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Unvergessen im Bergün

Von Lukas Vogelsang – Ich war zuvor noch nie in Bergün gewe­sen. Auf der Fahrt durch furchige Schluchten fuh­ren mir ein Ferrari und ein ande­res Sportauto mit über­höh­ter Geschwindigkeit ent­ge­gen. Vor Schreck bin ich fast über die Strasse hin­aus, den Hang run­ter gefah­ren. Kein gutes Omen – und vor allem: Was erwar­tet mich da hin­ten in Bergün…

Alles ande­re, als ich erwar­tet hat­te. Das Kurhaus Bergün ist das «Historische Hotel des Jahres 2012» – was auch der Grund war, war­um es mich in die­se Bündner-Ecke ver­schlug. Hier ist kein Prunk, kein Schickimicki – und die Sportwagen sind wohl nur über den Albula-Pass gedüst und haben das schmucke Dörfchen unge­se­hen pas­siert. Bergün ist ein klei­nes Traktoren-Nest mit Ferienhäuschen und gehei­men Ecken. Das Einzige, was mich hier in den zwei Tagen stör­te waren ein paar Helikopter, wel­che den Bergbauern Material in die Höhe brach­ten. Bergün ist grün, und wer sich aus einem hek­ti­schen Alltag aus­klin­ken will hat hier gute Chancen, zurück auf den Boden zu kom­men. Auto braucht es hier kei­nes – das Hotel ist 5 Minuten vom Bahnhof ent­fernt –, und in Anbetracht mei­nes moto­ri­sier­ten Empfangskomitees emp­fiehlt sich eine ruhi­ge­re Ankunft.

Beim Betreten der Eingangshalle des Kurhotels wird die Zeit zurück­ge­dreht. Man braucht eini­ge Minuten, um den Filmriss zu ver­ste­hen. Doch von da an wird alles ein­fach, natür­lich und gemüt­lich. Ich ste­he in einem leben­di­gen Hotel vol­ler klei­nen Details, vol­ler Geschichten. Hier gibt es kei­nen Superservice, der mich bevor­mun­det, und es gibt auch kei­nen TV im Zimmer. Hier fehlt jeg­li­cher Komfort eines Luxus-Hotels – aber hier gibt es dafür den Luxus der Menschlichkeit. Das stellt man rasch fest. Und das Hotel ist ein Familienhotel. Wer kei­ne Kinder um sich haben will soll­te ent­we­der nicht in der Feriensaison hier­her kom­men – oder den Ort mei­den. Die Türen zu den ein­zel­nen Zimmer sind nicht Schallisoliert – sie sind gar nicht iso­liert. Eine simp­le Holztüre trennt mich von der Aussenwelt. Das hat Charme.

Klingt alles etwas eigen­ar­tig, ich weiss. Aber das hat sei­nen Grund: Das Kurhotel hat eine leben­di­ge Geschichte hin­ter sich. 1906 wur­de es eröff­net und war für Bergün als über­le­bens­not­wen­di­ges Touristenziel gedacht. Viele Bauern lie­fer­ten Ihre Waren ins Hotel und über­leb­ten des­we­gen. Doch der Tourismus harz­te. Unterdessen ist es ein paar­mal Pleite gegan­gen – und geret­tet haben es jetzt schluss­end­lich die Gäste, wel­che jedes Jahr hier­her zurück­ka­men und gemein­sam eine Trägerschaft gebil­det haben. Damit ist ein Hotel zurück­ge­won­nen, mit Zimmern vol­ler Enthusiasmus, Selbsthilfe, und vor allem viel Lebenslust. Hier dreht sich nichts um den Gast – hier dreht sich der Gast um das Hotel, und dabei beginnt das Haus sei­ne Geschichten zu erzäh­len. Dies wie­der­um beflü­gelt die­je­ni­gen, wel­che sich ein­ge­ni­stet haben. Eine geheim­nis­vol­le Anziehungskraft hat die­ses Haus.

Vor allem sind die Säle, die histo­risch sanft reno­vier­ten Gaststuben zu erwäh­nen, oder die alte Küche im Keller, das Billardzimmer, die schumm­ri­ge Bar, die modu­la­ren Schlafzimmer auf den obe­ren Stockwerken, der alte Lift und das Treppenhaus. Allen vor­an aber thro­nen die Empfangshalle und das Meisterwerk von einem Saal. Nichts ist über­re­no­viert – alles trägt Geschichten in sich. Und genau das macht die­ses Hotel zu einem ganz spe­zi­el­len Ort.

Den Kulturpreis «Historisches Hotel 2012» hat das Hotel nicht für das erreich­te Ziel erhal­ten – son­dern für den ein­ge­schla­ge­nen Weg. Hier fehlt das Geld für die rasche Sanierung, und so wird Stück für Stück des Gebäudes zurück­ge­holt. Jahr für Jahr ver­än­dern sich die Zimmer, und eigent­lich ist das Hotel immer in Bewegung. Was sehr mär­chen­haft klingt, ist in Realität erst eine hef­ti­ge Desillusionierung: Das Zimmer wirkt wie das Mansardenzimmer mei­ner Grosseltern. Eine ziem­lich schrä­ge und klei­ne Badezimmerkabine steht im Raum – es ist alles da. Aber von «Design» spricht hier nie­mand. Es gibt zwar Wlan-Internet im Zimmer – aller­dings ist der Empfang so schlecht, dass ich den Laptop neben der Türe auf den alten Heizungsradiator stel­len muss. Der klei­ne «Raucherbalkon» bie­tet eine herr­li­che Aussicht – wer den Balkon jedoch genau­er betrach­tet, zwei­felt, ob die­se Aussicht noch lan­ge genos­sen wer­den kann. Und genau die­se unper­fek­ten Dinge for­men das Haus und sei­nen spek­ta­ku­lä­ren Charakter. Hier darf auch mal was kaputt gehen. Hier darf gelebt wer­den. Und je län­ger ich in den Räumen atme, umso spür­ba­rer wirkt es auf mich ein. Nach zwei Tagen bin ich von die­sem Virus befal­len.

Vor dem Besuch lohnt es sich das Buch von Peter Stamm, «Seerücken» zu beschaf­fen, und die Kurzgeschichte über die­ses Hotel zu lesen. Es ist fast beäng­sti­gend, doch hier fühlt sich alles genau so an. Und genau­so geheim­nis­voll ver­zau­bert ver­las­sen wir danach Bergün. Einzig das Essen ist um Welten bes­ser, als die Ravioli-Dosen in Stamms Geschichte. Wer ein paar Tage oder Wochen hier ver­bringt, ent­deckt in der Einfachheit und in der Lebendigkeit des Kurhotels eine neue Welt – dort, wie auch wie­der zu Hause: Bergün ist unver­ges­sen.

www.kurhausberguen.ch

Peter Stamm: Seerücken. Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2011. 190 Seiten.

Foto: zVg.
ensuite, Februar 2012