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Unermüdlich Zeichen set­zen

Von Thomas Kohler – Wer kennt sie nicht, die kraft­vol­len Zeichen, die in Japan und China auf fei­ne Papierbahnen gemalt Häuser, Tempel oder Schreine schmücken? Auch bei uns kann man ihnen begeg­nen. Die Japanerin Sanae Sakamoto lebt seit über 40 Jahren in der Schweiz und bringt Interessierten die Technik und die Geheimnisse der chi­ne­sisch-japa­ni­schen Kalligraphie nahe.

Der Pinsel ruht für einen Augenblick in der Luft schwe­bend über dem weis­sen Papier. Das ist kein Ausdruck des Zögerns, son­dern ein letz­ter Moment höch­ster Konzentration der Künstlerin. Was danach ein­setzt, begei­stert jeden Liebhaber von Musik und Rhythmus: Die Pinselspitze tanzt über die saug­fä­hi­ge Unterlage und ver­ewigt ihre Flugbahn mit kräf­ti­gen Spuren schwar­zer Tusche. Der male­ri­sche Gestus ist nicht wild und aus­schwei­fend. Der Pinsel bewegt sich rasch, aber beherrscht, hält an bestimm­ten Orten für kur­ze Zeit ein, um dann gleich wie­der wei­ter zu flit­zen.

Zu Beginn mag die schwar­ze Spur, die Sanae Sakamoto auf das Papier zeich­net, chao­tisch erschei­nen. Doch nach und nach erschliesst sich auch dem ahnungs­lo­sen Beobachter das Zwingende in der stür­mi­schen Bewegung, offen­bart sich der wil­de und doch stren­ge Rhythmus.

Während Sanae den Pinsel schliess­lich wie­der vom Papier anhebt und ihr Werk kurz betrach­tet, erken­nen die Betrachterinnen und Betrachter lang­sam und fast unbe­wusst die Kraft des ent­stan­de­nen Zeichens – selbst wenn ihnen des­sen kon­kre­te Bedeutung unklar bleibt. Wer weder Japanisch noch Chinesisch spricht, dem bleibt die­se sozu­sa­gen buch­stäb­li­che Bedeutung natur­ge­mäss ver­bor­gen. Das beein­träch­tigt Menschen aus dem west­li­chen Kulturkreis in ihrem Kunstverständnis jedoch nur unwe­sent­lich: Die chi­ne­sisch-japa­ni­sche Kalligraphie bie­tet ihnen den­sel­ben Zugang wie die abstrak­te Malerei. Die Bilder des «Action Paintings» eines Jackson Pollock etwa sind prak­tisch nur aus ihrer Dynamik, nicht aber aus einer wie auch immer gear­te­ten inhalt­li­chen «Botschaft» zu ver­ste­hen.

Doch damit endet jede Analogie. Dass Jackson Pollock sei­ne Leinwand beim Malen, respek­ti­ve beim Farbe trop­fen las­sen, auf den Boden leg­te, statt sie an einer Staffelei zu befe­sti­gen, bleibt eine letzt­lich belang­lo­se Gemeinsamkeit. Tatsächlich brei­tet zwar auch Sanae Sakamoto für gross­for­ma­ti­ge­re Arbeiten ihr Papier auf einem Filztuch auf dem Boden aus. Aber in der chi­ne­sisch-japa­ni­schen Kalligraphie steckt durch die Darstellung von Schriftzeichen grund­sätz­lich auch eine inhalt­li­che Bedeutung. Damit weicht sie vom von Pollock geschätz­ten (und vom Schweizer Psychoanalytiker C.G. Jung gepräg­ten) Ansatz des «Unbewussten als Quelle der Kunst» klar ab.

Was die Faszination der Asiaten für ihre Kalligraphie aus­macht, ist den Menschen im Westen frei­lich nicht ein­fach zu erklä­ren. «Als ich mich vor vie­len Jahren an der Basler Schule für Gestaltung vor­stell­te, sag­te einer der dort ange­stell­ten Professoren, mei­ne Arbeiten sei­en ja bloss Schriften», erin­nert sich Sanae Sakamoto. Erst als einer der Professoren der Schule sie bat, in Basel eine Gastvorlesung und Demonstration ihrer Kunst zu geben, änder­te sich das: Nun leuch­te­te der künst­le­ri­sche Wert, der weit über das Schreiben von Zeichen hin­aus­geht, den Leitern der Kunsthochschule spon­tan ein. Seither unter­rich­tet die inter­na­tio­nal bekann­te Künstlerin japa­nisch-chi­ne­si­sche Kalligraphie an der Basler Schule für Gestaltung.

Der Begriff «japa­nisch-chi­ne­si­sche Kalligraphie» lei­tet sich im Übrigen vom Umstand ab, dass die Menschen in Japan und China zwar sehr unter­schied­li­che Sprachen spre­chen – aber jeweils die­sel­ben Schriftzeichen für die ent­spre­chen­den Wörter ver­wen­den. Sie kön­nen sich also schrift­lich ver­stän­di­gen. Am Telefon klappt die­ser Informationsaustausch jedoch nicht.

Die Kalligraphie hat sowohl in China als auch in Japan einen enorm gros­sen Stellenwert. Er ist in etwa ver­gleich­bar mit dem­je­ni­gen, der im Westen den Bildern zukommt. Der medi­ta­ti­ve Charakter steht bei den Kalligraphien japa­nisch-chi­ne­si­scher Schriftzeichen immer sehr stark im Vordergrund. Diese Eigenart ist für Asiaten nicht ein­fach zu erklä­ren – und für Menschen im Westen kei­nes­wegs leicht zu ver­ste­hen. «Die Völker des fern­öst­li­chen Kulturkreises sehen Dinge, die kei­ne mate­ri­el­le Form haben, hören Worte, die kei­ne spre­chen­de Stimme haben», erklärt Sanae Sakamoto. «Diese Gabe ist uns eigen aus mehr­tau­send­jäh­ri­ger Tradition. Sie basiert auf den Lehren von Laotse. Er gab uns etwa 500 v. Chr. die Lehre vom «Tao» («der Weg»), wel­che spä­ter zur Weltanschauung des Taoismus geführt, aber auch star­ken Einfluss auf den Zen-Buddhismus aus­ge­übt hat.»

In Japan hän­gen kal­li­gra­phi­sche Zeichen auch in Teehäusern, tra­di­tio­nell geführ­ten Hotels, den soge­nann­ten Ryokan, und in vie­len Privathäusern und ‑woh­nun­gen. Selbst das Kaiserhaus ver­zich­tet nicht auf die zur Meditation gedach­ten Schriftzeichen. Der Tenno, wie der japa­ni­sche Kaiser genannt wird, besitzt für die Zeit sei­ner Regentschaft sogar jeweils ein eige­nes Motto, geschrie­ben mit kal­li­gra­phi­schen Zeichen. Das Motto des der­zei­ti­gen Tenno lau­tet «Heisei», was in etwa «Frieden über­all» bedeu­tet.

Sanae Sakamotos Ziel ist ein Brückenschlag zwi­schen West und Ost. Sie gibt seit Mitte der 1970er Jahre in der Schweiz Unterricht in japa­nisch-chi­ne­si­scher Kalligraphie. Dabei begnügt sie sich nie mit einer rei­nen Vermittlung der Technik mit Pinsel, Tusche und Papier. Vielmehr erklärt sie ihren Schülerinnen und Schülern (von denen nicht weni­ge ihren Unterricht schon seit Jahrzehnten ver­fol­gen) stets, wel­ches die tie­fe­re Bedeutung und der geschicht­li­che Hintergrund der asia­ti­schen Schriftzeichen ist, die sie ihnen jeweils gera­de ver­mit­telt. Auch dies wie­der­um ist nicht ein­fach, denn die japa­nisch-chi­ne­si­schen Kalligraphiezeichen haben oft meh­re­re Bedeutungen, deren Nuancen genau ver­stan­den sein wol­len. Sanae betont: «Ich unter­rich­te nicht die SchulKalligraphie, son­dern die Kalligraphie-Zeichen als Kunst, und deren Entstehung und Bedeutung.» Deshalb sei es nicht nötig, die japa­ni­sche Sprache zu ver­ste­hen.

Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2012