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Vereinheitlichungsbestrebungen und deren Scheitern

Von Jean-Christophe Ammann - Anlässlich der Vernissage der 6. Jubiläumsausstellung «Ich bin der letz­te Maler» (M. Disler) in der Galerie Rigassi in Bern, hielt Jean-Christophe Ammann, Schweizer Kunsthistoriker und Kurator, die Eröffnungsrede. Es war ein Exkurs, der im Anschluss unter den Anwesenden für viel Gesprächsstoff sorg­te. Wir dür­fen hier das zwei­tei­li­ge Script ver­öf­fent­li­chen und erin­nern ger­ne dar­an, dass eine Vernissage ein sozia­ler Ort ist, an dem neben der Kunst auch Gedanken aus­ge­tauscht wer­den kön­nen. Dies soll als Einladung ver­stan­den sein, mit­zu­den­ken, und Kunst nicht nur als Ergänzung zum Liegesessel zu ver­ste­hen:

‹Ich stim­me mit Isaiah Berlin über­ein, der in einem Interview sagt: «Ich fin­de umfas­sen­de Systeme unbe­hag­lich.» Mich schau­dert vor Köpfen, die alle Ereignisse als Fälle all­ge­mein­gül­ti­ger Regeln und Prinzipien betrach­ten Ich glau­be an die tief­ver­wur­zel­te Unaufgeräumtheit von allem. Ordentlichkeit asso­zi­ie­re ich mit Diktatur.›

Von Vereinheitlichungsbestrebungen soll die Rede sein bzw. von deren Scheitern. Bislang geschah dies aus­führ­lich am Beispiel von Utopien aus der Zeit der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Im Vordergrund stand die idea­le, hori­zon­ta­le Gesellschaft, die häu­fig mit Biegen und Brechen über die Köpfe des Menschen hin­weg sowohl geplant als auch ver­wirk­licht wer­den woll­te. Dass Vereinheitlichungsbestrebungen auch jen­seits sol­cher Utopien anthro­po­lo­gisch ver­an­kert sind, gleicht einer Notwendigkeit, dahin­ge­hend, dass sie Übersichtlichkeit, Orientierung und Perspektiven ver­mit­teln.

Wenn ich dar­über spre­che, so des­halb, weil das Auseinanderbrechen von Vereinheitlichungen der Situation in der heu­ti­gen Kunst ent­spricht. Ich sage es mal so: man muss sich Desorientierung auch lei­sten kön­nen, man muss die Kraft, das Wissen, die Erfahrung und vor allem die Neugier haben, sich in ihr wohl zu füh­len, bereit sein eige­ne Wege zu gehen. Fazit, auf die Kunst bezo­gen: Es gibt nichts zu erfin­den, aber vie­les zu ent­decken.

Vereinheitlichungsbestrebungen sind ent­we­der Welterklärungsmodelle, sind ideo­lo­gi­scher Natur oder die­nen der kol­lek­ti­ven Identität. Im ersten Fall haben wir es mit kos­mo­lo­gi­schen Vorstellungen zu tun. So sag­ten die indi­schen Veden vor 4000 Jahren, die Struktur des Kosmos bestehe aus einer hohen Gesetzmäßigkeit, 300 Jahre spä­ter bestä­tig­ten die Upanishaden die­sen Befund, füg­ten jedoch hin­zu, der Kosmos besit­ze ein Bewusstsein. Beide beharr­ten auf der Seelenwanderung nach dem Tod, als einen Weg der Reinigung.

Erinnern wir uns – was die Ideologien angeht – an die ver­häng­nis­vol­le Utopie des Welt-Kommunismus, und an den ver­hee­ren­den ras­sen­ideo­lo­gi­schen Nationalsozialismus. Sie haben Millionen von Menschen das Leben geko­stet.

Im drit­ten Fall haben wir es eher mit Mythen oder mytho­lo­gi­schen Überhöhungen zu tun, so zum Beispiel mit der islän­di­schen Snorra-Edda oder Lieder-Edda, nie­der­ge­schrie­ben, wenn auch ursprüng­lich viel älter, im 13. Jahrhundert. Der mit­tel­asia­ti­sche Gilgamesch-Epos ent­stand zir­ka tau­send vor Christus. Natürlich sind auch Bibel und Koran Welterklärungsmodelle mit Vereinheitlichungsansprüchen, jedoch liegt ihnen eine theo­lo­gi­sche und ethi­sche Ausrichtung zugrun­de. Für die Griechen galt Homer, der Verfasser der «Ilias» und der «Odyssee» – er leb­te im ach­ten Jahrhundert v. Chr. in Kleinasien – als der Gestalter ihres Götter- und Menschenbildes.

Eine Vereinheitlichungsstrategie glo­ba­len Ausmaßes schuf Alexander der Große, der, im Alter von 33 Jahren, 323 v. Chr. in Babylon starb. Seine Idee war die eth­ni­sche, kul­tu­rel­le und poli­ti­sche Verschmelzung der grie­chisch-make­do­ni­schen und ira­ni­schen Völker sei­nes Reiches zu ver­wirk­li­chen. Er woll­te die Perser als Stützen sei­ner Herrschaft her­an­zie­hen. Die Politik des Ausgleichs und die Gleichstellung der Perser empör­te aber sei­ne eige­nen Makedonen. Es kam zum Aufstand.

Genial war Alexander des­halb – sein Lehrer war Aristoteles –, weil er dem in schwe­ren Kämpfen geschla­ge­nen Feind die kul­tu­rel­len Eigenarten und reli­giö­sen Überzeugungen beließ.

Während die Inder, Kraft einer uner­hör­ten Intuition, Gesetzmäßigkeit und Bewusstsein für den Kosmos in Anspruch nah­men, wur­de im christ­li­chen Abendland die Wissenschaft durch die Theologie, als all­mäch­ti­ges, in sich kon­si­sten­tes System, teils schwer behin­dert. Es war Nikolaus Kopernikus (1473 – 1543), der die koper­ni­ka­ni­sche Wende ein­läu­te­te, also die Abkehr vom geo­zen­tri­schen Weltsystem hin zum helio­zen­tri­schen. Dass er von der Inquisition ver­schont blieb, ver­dank­te er unter ande­rem dem Umstand, dass er sei­ne Forschungen als Privatmann betrieb, und ab 1510 in Frauenburg, dem pol­ni­schen Frombork leb­te. Ganz anders erging es Giordano Bruno, der 1600 auf dem Campo dei Fiori in Rom den Feuertod erlitt, und Galileo Galilei, der 1642, fast erblin­det, in unbe­fri­ste­ter Haft starb. Beide setz­ten sich vehe­ment für das helio­zen­tri­sche Weltbild ein, aus­ge­hend von Tycho Brahe und des­sen Assistenten Johannes Kepler.

Leonardo da Vinci war ein genia­ler und akri­bi­scher Forscher und Maler, ein begna­de­ter Künstler-Ingenieur, aber Vereinheitlichungsbestrebungen im Sinne eines Welterklärungsmodells ver­folg­te er nicht.

Die Vereinheitlichungsbestrebungen René Descartes’ bestan­den dar­in, die Natur ins­ge­samt, also auch den Menschen und sei­ne Psyche, als ratio­nal erfass­bar zu deu­ten. So ent­stand ein Weltbild, das man als mecha­ni­stisch bezeich­nen kann. Mit René Descartes, er starb 1650, setzt die moder­ne, mathe­ma­tisch ori­en­tier­te Wissenschaft auf brei­ter Ebene ein. Sie grün­det auf dem Experiment, mit dem Ziel, durch des­sen Wiederholbarkeit eine Theorie zu schaf­fen.

Das unter­schei­det das Abendland von den «indi­schen Weisheiten»: Der mathe­ma­tisch-phy­si­ka­li­sche Diskurs bedarf der expe­ri­men­tell bestä­tig­ten Schlüssigkeit. Als Rudolf Clausius (1822 – 1888) ab 1850 das Prinzip von der Erhaltung der Energie begrün­de­te, und 1865 den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, das bis heu­te gül­ti­ge Entropie-Gesetz schuf, bewies er gewis­ser­ma­ßen die von den Veden und Upanishaden ein­ge­for­der­te Seelenwanderung. Dort wan­dert die Seele durch Tierwelten in immer lich­te­re Höhen. Der Begriff der Seele jedoch ist der­art dif­fus, dass er eigent­lich nur theo­lo­gisch oder umgangs­sprach­lich gehand­habt wer­den kann. Betrachtet man jedoch den Menschen als gei­stig-ener­ge­ti­sches, auf Wirkung bedach­tes Wesen und setzt vor­aus, dass gemäß dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik Energie, bzw. Information nicht ver­lo­ren geht, kann man behaup­ten, dass die Seele eine Energieform dar­stellt, die den Menschen über­dau­ert. Jetzt ist es ja so, dass der Entropie-Prozess irrever­si­bel ist. In einem geschlos­se­nen System fließt Wärme in den käl­te­ren Bereich. Bei einer maxi­ma­len Entropie ent­steht ein völ­li­ger Stillstand, genannt «Wärmetod». Schon Clausius über­trug den Entropie-Prozess auf das Universum, das er als geschlos­se­nes System betrach­te­te und von dem er sag­te, dass des­sen Erkaltung irrever­si­bel sei. Der Physiker und Chemiker Manfred Eigen sagt jedoch ein­leuch­tend, dass die Entropie bei leben­den Systemen – auch der Kosmos ist ein «leben­des» System – durch die stän­di­ge Zufuhr von Energie kom­pen­siert wird. – Die Seele wäre dann eine ganz­heit­li­che, die gei­sti­ge Energie tran­szen­die­ren­de Kraft.

Was die Kunst angeht, ist der Energieerhalt nicht weni­ger begrün­det. Beweisen lässt sich dies nicht direkt. Aber dass die Kunst schöp­fe­ri­sche, psy­cho-emo­tio­na­le Energie sedi­men­tiert, macht aus jedem gro­ßen Kunstwerk einen dau­er­haf­ten Energiespeicher.

Es gibt bei­spiels­wei­se Werke aus dem Mittelalter, die gute Handwerkskunst sind. Man schaut Jahrhunderte zurück. Aber dann gibt es Werke, da schaut man nicht zurück, weil die Energie unmit­tel­bar gegen­wär­tig ist, sich auf den Betrachter wie eine Erleuchtung aus­wirkt.

Kunstwerke wur­den grund­sätz­lich immer behü­tet. Erlitten sie durch Feindeshand Schaden, oder wur­den gar zer­stört, so war nicht das Kunstwerk direkt gemeint, son­dern die Identität der Gemeinschaft, die es her­vor­ge­bracht hat­te.

Zum ersten Mal über­haupt kon­ver­gie­ren im Abendland Physik, Religion und Kunst. Das neue Buch von Roger Penrose han­delt fast aus­schließ­lich vom Energieerhalt, auch in einer unend­lich fer­nen Zukunft, wenn das Universum nur noch aus Strahlung besteht. Religion (nicht Theologie) als Ursprungsgedanke betrach­tet die Seele als unsterb­lich. Kunst, in jeder Gattung, ist als schöp­fe­ri­scher Gestaltungswille dem Menschen in die Wiege gelegt. Ein Mensch der nicht gestal­tet, regre­diert. – Die Rede ist von einer uni­ver­sa­len Erzählung, nicht zuletzt auch des­halb, weil sich die Physik, jen­seits des Experiments, mathe­ma­tisch fik­tio­na­li­siert hat.

Zurück zu den expli­zi­ten Vereinheitlichungsbestrebungen. Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951) gehört zu den bedeu­tend­sten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Seine 1918 bei Bertrand Russell ein­ge­reich­te Dissertation trägt den Titel: «Tractatus logi­co-phi­los­phi­cus». Als jun­ger Leutnant der Artillerie dien­te er im öster­rei­chi­schen Heer, kam nach Kriegsende in ita­lie­ni­sche Gefangenschaft, schrieb in jeder ruhi­gen Stunde an sei­ner Doktorarbeit, die 1921 publi­ziert wur­de. Der «Tractatus» ist ein Welterklärungsmodell par excel­lence, begin­nend mit dem Satz: «Die Welt ist alles, was der Fall ist». Es han­delt sich in Form einer hoch­kom­ple­xen Dezimalklassifikation um einen sprach­phi­lo­so­phisch und for­mal­lo­gisch struk­tu­rier­ten Text. Die Arbeit ist der­art radi­kal, dass sich Wittgenstein in der Folge davon abwand­te, jedoch der Sprachphilosophie treu blieb. Der letz­te Satz des «Tractatus», noch berühm­ter als der erste, lau­tet: «Wovon man nicht spre­chen kann, dar­über muss man schwei­gen.»

Das erste Drittel des 20. Jahrhunderts bringt eine Wucht von Vereinheitlichungsprozessen her­vor, 1900 begin­nend mit Max Planck. Albert Einstein, der Schöpfer der Relativitätstheorie, ist zwei­fels­oh­ne der größ­te Physiker des 20. Jahrhunderts.

In der Kunst ist es der Jugendstil, der ein Gesamtkunstwerk ver­kör­per­te. (Ein Begriff, der auf Richard Wagner zurück­geht, der zwi­schen 1849 – 1851 eine Synergie zwi­schen Wort, Ton und Musikdrama ent­wickel­te.) Der über­ra­gen­de Protagonist des Jugendstils war der 1863 in Antwerpen gebo­re­ne Henry van der Velde. Er war, was der Franzose ein «hom­me orchest­re» nennt. Ein Formgestalter und Architekt erster Güte. Harry Graf Kessler hol­te ihn von Brüssel nach Berlin und wenig spä­ter nach Weimar. Zwölf Jahre, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, war er in Weimar und Thüringen tätig, schuf her­aus­ra­gen­de Bauten, und mit siche­rem Gefühl für den rich­ti­gen Mann emp­fahl er Walter Gropius als sei­nen Nachfolger auf den Direktorenposten der Kunst- und Kunstgewerbeschule Weimar. Gropius rüste­te das Institut 1919 zum staat­li­chen Bauhaus Weimar um, das sei­ner­seits eine kon­struk­ti­ve Kunst und Architektur ver­bin­den­de Vereinheitlichungsvision und ‑stra­te­gie vor Augen hat­te.

Der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg been­de­ten eine glanz­vol­le euro­päi­sche Geistesgeschichte. Dass ein im Zweiten Weltkrieg durch einen Flugzeugabsturz an der Ostfront schwer ver­wun­de­ter deut­scher Soldat noch­mals ein Gesamtkunstwerk schaf­fen soll­te, dürf­te nicht erstau­nen. Er heißt Joseph Beuys (1921 – 1986). Sein Werk ist eine ant­ago­ni­sti­sche Antwort auf die «Gesamtkunst» von Adolf Hitler. Beuys ist im Volksmund der Mann mit dem Hut, der Fett- und Filzkünstler. Er ist der größ­te Zeichner des 20. Jahrhunderts, weil er in den vie­len tau­send Blättern nicht par­al­lel zu ande­ren Schaffensbereichen gezeich­net hat, son­dern über das zeich­ne­ri­sche Medium eine ganz­heit­li­che Vision von Welt erar­bei­te­te. Die holi­sti­sche, auf Wechselwirkung ange­leg­te Programmatik ist all­um­fas­send, beruht expli­zit auf dem Wärmebegriff (=Energie=Wirkung), und erschließt ein anthro­po­lo­gi­sches Weltbild, das den Menschen kon­sti­tu­tiv in die Natur ein­bin­det. (Beuys hat für sein Schaffen nie den Begriff des Gesamtkunstwerks bean­sprucht.)

Während die künst­le­ri­schen Avantgarden bis Mitte der 1970er Jahre noch Ausschließlichkeitsmodelle mit Wahrheitsanspruch postu­lier­ten, ver­lor sich deren Impetus ab der zwei­ten Hälfte der 1970er Jahre. Die Avantgarden schlos­sen mehr aus denn ein. Das uto­pisch ange­peil­te Horizontsegment erwei­ter­te sich in einen Umkreis von 360°. An Stelle weni­ger Kraftlinien gab es plötz­lich schier unend­lich vie­le. Von Vereinheitlichungsmodellen war nicht mehr die Rede. Der Kollaps der Sowjetunion mach­te 1991 dem letz­ten in die Stalinzeit zurück­rei­chen­den Vereinheitlichungsmodell plan­wirt­schaft­li­cher Natur ein Ende.

Interessanterweise exi­stie­ren auch in der Finanzmodelltheorie Vereinheitlichungsbestrebungen. Ziel war es, die poten­ti­el­len Verlusteffekte aus Kreditausfällen, Marktpreisentwicklungen, sowie ope­ra­tio­nel­len Fehlern zu erfas­sen und in einem Algorithmus zusam­men­zu­füh­ren. Das von Robert Merton und Myron Scholes ent­wickel­te und mit Grundlagen von Fischer Black ergänz­te Modell setz­te sich letzt­lich durch, wur­de mit dem Nobelpreis für Wirtschaft aus­ge­zeich­net, sowie von den Aufsichtsbehörden zum Standard für poten­ti­el­le Verlustrechnungen erklärt. Das Modell schei­ter­te des­halb, weil das Ausfallrisiko gewal­tig unter­schätzt wur­de. Das von den Nobelpreisträgern mit­be­gün­de­te Unternehmen «Long-Term-Capital-Management» ging bereits 1998 in Konkurs. Fazit: Schon zehn Jahre vor der ver­hee­ren­den «Subprime»-Krise zeich­ne­ten sich Verwerfungen ab, die durch die an sich kor­rek­ten mathe­ma­ti­schen Grundlagen nie und nim­mer auf­ge­fan­gen wer­den konn­ten. Jedoch, die Mathematik ging von fal­schen Voraussetzungen aus.

Ein Vereinheitlichungsbestreben von immenser Tragweite, ver­stan­den als Welterklärungsmodell, zeich­ne­te sich in er Physik ab, ging es doch dar­um, die 1916 von Albert Einstein for­mu­lier­te Allgemeine Relativitätstheorie mit der Quantenmechanik in Einklang zu brin­gen.

In einer Welt aus­ein­an­der­stre­ben­der Energien, ist der Kampf um die soge­nann­te «Weltformel», also jene, die alles erklärt und alle Widersprüche ver­eint, voll ent­brannt. Lee Smolin (*1955), Leiter des kana­di­schen «Perimeter Institute for Theoretical Physics», berich­tet dar­über in sei­nem Buch «Die Zukunft der Physik – Probleme der Stringtheorie und wie es wei­ter­geht».

Versuchen wir kurz das Problem zu schil­dern: Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie beschreibt Raum, Zeit, Bewegung und Gravitation. Gravitation und Bewegung sind eng mit der Geometrie von Raum und Zeit ver­bun­den, dahin­ge­hend, dass die Raumzeit-Geometrie sich mit der Zeit ver­än­dert. Mit Einstein schau­en wir in das Universum. Mit der Quantenmechanik – ab 1925 mit Werner Schrödinger, Nils Bohr, Werner Heisenberg und Louis de Broglie – tau­chen wir in den sub­ato­ma­ren Bereich. Dort kön­nen Gravitationsprobleme und Zeit ver­nach­läs­sigt wer­den. Isolieren wir ein Teilchen aus einer Welle bzw. mes­sen es, kön­nen wir nicht gleich­zei­tig Aufenthalt und Impuls bestim­men. Beide Bereiche kom­men nicht zusam­men, weil sich Teilchen und Wellen im sub­ato­ma­ren Bereich anders ver­hal­ten als Galaxien, deren Licht wir beob­ach­ten kön­nen. – Anders aus­ge­drückt: Die Unschärferelation besagt, dass wir nicht den genau­en Aufenthaltsort eines Teilchens bestim­men kön­nen, wenn wir sei­ne genaue Geschwindigkeit ermit­teln möch­ten; und umge­kehrt kön­nen wir nicht die genaue Geschwindigkeit eines Teilchens mes­sen, wenn wir sei­nen genau­en Aufenthaltsort ermit­teln wol­len.

Einen ersten Schritt zur Vereinheitlichung hat Richard Feynman Anfang der 1970er Jahre mit der «Grand Unified Theory (GUT)» geschaf­fen, indem er 12 Teilchen und vier Kräfte im Standardmodell der Teilchenphysik for­mu­liert hat, aller­dings ohne Berücksichtigung von Gravitation und Zeit. Erschwerend sind 1998 die dunk­le Energie und die schwar­ze Materie hin­zu­ge­kom­men. Die dunk­le Energie beschleu­nigt die Expansion des Universums, die schwar­ze Materie – schwarz, weil sie kein Licht emit­tiert – befin­det sich inner­halb von Galaxien, müss­te eigent­lich auf­grund ihrer Ausmaße die Expansion brem­sen. Der lan­gen Rede kur­zer Sinn: Wenn wir alle sicht­ba­ren Galaxien und Radioquellen zusam­men­fas­sen, macht das 4% des Universums aus. 70% der Materiedichte scheint in Gestalt der dunk­len Energie vor­zu­lie­gen, 26% wären schwar­ze Materie.

Mit dem Ziel, eine Weltformel zu schaf­fen, ent­wickelt sich die Superstring-Theorie. 1984 fand die erste gro­ße Konferenz statt, elf Jahre spä­ter die zwei­te. Die Theorie hat­te enor­men Zulauf, und wie Lee Smolin ver­är­gert fest­stellt, zog sie eine Unmenge von Forschungsgeldern an sich. Mit der String-Theorie ergab sich die Möglichkeit einer Quantentheorie der Gravitation. Das Verrückte an der Geschichte ist, dass es sich bei der Superstring-Theorie um eine hoch­kom­pli­zier­te Mathematik han­delt, die sich nicht expe­ri­men­tell über­prü­fen lässt. Erfolg und Stringenz der expe­ri­men­tel­len Überprüfbarkeit zeigt sich am Beispiel einer erst kürz­lich erfolg­ten Bestätigung von Einsteins Relativitätstheorie. Am 10. Mai 2009 ent­deck­ten Forscher einen zwei Sekunden lan­gen Gammastrahlenausbruch in einer 7,3 Milliarden Lichtjahre ent­fern­ten Galaxie. Gemäß Annahmen soll­ten sich die hoch­en­er­ge­ti­schen Strahlen etwas lang­sa­mer aus­brei­ten als die nie­der­en­er­ge­ti­schen. Der Grund besteht dar­in, dass die kür­ze­ren Wellenlängen der hoch­en­er­ge­ti­schen Strahlen die Unregelmäßigkeiten der Raumzeit stär­ker zu spü­ren bekom­men als die nie­der­en­er­ge­ti­schen, deren Licht mit grö­ße­rer Wellenlänge über die Unebenheiten der Raumzeit hin­weg­rast. – Das Resultat war ver­blüf­fend, setz­te die Annahmen schach­matt. Die hoch­en­er­ge­ti­schen Gammastrahlen waren auf eine Distanz von 7,3 Milliarden Lichtjahren nur 0,9 Sekunden lang­sa­mer. Fazit im Sinne Einsteins: Die Zeitverzögerung schließt eine Abhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit von Energie weit­ge­hend aus.

Zurück zur expe­ri­men­tell nicht über­prüf­ba­ren Stringtheorie. Schon bald ent­wickel­ten sich mit bis zu zehn Raumdimensionen aus der einen nun­mehr fünf Theorien, die alle end­lich sind, das heißt, dass nur end­li­che Zahlen vor­kom­men, was uner­läss­lich ist. (Nachvollziehbar für jeden sind vier Raumdimensionen, wenn man die Zeit hin­zu­nimmt.)

Ich zitie­re den Quantenphysiker Martin Bojowald (*1973), der es so schön und ver­ständ­lich sagt: «Durch Zurückführen aller Erscheinungen der Elementarteilchenphysik auf ein ein­zi­ges Objekt [sprich: String/Saite] ver­spricht die String-Theorie die bekann­ten Kräfte, neben Gravitation und Elektromagnetismus, also die star­ke und die schwa­che Wechselwirkung, zu einer ein­zi­gen Kraftformel zu ver­ei­ni­gen. Es gäbe dann nicht unter­schied­li­che Konzepte wie die Raum-Zeit als Trägerin der Gravitationskraft und das elek­tro­ma­gne­ti­sche Feld als Träger der elek­tri­schen Kraft, son­dern ein ein­zi­ges Objekt, aus des­sen Schwingungen alle Kräfte sowie die Materieteilchen, auf die die­se wir­ken, her­vor­ge­hen sol­len. Dieses Objekt in ele­men­ta­rer Form ist eben der namen­ge­ben­de String. […] Hier gibt es kein Orchester von unter­schied­lich auf­ge­spann­ten Saiten, son­dern nur die Solistin der String-Theorie selbst. Wie sich nach lan­ger Forschung her­aus­ge­stellt hat, sind näm­lich alle mög­li­chen Aufstellungen der fun­da­men­ta­len Strings mathe­ma­tisch mit­ein­an­der ver­wandt. Unterschiedliche Klangfarben erge­ben dann kei­ne unter­schied­li­che Physik, son­dern sind nur ver­schie­den­ar­ti­ge mathe­ma­ti­sche Sichtweisen auf die­sel­be Physik.»

Die ursprüng­lich fünf Superstring-Theorien haben mitt­ler­wei­le 10’500 Paralleluniversen gebo­ren. Das sind eine Eins und 500 Nullen. Man spricht von «Landschaften», «Populationen von Universen» oder «Kompaktifizierungen». Keiner weiß, wie es wei­ter­ge­hen soll. Man darf nicht ver­ges­sen, dass die Mathematik einen hohen Grad an Schlüssigkeit besitzt, und dass die Forderung nach einer expe­ri­men­tel­len, sagen wir mal, wirk­lich­keits­na­hen Überprüfung illu­so­risch ist, weil die Möglichkeiten der­art viel­fäl­tig sind, dass man sich mit einem völ­lig neu­en Weltbild abfin­den muss. Die ange­streb­te Vereinheitlichung zur «Weltformel» ist zur Obsession gewor­den.

Weshalb spre­che ich von sol­chen Dingen? Weil ich der Überzeugung bin, dass wir den Kosmos in uns tra­gen, bzw. Teil die­ses Kosmos sind. Vielleicht gibt es kei­ne «Weltformel». So wie jeder ein­zel­ne der 6,5 Milliarden Menschen auf die­sem Planeten durch eine DNA-Analyse iden­ti­fi­ziert wer­den kann, so muss viel­leicht jedes die­ser 10’500 Universen ein­zeln iden­ti­fi­ziert wer­den. Ein Albtraum, geht es doch in der Intention um eine ein­fa­che Formel, etwa im Sinne von Einsteins «e = mc2» (Energie = Masse x Geschwindigkeit im Quadrat). Vielleicht gleicht die Suche nach der «Weltformel» der Suche nach dem Gral.

Vielleicht sind die Vereinheitlichungsbestrebungen eine der Utopie zugrun­de lie­gen­de Teleologie, also im Voraus bestimm­te idea­le Endzustände. Der Turmbau zu Babel war auch so eine Utopie von Vereinheitlichung, von einem gott­ähn­li­chen Streben nach dem Ganzen geprägt. Aber da spiel­te Gott nicht mit, schuf die Sprachverwirrung, und somit die kul­tu­rel­le und eth­ni­sche Vielfalt. Der Physiker wird kei­ne Einwände erhe­ben. Hauptsache, dass sich alle Besonderheiten dem größ­ten gemein­schaft­li­chen Nenner unter­ord­nen. Dass die Natur ein Ganzes ist, dar­an ist wohl kaum zu zwei­feln, aber mög­lich ist, dass in einem unend­li­chen Tiefenraum die Materie sich der­art anders ver­hält, dass die­se – und das ist das Entscheidende – nicht mehr for­ma­li­sier­bar ist, bzw. ande­ren Gesetzen gehorcht. Deshalb gefällt mir der Albtraum der Physiker, sich mit 10’500 «Landschaften» beschäf­ti­gen zu müs­sen, weil die­ser Albtraum der Natur so nahe kommt. Betrachten wir das mensch­li­che Hirn. Es ist ein Kosmos. Manfred Frank, Professor für Philosophie in Tübingen, sagt dezi­diert, dass es den Neurowissenschaftlern «nie gelin­gen wird, Geist oder Seele auf neu­ro­na­le Prozesse zurück­zu­füh­ren.» In sei­nem 2008 erschie­ne­nen Buch «Das Gehirn – ein Beziehungsorgan» argu­men­tiert der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs in die glei­che Richtung, dahin­ge­hend, dass die neu­ro­na­len Muster zwar dem natur­wis­sen­schaft­li­chen Kausalzusammenhang unter­lie­gen, zugleich aber «einer über­ge­ord­ne­ten Bestimmung durch nicht phy­si­ka­li­sche Funktions- und Bedeutungszusammenhänge gehor­chen, ins­be­son­de­re durch die indi­vi­du­el­le Lerngeschichte des Lebewesens, die sich in sei­nem leib­li­chen, see­li­schen und gei­sti­gen Vermögen nie­der­ge­schla­gen hat.»

Jedes Hirn wäre dann wie eines der schier unend­lich vie­len String-Universen. […]

Galerie Rigassi
Münstergasse 62; 3011 Bern
Infos: www.rigassi.ch

Foto: zVg.
ensuite,  August 2012