Tanz Dich frei – kri­ti­sche Gedanken

Von

|

Drucken Drucken
FOTO: Raphael Moser / www.relational.ch
FOTO: Raphael Moser / www.relational.ch

(Von Lukas Vogelsang) – Eines gleich vor­weg: Ich ver­ur­tei­le nie­man­den, denn ich bin kein Richter und ich bin nicht für Gewalt und kann Vandalismus in kei­ner Form ver­ste­hen und respek­tie­ren. So sind die­se angeb­lich 70 Chaoten, die sich am „Tanz Dich frei“ vom 25. Mai 2013 mit der Polizei einen Krieg lei­ste­ten nicht in Schutz genom­men oder ent­schuld­bar. Auch ich bin der Meinung, dass die­se für die Schäden gera­de ste­hen müs­sen. Trotzdem habe ich eini­ge Fragen, die mir in der gesam­ten Berichterstattung und wäh­rend der gesam­ten Beobachtungszeit, unbe­ant­wor­tet blie­ben. Ich will hier nichts schön­re­den und ich hof­fe, dass dies auch so ver­stan­den wird.

Da wäre einer­seits die auf­ge­bau­te Kriegskommunikation Wochen im Voraus. Wie kann ein Polizeidirektor die Frage der Sicherheit in der Öffentlichkeit dis­ku­tie­ren? Zumindest in die­ser Form? Ich wer­de den Eindruck nicht los, dass hier eine Überforderung und Hilflosigkeit in der gan­zen Angelegenheit anstand. Da waren zum Beispiel nur eine Woche vor­her die Fanmärsche der Fussballfans über die Kornhausbrücke und man sieht auf den Bildern im Internet gut, wie Feuerwerk in die­ser Masse gezün­det wor­den ist. Doch nie­mand schrie, dass Fluchtwege offen blei­ben müs­sen, nie­mand hat­te das Gefühl, dass hier etwas eska­lie­ren könn­te. Lange war es jetzt ruhig in Bern. Doch waren die Chaoten bereits mit dem Fussballwochenende prä­sent und haben Sachschäden ver­ur­sacht. Die Polizei war also alar­miert, das Thema war auf­ge­wärmt: Die Chaoten sind zurück und haben sich da warm­ge­lau­fen.

Für mich war bereits ziem­lich frag­wür­dig, dass die­se Fanmärsche der Fussballer bewil­ligt wur­den, obschon eine Woche spä­ter das „Tanz Dich frei“ statt­fin­den wür­de und man eigent­lich – zumin­dest wer eini­ger­mas­sen bei der Sache ist – wis­sen soll­te, dass die Chaoten nur auf sol­che Anlässe war­ten. Eine Woche spä­ter waren die­se gut orga­ni­siert und der Radau war plan­mäs­sig vor­be­rei­tet. Das Ziel der Chaoten ist ent­spre­chend auf­ge­gan­gen. Niemand hat dage­gen gewirkt.

Ich möch­te kurz dar­an erin­nern, dass in Stockholm bereits seit 6 Tagen Krieg zwi­schen den Jugendlichen und der Polizei herrsch­te. Also auch von da kam ein Input, der die Alarmsignale bei der Polizei unbe­dingt auf Deseskalation hät­te stel­len müs­sen. Die Bilder im Fernsehen rochen nach Revolution – zwei Tage vor dem Anlass wur­de in Bern die Rhetorik der anony­men VeranstalterInnen mili­tant. Ich ver­mu­te, dass Stockholm sei­ne Wirkung zeig­te. Das war aber eher zufäl­lig und spon­tan – denn das „Tanz Dich frei“ war bis­her immer eine harm­lo­se Veranstaltung und ziem­lich unpo­li­tisch.

Alle Zeichen stan­den also im Vorfeld auf Alarm. Die Polizei warn­te vor Massenpanik – nicht vor den Chaoten. Die Warnung, nicht an das „Tanz Dich frei“ zu gehen, war nicht wegen Tränengas, Steinwürfen und Polizeieinsätzen, son­dern wegen Massenpanik und feh­len­den Fluchtwegen. Irgendwie – wenn ich mir das so über­le­ge – eigent­lich eine tota­le Fehlinformation, die fatal hät­te enden kön­nen. Die Choaten sind immer eine Minderheit. Gefährlich wäre es gewe­sen, wenn die­se in der Masse gewe­sen wären – aller­dings ist das prak­tisch nie der Fall.

Meine gröss­ten Fragezeichen aber set­ze ich am Anlass sel­ber. Da star­tet der Soundmobil-Tross ab 20:00 Uhr und 3 Stunden lang beob­ach­tet man das Scharmützel der Chaoten, wel­che sich VOR dem eigent­li­chen Demo-Umzug ziem­lich aktiv bemerk­bar machen und sich abge­son­dert haben. Die Masse ist kein Schutzschild, wie das oft erwähnt wird. Diese Chaoten neh­men nur den Anlass sel­ber als Eintrittskarte, um „ihre“ Stadt zu ver­un­si­chern. Sie sind nicht Teil von „Tanz Dich frei“ – sie neh­men nicht die Stadt ein, den Raum – so wie der Demo-Umzug –, son­dern sie ran­da­lie­ren, spie­len mit Feuerwerk und erklim­men Gebäude. Die Chaoten machen ganz ein­fach auf sich auf­merk­sam. Man lässt sie gewäh­ren – nie­mand ist da um ein­zu­schrei­ten. Erst als man beim Bundesplatz ankommt, ist die Polizei omni­prä­sent. Einerseits ist da eine lächer­li­che Absperrung, die locker weg­ge­tra­gen wird. Andererseits hat die Polizei eine Null-Toleranz vor dem Bundeshaus ver­ord­net, einer Passage, die viel zu mar­kant durch den hohen Sicherheitszaun ver­engt wur­de. Hier wird alles von der Polizei sofort, klar und deut­lich abge­wehrt. Nulltoleranz eben. Meine zen­tra­le Frage aber ist: Was hat die Polizei wäh­rend der ersten 3 Stunden gemacht? Man hat die Hunde frei lau­fen las­sen und gewar­tet, bis sie so auf­ge­dreht und über­dreht sind, dass es unwill­kür­lich beim Zusammenprall mit der Polizei eska­lier­te. Es war klar, dass die Chaoten zubeis­sen wer­den. Warum hat hier nie­mand wäh­rend der Wartezeit das Konzept geän­dert? Tränengas stand bereit, der Helikopter war vor­be­rei­tet, alles war auf Eskalation ein­ge­stimmt. – Niemand auf Deseskalation.

Da sich die­se Chaos-Trupp wun­der­bar VOR der Masse beweg­te, hät­te man die­se fast geschlos­sen iso­lie­ren kön­nen. Ich mei­ne, es waren ca. 70 Personen, wel­che die Sicherheit von ca. 7‘000 fried­li­chen Personen aufs Spiel setz­ten. Die Polizei wehr­te sich gegen die Chaoten wie im Burg-Zeitalter, hin­ter Mauern und schoss aus Schiessscharten – so zumin­dest im Beginn. Dies wirkt pro­vo­ka­tiv und reizt die unge­schützt auf der Strasse ste­hen­den Chaoten. Klar, dass die­se reagier­ten. Ist das zu viel Psychologie für die Polizei? DAS gibt mir zu den­ken.

Damit will ich in kei­ner Weise die Chaoten in Schutz neh­men. Meine Fragen sol­len nur hel­fen, den Polizeieinsatz oder die Berner-Konfliktfähigkeit zu über­den­ken. Und es ist abso­lut kor­rekt, dass die VeranstalterInnen, wie die Fanclubs eine Woche zuvor eben­so, zu Rechenschaft gezo­gen wer­den müs­sen. Ich fin­de es auch nicht gut, dass die VeranstalterInnen von „Tanz Dich frei“ sich anonym ver­hal­ten. Ich kann mir eini­ger­mas­sen vor­stel­len, wes­halb sie die­sen Weg gewählt haben. Aber gut fin­de ich das nicht.

Total über­mäs­sig jedoch fin­de ich die all­ge­mei­nen Reaktionen. Die Presse ist seit Wochen und seit zwei Tagen über­mäs­sig mit dem Thema beschäf­tigt. In Zürich kommt so ein Scharmützel öfters vor, und dabei geht auch gern mal ein Ferrari zu Bruch. Aber des­we­gen gibt es nicht so ein Geschrei. Sind wir in Bern ein­fach kon­flikt­un­fä­hig? Sind wir in Bern am Wochenende aus einem Dornröschenschlaf auf­ge­wacht? Seit vie­len Jahren hat man hier kein Tränengas mehr gero­chen. Es ist ruhig gewor­den in Bern. Laute Stimmen sind nicht will­kom­men. Man hat vor vie­len Jahren das „Berner Jugendfest“ weg­ge­spart und der Jugend fast jeden Platz weg­ge­nom­men und will wei­ter­hin über die Reitschule dis­ku­tie­ren. Die Schützematt soll „zivi­li­siert“ wer­den. Fast alles wird poli­tisch und von Ämtern beherrscht – kaum ein Platz, der nicht „ver­staat­licht“ wur­de. Dass wir damit eine Ohnmacht auf­bau­en, die eini­gen Menschen unan­ge­nehm ist, wird nicht mehr dis­ku­tiert. Die Kultursekretärin von Bern meint ja, dass die Menschen die Stadt sel­ber in Beschlag neh­men. Wirklich? Ist dem so?

Vielleicht hat die­se Wochenende, neben den Schuldfragen, doch auch noch die eine oder ande­re Idee von öffent­li­chem Raum und Fragen zu unse­rer Gesellschaft hin­ter­las­sen. Wenn nicht, dann wäre dies ein ganz erbärm­li­ches Zeichen. Aber für uns alle.

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo