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Vergiss mein nicht

Von Lukas Vogelsang – Kurz vor Weihnachten ist mei­ne Großmutter gestor­ben. Sie war 89 Jahre alt und seit eini­gen Jahren etwas ver­wirrt – ich hat­te sie lan­ge nicht mehr gese­hen. Die Erinnerungen an sie sind aber alle noch wach. Die Bilder, Gerüche, und vie­le Situationen, wel­che ich als Kind mit ihr erlebt hat­te – sogar an ihre Stimme kann ich mich erin­nern. Meine Grossmutter hät­te sich aber nicht an mich erin­nern kön­nen. 

Der deut­sche Filmregisseur David Sieveking hat mit sei­nen Filmen inter­na­tio­na­len Erfolg und könn­te sich um gros­se Projekte küm­mern. Doch sein Vater braucht ihn jetzt. Die Mutter, Gretel, einst eine wun­der­schö­ne Lebefrau mit revo­lu­tio­nä­rem Geist, ist dement und ver­wirrt. Für die Familie und für alle Beteiligten kei­ne ein­fa­che Sache: Alzheimer. David Sieveking geht nach Hause und nimmt sich vor, sich um Gretel zu küm­mern – jene Frau, die ihn einst erzo­gen hat­te und die er bewun­dert. Wir beglei­ten die Familie in ver­schie­de­nen Stadien, gehen mit zurück in die Vergangenheit, erle­ben Teile aus ihrer Geschichte, und beglei­ten die Mutter in ihrer Verwirrtheit ein letz­tes Stück. Es ist eine ganz pri­va­te Familiengeschichte, die hier erzählt wird. Doch die Geschichte kann sich in jeder ande­ren Familie auch abspie­len. Was David Sieveking mit sei­nem Dokumentarfilm erreicht hat, ist mehr als eine gross­ar­ti­ge Würdigung sei­ner Mutter. Jede Familie, in wel­cher ein Mitglied an Alzheimer erkrankt, wird für die offe­ne und ehr­li­che Darstellung, die Gedanken, die Bewältigung und Aufarbeitung der Geschichte, und das Abschiednehmen (von) der Mutter dank­bar sein.

Ein Glück, dass der Filmnarr die Kamera eben­falls mit­lau­fen liess, und die Tage und Monate mit sei­ner Mutter film­te. Entstanden ist ein wun­der­vol­les Werk über Alzheimer und über einen Menschen, der lang­sam in eine ande­re Welt abtaucht. Die Erzählstimme fällt als erstes auf: David Sieveking spricht wie in einem «Fünf-Freunde»-Kinderfilm. Er wäre als Erzähler sonst denk­bar unge­eig­net. Diesem Film aber ver­leiht er die Lockerheit, die es braucht, um die Emotionen ertra­gen zu kön­nen. Je län­ger wir ein­tau­chen, umso dank­ba­rer wer­den wir David dafür. Er schafft es, dem Film die Tragik zu neh­men, und bringt so viel Leichtigkeit rein, dass die Krankheit Alzheimer fast schön und lieb wirkt – ohne aber beschö­ni­gen zu wol­len. Alles ist real, ehr­lich und unauf­halt­sam. Und dar­in ist die Erzählweise des Films, die Dokumentation ein­fach her­vor­ra­gend gelun­gen. Wir neh­men Anteil, ver­su­chen zu ver­ste­hen, und sind als Zuschauer eigent­lich immer mit den glei­chen Fragen kon­fron­tiert wie die betrof­fe­ne Familie. Und obwohl das Thema an und für sich trau­rig wäre schwingt der Film dar­über hin­weg, ohne despek­tier­lich zu sein, ohne den Blick ver­schlei­ern zu wol­len. Statt trau­rig, gehen wir befreit und gestärkt aus dem Kino. David Sieveking hat es ganz rich­tig for­mu­liert: «Aus der Tragödie mei­ner Mutter ist kein Krankheits- son­dern ein Liebesfilm ent­stan­den, den ich mit melan­cho­li­scher Heiterkeit erfüllt sehe.» – Besser kann man die­sen Film nicht beschrei­ben.

Foto: zVg.
ensuite, Januar 2013