Vom Geniessen und Einnehmen

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Von Barbara Roelli – Ich will ja nicht jam­mern – andern geht es bestimmt schlech­ter als mir, sehr viel schlech­ter als mir geht es denen. Aber trotz­dem: Keine Stimme mehr zu haben ist so rich­tig blöd. Man bringt nicht ein­fach kei­nen Ton mehr raus – man kann nicht mehr reden mit den Leuten, nicht mehr tele­fo­nie­ren, kei­nem Bekannten auf der ande­ren Strassenseite mehr zuru­fen, und Singen kann man eh grad ver­ges­sen. Man kann beim Liebesakt nicht mehr ver­zückt auf­stöh­nen und an kei­ner Demo mehr laut­hals Parolen schrei­en. Die Stimme, das eige­ne aku­sti­sche Kapital, ist ange­schla­gen, ist schlicht aus­ser Betrieb.

Ohne sei­ne Stimme schot­tet man sich zwangs­läu­fig von sei­nem Umfeld ab. So sit­ze ich bei einem Sonntagabend-Familienessen mit Schwestern, Anhang und Grossmutter vor mei­nem Teller. Alles ist wun­der­bar: Der Schweinshals, den mein Vater vier Stunden im heis­sen Rauch des Feuers gegart hat, und auch die Frühkartoffeln, die mei­ne Mutter in reich­lich Rahm und fri­schen Lorbeerblättern köcheln liess. Ich möch­te zu einem über­schwäng­li­chen «Mmmh» anset­zen – aus mei­ner Rachengegend krächzt es aber nur jäm­mer­lich und für mein Umfeld kaum hör­bar, denn kei­ner am Tisch dreht den Kopf nach mir um. Stattdessen wird leb­haft dis­ku­tiert über die anste­hen­den Ferien: Baden im süd­fran­zö­si­schen Mittelmeer, einem Schweizer Bauern hel­fen beim Heuen auf der Alp, ins kri­sen­ge­beu­tel­te Griechenland flie­gen und den Tourismus ankur­beln. Weitere Themen sind mög­li­che beruf­li­che Projekte im Ausland, die von diver­sen Allergien geplag­te Hauskatze, und der tra­gi­sche Bootsunfall auf dem Bielersee mit einer Toten, der auch nach zwei Jahren noch nicht rest­los geklärt ist. Ich will mich ein­brin­gen – erzäh­len, wohin ich in die Ferien rei­se, mei­ne Meinung sagen zum Bieler Bootsunfall, Fragen stel­len – und flü­ste­re des­halb so laut es geht. Die, die neben mir sit­zen, schau­en kurz auf, haben aber kein Wort ver­stan­den. Ich grei­fe dar­um zur alt­be­währ­ten Methode und schla­ge sanft mit der Gabel ans Weinglas, als ob ich eine Rede hal­ten möch­te. Grinsend schaut mir nun die gan­ze Runde dabei zu, wie ich ver­su­che, Laute zu erzeu­gen. Doch was ich her­aus­brin­ge sind gehauch­te Wörter, und um die­se zu ver­ste­hen müs­sen die andern schon sehr gut zuhö­ren, und das ist mit der Zeit ziem­lich anstren­gend, so dass ich mei­ne Zuhörer schluss­end­lich ver­scho­nen will und schwei­ge.

Und seit die­sem Sonntagabend-Familienessen schwei­ge ich nun vor mich hin. Ich sit­ze mit einem Antiphlogistine-Umschlag um den Hals vor dem Computer – die Salicylsäure in die­ser Umschlag-Paste wir­ke schmerz­stil­lend und ent­zün­dungs­hem­mend, steht auf der Packungsbeilage. Und neben dem Computer sta­peln sich Medikamentenpackungen zu einem Turm. In Kartonschachtelchen rei­hen sich blut­ro­te Kapseln anein­an­der, perl­mutt­far­be­ne Pastillen war­ten dar­auf, durch die Aluminiumabdeckung aus der Plastikhülle gedrückt zu wer­den, und Tabletten lie­gen in Papier gehüllt im pas­sen­den Metallröhrchen. Durch die Einnahme die­ser Medikamente soll ich mög­lichst schnell wie­der reden kön­nen. Einnehmen heisst, Wirkstoffe in den Kreislauf auf­neh­men und die­se gegen Grippeviren und ande­res Böses kämp­fen las­sen, bis alles getilgt ist, was einem das Leben schwer macht. Einnehmen heisst, der Pharmaindustrie ver­trau­en und hof­fen, dass die schon weiss, was gut für einen ist. Einnehmen hat so gar nichts mit Genuss zu tun – das ist ein­wer­fen und mit Wasser hin­un­ter­spü­len. Einnehmen schmeckt nicht – allen­falls stark nach Pfefferminze oder Salbei. Medikamente ein­neh­men tut man allei­ne – abseits vom Essenstisch, iso­liert – denn je nach Krankheit wird man von den ande­ren gemie­den: «Komm mir ja nicht zu nah – ich hab näch­ste Woche Ferien. Eine sol­che Sommergrippe fehlt mir gera­de noch!» Statt mich also voll­ends ins medi­ka­men­tö­se Abseits zu manö­vrie­ren, sit­ze ich doch wie­der lie­ber an den Familientisch, koste das erfri­schen­de Joghurt-Parfait mei­ner Mutter, mit Himbeeren und Johannisbeeren aus dem eige­nen Garten, und genies­se schwei­gend.

Foto: zVg.
ensuite, August 2012

 

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