Still Life

Von

|

Drucken Drucken

Von Sonja Wenger – Es geht um den Tod, das wird im bri­ti­schen Film «Still Life» gleich in den ersten Szenen klar. Man sieht eine grie­chisch-ortho­do­xe Abdankungszeremonie, ein jüdi­sches Begräbnis, eine christ­li­che Beerdigung – und stets mit dabei ist John May (Eddie Marsan) als ein­zel­ner, meist als ein­zi­ger Trauernder. Er kennt jeden Pfarrer und Priester in sei­nem Stadtviertel von London, und die Geistlichen ken­nen – und schät­zen – John May, denn May hat einen beson­de­ren Beruf, bei dem es mehr ums Leben geht. In der sonst anony­mi­sier­ten und betriebs­blin­den Verwaltung des Bestattungsamts ist es sei­ne Aufgabe her­aus­zu­fin­den, ob die ein­sam gestor­be­nen Menschen der Stadt noch irgend­wo im Land Angehörige oder Freunde haben, die sich um die Formalitäten küm­mern oder ein­fach nur an der Beerdigung dabei sein möch­ten.

Mays Arbeit ist nur sel­ten von Erfolg gekrönt. Dennoch macht er sie mit viel Akribie, detek­ti­vi­schem Instinkt und einem Gefühl von Verantwortung und Liebe. Tagein, tag­aus gräbt er sich durch die Bilder, Korrespondenz, Habseligkeiten und Erinnerungen von Menschen, jung wie alt, die bei einem Unfall gestor­ben sind, deren Leiche erst nach Wochen gefun­den wur­de, oder auf deren Nachlass nie­mand Anspruch erhebt. Wie ein Puzzle setzt er die Informationen zusam­men, und wenn er wider erwar­ten doch ein­mal ein Familienmitglied fin­det, ist es ein klei­ner Moment des Glücks. Bei allen ande­ren muss May ent­schei­den, wann die Suche abge­bro­chen und die Leiche zur Bestattung frei­ge­ge­ben wird. In die­sen Fällen über­nimmt May die Funktion des Trauernden, nicht weil er muss, son­dern weil er will. Und bei jedem abge­schlos­se­nen Fall wan­dert ein Foto der betrof­fe­nen Person in ein Album bei John May zuhau­se. In einem anrüh­ren­den Ritual erin­nert er sich an jene, an die sich nie­mand mehr erin­nern mag.

Ohnehin hat John May vie­le Rituale und frönt einer gera­de­zu per­fek­tio­ni­sti­schen Tagesroutine: gegen die beis­sen­de Einsamkeit in sei­nem eige­nen Leben, gegen die laten­te Trostlosigkeit sei­ner Tätigkeit, oder ein­fach für die Sicherheit im Strassenverkehr. Zu sagen, May wäre trau­rig, wäre ihm unrecht getan, doch so recht glück­lich scheint er auch nicht zu sein. Aber er liebt sei­ne Arbeit und führt seit Jahren ein stil­les Leben inmit­ten von Akten und in einer Parallelwelt, zu der die mei­sten Menschen kei­nen Zutritt haben, kei­nen haben wol­len.
All dies ändert sich jedoch an jenem Tag, als er in eine Wohnung geru­fen wird, die fast neben sei­ner eige­nen liegt. Auch er hat jah­re­lang nicht bemerkt, dass ein Mensch namens Billy Stoke gleich neben­an ein ein­sa­mes Leben leb­te und einen noch ein­sa­me­ren Tod gestor­ben ist. Der Fall berührt ihn und er macht sich wie gewohnt auf die Suche nach den Angehörigen. Gleichzeitig eröff­net ihm sein Chef an jenem Tag unver­blümt, dass wegen Sparmassnahmen die Abteilung geschlos­sen wer­de und May noch sei­nen letz­ten Fall abschlies­sen sol­le, bevor er ent­las­sen sei.

Mit der stoi­schen Entschlossenheit eines Menschen, der nichts zu ver­lie­ren hat, bäumt sich May gegen das Unvermeidliche auf und beginnt, in die kom­ple­xe Familiengeschichte von Stokes ein­zu­tau­chen. Die Reise führt ihn durch halb England und an die Haustüre von Stokes Tochter Kelly (Joanne Froggatt), einem Menschen, der Mays Beweggründe auf eine ganz beson­de­re Art ver­ste­hen kann. Bevor John May merkt, was pas­siert, hat sich sein Leben auf eine Art ver­än­dern, die er selbst nicht mehr für mög­lich gehal­ten hät­te.

Dem ita­lie­ni­schen Regisseur, Produzent und Drehbuchautor Uberto Pasolini ist mit «Still Life» ein klei­nes, fei­nes, ruhi­ges Drama gelun­gen, das trotz, oder gera­de wegen dem mor­bi­den Thema vol­ler Humor steckt, und in dem die Charakterzüge der Hauptfiguren so prä­zi­se und scharf her­aus­ge­ar­bei­tet sind, als ob sie mit einem Skalpell gezeich­net wur­den. Der Film ver­mag einem zudem die Augen zu öff­nen, wie viel Einsamkeit es auf die­ser Welt gibt – und wes­halb es lohnt, sich gegen­über den Menschen, die einem nahe­ste­hen, anstän­dig zu ver­hal­ten. Obendrein war Pasolini mutig genug, sich um Konventionen zu sche­ren und ein «Happy End» zu schrei­ben, das ein etwas ande­res Verständnis von Glück und Erfüllung zeigt. Doch vor allem hat Pasolini mit John May – bril­lant ver­kör­pert von dem viel­sei­ti­gen Eddie Marsan – eine her­zens­gu­te Hauptfigur geschaf­fen, die einen auf­wühlt, zum Denken anregt und zeigt, wes­halb der Mensch nur Angst vor dem Sterben haben muss, wenn er sein Leben nicht gelebt hat.

«Still Life», Grossbritannien 2013. Regie: Uberto Pasolini. Länge: 87 Minuten.

Foto: zVg.
ensuite, April 2014

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo