­sen sol­len, gera­de die Linken, die Intellektuellen, die Kulturschaffenden! Sie gehö­ren meist zu den Ersten, die ange­sichts von Machtfülle, Geld und PR umfal­len, soge­nannt prag­ma­tisch wer­den oder mit der Horde laut «Heil» oder «Revolution» schrei­en (übri­gens das Motto der Wiener Festwochen 2024). Denn ab dem 7. Oktober 2023 star­ben demo­kra­ti­sche Grundprinzipien mit den Hunderten von Gefolterten, Ermordeten und Entführten gleich mit. Die UNO blieb still, der inter­na­tio­na­le Gerichtshof liess Opfer und Mörder zugleich zur inter­na­tio­na­len Fahndung aus­schrei­ben. Das demo­kra­ti­sche Israel und nicht die isla­mi­sti­schen Folterbanden wur­de des Genozids bezich­tigt. Uganda trieb die Genozid-Attacke gegen Israel vor­an: ein Staat, der seit 2023 für Homosexuelle die Todesstrafe ver­hängt. Medien, Kulturschaffende, Literaten, sie alle stel­len sich uni­so­no hin­ter die Mörder, die Folterer und die Schlächter. Iran ist ihnen der grös­se­re, authen­ti­sche­re Freund als die demo­kra­ti­sche USA: Der Hass der west­li­chen Eliteuniversitäten-Studis auf die Vereinigten Staaten nimmt nicht nur absur­de Formen an, son­dern regel­rech­te Pogromstimmung auf. Ron Leshem schreibt viel poe­ti­scher als ich, er erklärt, legi­ti­miert, brei­tet aus, ent­wirft eine Utopie für den Nahen Osten, irgend­et­was mit einer künst­lich-öko­lo­gi­schen Insel, von Saudi-Arabien bezahlt, die den Palästinensern und Palästinenserinnen ein guten Leben ermög­li­chen soll. Ein schö­nes Buch vol­ler Einsichten, Trauer und dem nai­ven Glauben an Verständigung – unbe­dingt zu emp­feh­len.

Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die gros-se Flucht der Literatur. C.H. Beck 2024.
Ron Leshem: Feuer. Israel und der 7. Oktober. Rowohlt Berlin 2024. 

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