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Vom Känguru zum Code: Marc-Uwe Kling

Dr. Regula Stämpfli – Marc-Uwe Kling ist ein lite­ra­ri­sches Genie. Er kann wirk­lich alles: Politik, Games, Codes, Fantasy, Thriller, Kids, sogar im Feminismus ist er sau­ber unter­wegs. Unsere Essayistin ist – zusam­men mit Millionen ande­ren – ein Riesenfan von Marc-Uwe Kling, doch das Feuilleton bleibt weg. Eine Spurensuche.

«Views» hör­te ich auf dem Weg nach Griechenland: ganz alt­mo­disch per Schiff und Bahn unter­wegs. Ein Satz, eine Aussage – ob dies der Wahrheit ent­spricht oder nicht, sei den Codes über­las­sen. Sicher ist ein­zig, dass ich das Thrillerdebüt von Marc-Uwe Kling gehört und nicht gele­sen habe – wie alle sei­ne Bücher. Marc-Uwe Klings bahn­bre­chen­de Erzählfärbung – er spricht sei­ne Texte immer selbst – stammt aus sei­ner Zeit des Poetry-Slam. Klings Geschichten schwei­fen ab, um mit Poesie punkt­ge­nau dort zu lan­den, wo ihn ein spre­chen­des Känguru, eine Lebensberater-KI, ein neu­es Bildprogramm ver­führt hat. Und mit ihm auch uns. In der «Känguru-Offenbarung» macht das mao­isti­sche Hoppeltier – «Kann ich dir mei­ne neue Geschäftsidee erzäh­len?» – bspw. so lan­ge Lärm und Krawall, bis sein Erschöpfer, der Kleinkünstler, ent­nervt nach­gibt und meint: «Okay. Ich gebe auf. Was ist denn dei­ne neue Geschäftsidee?» Und das Känguru meint ganz cool: «Ich ver­kau­fe … Ruhe.» Die Verblüffung sitzt, denn: «Ich neh­me dir etwas Lebenswichtiges weg, um es dir danach zu ver­kau­fen. Das nennt man Kapitalismus.» Was bei den «Känguru-Chroniken» noch zu Lachsalven geführt hat, ist über die Jahre lei­der bit­te­rer Ernst gewor­den. Wasser wird pri­va­ti­siert; digi­ta­le Plattformen codie­ren Gesellschaften an den Rand eines Bürgerkrieges; Elternschaft wird so umde­fi­niert, dass sich Männer ein Baby (oder ger­ne auch meh­re­re) kau­fen kön­nen, wäh­rend sog. pro­gres­si­ve Feministinnen schmut­zig schrei­en: «Fortschritt!»

Diese grau­sam schö­ne neue Welt des 21. Jahrhunderts ver­pack­te Kling schon in sei­ner Dystopie «Quality-Land». «Quality-Land» erzählt von den Abgründen der von Algorithmen beherrsch­ten Welt, umwer­fend komisch und zwi­schen­durch zum Heulen. Eine Liebesgeschichte gibt es auch noch – auch das eine unbe­ding­te Hörempfehlung von mir. Bei Kling ist alles durch­dacht: Plot, Namen, phi­lo­so­phi­sche Hinweise, histo­ri­sche Ironie: Eine Hauptfigur in «Quality-Land» heisst Martyn Vorstand, ist Sohn von Bob Vorstand, funk­tio­niert aal­glatt wie der käl­te­ste Nihilist, deren es doch vie­le gibt. Bei Kling sind Programmierer wirk­lich­keits­nah por­trä­tiert: sexi­stisch, ras­si­stisch, rechts­na­tio­nal, reak­tio­när, nihi­li­stisch und, als ganz klei­ne Minderheit, sym­pa­thi­sche Loser. «John of Us» heisst mein Lieblingsandroid, weil er mir so ähn­lich ist und meint, die Welt mit Wahrheit und Fakten noch auf die gute Seite brin­gen zu kön­nen. Selbstverständlich ärgert sich genau dar­über das Feuilleton; kei­ner seziert die herr­schen­den Mediokratien so umwer­fend komisch und gut wie Marc-Uwe Kling. Das deut­sche Feuilleton, bestehend aus Möchtegern-Intellektuellen, prä­miert lie­ber Warmduscherinnen, Palästinenserfreundinnen oder son­sti­ge Opferautoren. Politik? Bitte nur in schluch­zen­der, ankla­gen­der und ja nicht in auf­klä­re­ri­scher Form! Literaturpreisträgerinnen im 21. Jahrhundert sol­len gefäl­ligst als bra­ve Mädchen die alten Feuilleton-Onkels ent­zücken. Gerne mora­lisch, links, anti­zio­ni­stisch bis anti­se­mi­tisch, mit Zeigefinger für pas­sen­de Opfer, nicht für unpas­sen­de Migration. Marc-Uwe Kling spielt in einer ganz ande­ren Liga. Er begreift den Kapitalismus im Zeitalter von Kreditpunktsystemen und Sprechakten. Dies in der Sprache von Joseph Roth und mit der Anklage-Power von Virginia Woolf.

Auch der Thriller «Views» füllt die Bestsellerlisten wie­der ganz ohne Nominierung für den Deutschen Buchpreis. Dabei ist der Krimi echt der Hammer. Aus der Sicht einer Polizistin mit Migrationshintergrund spricht Kling dar­in über die all­ge­gen­wär­ti­ge sexu­el­le Gewalt gegen Frauen, am Rande über Islamismus und Islamophobie, immer wie­der über die fana­ti­schen Rechtsextremen und über KI als eigen­stän­di­ge Figur. Kling ist in allen Social-Media-Kanälen gut ver­netzt: «Wenn die demo­kra­ti­sche, pro­gres­si­ve Seite sich dem weit­ge­hend ver­wei­gert – wenn auch aus guten Gründen –, dann über­lässt man das Spielfeld rech­ten und rechts­po­pu­li­sti­schen Gruppierungen. Dann kriegt man ein Ergebnis wie jetzt bei der Europa-Wahl, wo sehr viel Jugendliche AfD gewählt haben. Das heisst, es gibt durch­aus auch einen poli­ti­schen Grund, war­um ich da mit­ma­che, obwohl ich die Player kri­tisch sehe.» Dies meint Kling im Interview zum neu­en Thriller im Deutschlandfunk.

Der Plot ist vom ersten Moment an packend: Die 16-jäh­ri­ge Lena Palmer ver­schwin­det spur­los, und drei Tage spä­ter taucht ein ver­stö­rend bru­ta­les Video auf, das viral geht und die BKA-Kommissarin Yasira Saad gros­sem Zeitdruck, per­sön­li­chen Anfeindungen und Gefahrenlagen sowie ganz Deutschland dem Abyss aus­setzt. Das Ende ist ein Überraschungstwist mit offe­nem Ergebnis.

Kling inspi­riert. Nach über fünf Stunden Kling – der Thriller ist süf­fig und kurz gera­ten – kam ich dann auf einen eige­nen Plot. Meine Hauptfigur ist eine Journalistin, die eine Story über eine bild­schö­ne Politikerin recher­chiert, die in einer Zürcher Luxusvilla auf ein iko­no­gra­fi­sches Bild von Maria und Jesus schiesst und das Resultat die­ser durch­lö­cher­ten Kunst aus dem 14. Jahrhundert stolz auf Instagram prä­sen­tiert mit dem Untertitel «Abschalten». Schützin und Bild gehen rund um den Globus. Christen schrei­en: «Gotteslästerung», Atheisten schrei­en: «Richtig und wei­ter so», Demokratinnen mei­nen, well: Hätte die Schützin dies auch mit dem Koran ver­sucht? Die Schützin muss unter Polizeischutz, vie­le Frauen, die sich auf die Seite von Kunstwerk und Madonna mit Kind stel­len, wer­den als trans­phob ver­schrien (auch Männer kön­nen Kinder krie­gen!); die Kulturelite stellt sich hin­ter die Schützin und schiesst blind­wü­tig auf das Christentum und plä­diert für Welpenschutz beim Islam; die Klimakleber neh­men sich ein Vorbild und schmeis­sen kei­ne Grünkohlsuppe auf alte Gemälde, son­dern neh­men grad von Anfang an die Knarre. Es kommt zu Strassenschlachten, die Journalistin, die den Fall der Schützin ins Rollen gebracht hat, wird von den arbeits­lo­sen Komikern Plotzobo und Knüller ver­ge­wal­tigt, und am Schluss kommt raus, dass am gan­zen Schlamassel nur ein ein­zi­ger, falsch pro­gram­mier­ter Code von SRF die Verantwortung trägt. Geil, nicht wahr? Schade, dass mir die­ser Roman auch schon von der Wirklichkeit gestoh­len wur­de.

 

Empfehlungen für Marc-Uwe Klings Hörbücher:

- Views. Spieldauer 5 Stunden und 40 Minuten. 2024 erschie­nen.
– Das Känguru-Manifest. Spieldauer 5 Stunden und 15 Minuten. 2011 erschie­nen.
– Die Känguru-Chroniken. Spieldauer 4 Stunden und 52 Minuten. 2012 erschie­nen.
– Die Känguru-Offenbarung. Spieldauer 7 Stunden, 2014 erschie­nen.
– Die Känguru-Apokryphen. Spieldauer 4 Stunden und 21 Minuten. 2018 erschie­nen.
– Quality-Land 2.0. 9 Stunden und 46 Minuten. 2020 erschie­nen. In zwei Editionen erhält­lich, dun­kel und hell.