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So geht das nicht

ensuite_161_Mai_2016i-1Von Lukas Vogelsang – Auch ich habe kei­ne Ahnung, was die Zukunft brin­gen wird. Und es passt zu den momen­ta­nen Befindlichkeiten, dass auch Madame Etoile, nach 25 Jahren Zukunftsweissagungen für Radio SRF, Ende Juni auf­hört. Die jüng­sten Terror-Attentate haben unse­re Zukunftsvisionen und Ferienpläne ver­än­dert. Wirtschaftliche Entwicklungen, wie die Folgen der «Panama Papers», hebeln angeb­lich funk­tio­nie­ren­de Gesellschafts-model­le aus. Religionen sind ihrem Sinn und Zweck ent­frem­det wor­den, was dem all­ge­mei­nen Wachstum der welt­li­chen Weisheit kei­nen Dienst erweist.

Technologisch bewe­gen wir uns in eine men­schen- und kul­tur­lo­se Zukunft. Sinn- und zweck­ent­frem­det wird es in ein paar Jahren für jedes Individuum schwie­rig wer­den, sei­ne emo­tio­nel­len Welten zu ver­ste­hen oder zu reflek­tie­ren: Die vir­tu­el­len Communities sind aso­zi­al, ohne mensch­li­che Wärme und rich­ti­gem Leben. Zwar spielt die Werbeindustrie wei­ter­hin mit unse­ren letz­ten Emotionen – gezielt, und wir wer­den mehr und mehr dem Willen ande­rer aus­ge­lie­fert.

Ist das zu düster? Dann jetzt die gute Nachricht: Wir haben eine gros­se Zukunft vor uns. Es gibt näm­lich einen kapi­ta­len Denkfehler in der Entwicklung und Planung der pla­ne­ta­ren Entwicklung. Ausgehend davon, dass eine Idee erst im Kopf ent­steht, und danach auf Papier gebracht oder real wird, haben wir uns über hun­der­te von Jahren ein­ge­re­det, durch Filme vor­pro­gram­miert, durch die Wissenschaft ver­blen­den las­sen, dass jedes Ereignis auf die­sem Planeten jeden Ort des­sel­ben betrifft. Also bei­spiels­wei­se ein Atomkrieg auf der gesam­ten Erde statt­fin­det. Oder die Raumfahrt für alle Menschen an jedem Ort auf der Erde mög­lich ist. Und genau hier ist der Fehler: Es stimmt nicht. Während es in der Stadt reg­net kann es ein paar Strassen dane­ben trocken sein. Wenn wir Nacht haben, haben ande­re Menschen Tag. Und wäh­rend unser «Samichlous» im Winterkostüm mit klam­men Fingern durch die Quartiere zieht, ste­hen in Mexiko die Samichläuse in der Badehose im Meer. Es gibt «den einen Zustand» nicht. Es gibt nur vie­le Zustände, wie Sandkörner, die durch eben­so vie­le Zufälle beein­flusst wer­den.

Sicher, der Meteoriteneinschlag hät­te gra­vie­ren­de Folgen für alle. Aber Kriege fin­den nie auf allen Kontinenten statt. Unser Denkradius ver­läuft über Nordamerika, Europa, Russland, Asien – der ara­bi­sche Raum ist in der Vision bereits kaum fass­bar. Afrika kön­nen wir uns nicht vor­stel­len, davon haben wir kein ein­heit­li­ches Bild. Australien ist weit weg, und bei Neuseeland müs­sen wir erst nach­den­ken, wo es genau liegt. Lateinamerika ist rie­sig – aber kaum auf einer Denklandkarte erfasst. Genauso wie es kaum mög­lich ist, sich eine Million als Menge vor­zu­stel­len und zu erfas­sen, genau­so unmög­lich ist es, die Erde als Ganzes wahr­zu­neh­men. Versuchen Sie ein­mal, sich 7.39 Milliarden Menschen vor­zu­stel­len – oder schon nur das Vermögen von 270 Milliarden Euro der römisch­ka­tho­li­schen Kirche in Deutschland.

Mit ande­ren Worten: Unsere Köpfe kön­nen nur einen Teil einer Zukunft vor­her­se­hen und vor­pro­gram­mie­ren, aber die­se Pläne und Vorstellungen sind schlicht zu klein, lokal, ein­di­men­sio­nal gerich­tet. Es gibt einen guten Witz dazu: Wissen Sie, wie Sie «Gott» zum Lachen brin­gen kön­nen? – Erzählen Sie ihm über Ihre Pläne.

Ein wirt­schaft­li­cher Zusammenbruch betrifft also nur jene, die sich in die­sem Lebens-Denkmuster bewe­gen, oder Hoffnungen in die­ses inve­stier­ten. Im Himalaya wird es wohl nicht das wich­tig­ste Tagesthema sein. Ein Weltkrieg wird Afrika vor allem finan­zi­ell betref­fen – in eini­gen latein­ame­ri­ka­ni­schen Ländern wür­de man Fussball spie­len. Auch die tech­no­lo­gi­sche Entwicklung ist ein Witz in Anbetracht, dass es immer noch vie­le Orte gibt, die kei­nen Stroman-schluss besit­zen. Und Internet ist immer noch ein Luxusgut. Selbst wenn die von uns ange­rich­te­ten Umweltschäden dra­ma­tisch sind, so wird es Landflecken geben, die kaum etwas davon spü­ren wer­den.

In unse­rer Welt fin­den ver­schie­de­ne zeit­li­che Entwicklungen statt, die nicht kom­pa­ti­bel mit einer all­ge­mei­nen Entwicklung ein­her­ge­hen. Solche Gedankengänge fin­de ich phä­no­me­nal, denn sie über­stei­gen unse­re intel­lek­tu­el­len Fähigkeiten weit. Vielleicht soll­ten wir uns wie­der ver­mehrt auf das Leben, unse­re zwi­schen­mensch­li­chen und sozia­len Rollen fokus­sie­ren, und uns dem Jetzt hin­ge­ben. Vielleicht kön­nen wir sodann auch jene 10% der Menschheit zurück­ho­len, wel­che sich mit den 90% Weltvermögen aus dem Staub gemacht haben. Die wer­den die­ses Geld ja sel­ber nie aus­ge­ben kön­nen…

Diese Verschiedenheit und die­se «Unplanbarkeit» ist übri­gens eines der wich­tig­sten und schön­sten Geschenke, die uns das Leben gemacht hat. Darin fin­det unse­re Kultur statt – des­we­gen möch­ten wir uns mit ande­ren aus­tau­schen, zei­gen, was wir über das Leben her­aus­ge­fun­den haben, tei­len – und mit­tei­len. Oft eben mit künst­le­ri­schen Elementen. Willkommen im Kulturmonat Mai. Wir leben.