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Sir Colin Davis

Von François Lilienfeld - (25.Sept.1927 – 14. April 2013): Nach Wolfgang Sawallisch und Sir Charles Mackerras hat uns mit Sir Colin Davis ein wei­te­rer bedeu­ten­der Vertreter der in den Zwanziger Jahren gebo­re­nen Dirigenten ver­las­sen.

Seine Karriere ver­lief zunächst unge­wöhn­lich: Als klei­ner Junge ent­deck­te er durch Grammophonplatten sei­ne Begeisterung für Musik. Den Entschluss, die­se Kunst zum Beruf zu wäh­len, fass­te der Dreizehnjährige nach dem Anhören der Achten Symphonie von Beethoven. Er erlern­te das Klarinettenspiel, und schon bald wur­de Dirigieren sein Ziel. Doch das Royal College of Music in London war nicht bereit, ihn in der Dirigentenklasse auf­zu­neh­men. Als (hane­bü­che­ner) Grund wur­de ange­ge­ben, dass er kein Pianist sei…

A pro­pos Beethoven: Unvergesslich bleibt mir eine Aufführung der Neunten in der Royal Festival Hall, London, am 4. Novemeber 1970, mit dem von Davis diri­gier­ten BBC Symphony Orchestra, des­sen Chefdirigent er damals war. Es gibt Konzerte, die einen Menschen fürs Leben prä­gen: dies war so ein Moment…

Zurück zu den spä­ten Vierziger Jahren: Davis gab Unterricht und diri­gier­te u.a. die Chelsea Opera Group. Außerdem blieb er, als gele­gent­li­cher Orchestermusiker, der Klarinette treu. Ein gro­ßes Repertoire zu erler­nen hat­te er ab 1957 als Assistant Conductor des BBC Scottish Symphony Orchestra Gelegenheit.

Der gro­ße Durchbruch jedoch kam in Form eines «dop­pel­ten Einspringens»: Otto Klemperer muss­te aus Gesundheitsgründen eine kon­zer­tan­te Don Giovanni-Aufführung mit anschlie­ßen­der Plattenaufnahme absa­gen. Carlo Maria Giulini sprang ein, war aber am Konzertdatum nicht frei… Davis’ Erfolg war beträcht­lich. Sadler’s Wells Opera, das BBC Symphony Orchestra London, das Royal Opera House Covent Garden, Boston, Amsterdam, München, Dresden wur­den eini­ge der Hauptstationen sei­ner Karriere. Sein Repertoire war sehr groß, im Mittelpunkt aber stan­den Mozart (von Anfang an!), Berlioz und Tippett.

Nach Anfangsjahren, in denen sein Überschwang manch­mal in Unfreundlichkeit den Orchestern gegen­über aus­ar­te­te, wur­de er ein psy­cho­lo­gisch sen­si­bler Dirigent und von den Musikern ent­spre­chend geliebt. Drängende Energie, aus­la­den­de Bewegungen, tota­les Engagement in Allem was er tat cha­rak­te­ri­sier­ten sein Musizieren in Oper und Konzert.

Die von ihm ins Leben geru­fe­ne Berlioz-Renaissance beschäm­te manch einen fran­zö­si­schen Musiker: «C’est un Anglais qui fait con­naît­re un de nos plus célè­bres com­po­si­teurs…». Tippetts Karriere hat er mit bei­spiel­haf­ter Treue beglei­tet und unter­stützt. Aber immer wie­der kehr­te er zu Mozart zurück. 1980 wur­de er von der Königin geadelt.

Zwei CD-Sammlungen las­sen uns Sir Colin am Anfang und am Ende sei­ner Karriere erle­ben: Eine Box mit 6 CDs aus der EMI-Serie Icons bringt Aufnahmen mit diver­sen Londoner Orchestern aus den Jahren 1959 bis 1963. Viel Mozart natür­lich: trans­pa­rent, schwung­voll aber nie ver­hetzt, in den lang­sa­men Sätzen sehr kan­ta­bel. Ein beson­de­rer Leckerbissen ist die Aufnahme des Oboenkonzertes mit dem legen­dä­ren Leon Goossens. Sein Spiel ist prä­gnant, mit recht schar­fen Phrasierungen und viel Staccato. Ungewöhnlich, aber fas­zi­nie­rend! Die Tempi sind eher gemäch­lich, Goosens Kadenzen von gro­ßer Originalität.

Auch Berlioz ist ver­tre­ten mit einer Aufnahme von Harold en Italie. Das Bratschensolo spielt kein Geringerer als Yehudi Menuhin. Von Tippett ent­hält die Sammlung das Klavierkonzert, ein sehr lyri­sches Werk, das für den Zuhörer zugäng­lich, für die Interpreten aber äußerst schwie­rig ist. Der Pianist John Ogdon, der immer für sel­te­ner gespiel­te Werke zu gewin­nen war, sowie Davis mit dem Philharmonia Orchestra, über­sprin­gen auch die­se Hürde mit gro­ßem Erfolg.

Ein wei­te­rer Höhepunkt ist die fast kam­mer­mu­si­ka­li­sche Interpretation von Brahmsens Haydn-Variationen mit dem Sinfonia of London. Geradezu unüber­treff­lich – und vom glei­chen Orchester gespielt – ist das 1960 auf­ge­nom­me­ne Siegfried-Idyll von Wagner. Eine völ­lig aus­ge­reif­te Interpretation mit Melodienseligkeit, Klangschönheit und Gefühlstiefe, die aber nie ins Pathetische oder Sentimentale abglei­tet. Auch der Humor kommt – in den Vogelstimmen – nicht zu kurz. Kleine Temposchwankungen, eine Gewohnheit, die spä­ter in Einzelfällen pro­ble­ma­tisch wer­den konn­te, sind hier ganz orga­nisch ein­ge­baut und erhö­hen die Spannung. Ein abso­lu­tes Muss!

In die Spätphase der Karriere von Sir Colin führt uns eine Sammlung von 6 CDs der Firma Profil/Hänssler. Sie ent­hält Konzertmitschnitte aus den Jahren 1992 bis 2003, auf­ge­nom­men in der Dresdener Semperoper mit der Staatskapelle Dresden, deren Ehrendirigent Davis 1991 wur­de.

Das Programm ist ganz der Romantik und Spätromantik ver­haf­tet. Es beginnt mit der ersten Symphonie von Sir Edward Elgar. Die Interpretation ist sehr lang­sam und pathe­tisch, was Elgars Musik ein­fach nicht ver­trägt. Auch das Zusammenspiel ist nicht immer ide­al, was durch ein wenig trans­pa­ren­tes Klangbild noch ver­stärkt wird.

Bei Mendelssohns «Schottischer» tre­ten die bereits erwähn­ten Temposchwankungen ver­mehrt auf, dies­mal zum Nachteil der Architektur des Stückes. Gewisse Stilmittel pas­sen eben nicht zu allen Werken…

Großartig hin­ge­gen Schuberts «Unvollendete», die man noch sel­ten mit sol­cher Intensität gehört hat. Der gänz­lich abge­klär­te Schluss ist unglaub­lich, und man ver­steht, war­um das Werk hier ein­fach nicht wei­ter­ge­hen kann! Die dyna­mi­sche Bandbreite vom fast unhör­ba­ren Pianissimo bis zum glanz­vol­len Fortissimo ist schier unglaub­lich.

Auf der glei­chen CD fin­den wir eine beein­drucken­de Aufführung der Dritten Symphonie von Brahms, in einer gelun­ge­nen Mischung von Leidenschaft und Melancholie – getreu dem Motto des Werkes: «frei aber ein­sam». Die auch hier lie­be­voll prak­ti­zier­ten klei­nen Verzögerungen sind so natür­lich, dass sie dem Hörer bald als uner­läss­lich erschei­nen. Die aus­ser­ge­wöhn­li­che Qualität der Staatskapelle, die mit dem Dirigenten eine wah­re Symbiose bil­det, machen auch die­se Aufführung zu einer Sternstunde.

Dass Sir Colin Davis auch eine sehr tie­fe Beziehung zur Musik von Jean Sibelius hat­te, beweist eine Aufführung von des­sen Zweiter Symphonie aus dem Jahre 1988. Auf bewun­derns­wer­te Weise mei­stern Dirigent und Orchester sowohl die zahl­rei­chen, oft abrup­ten Stimmungswechsel, wie die Steigerung im Schlusssatz, all dies ohne über­trie­be­nes Pathos.

Über die Interpretation der gro­ßen Totenmesse von Berlioz will ich mir kein Urteil erlau­ben, da ich zu die­sem Werk kei­nen Zugang fin­de. Die Seelen von Hector Berlioz und Colin Davis mögen es mir ver­zei­hen!

  • Colin Davis – the Early Recordings EMI Classics // 6 CDs 4 63989 2
  • Sir Colin Davis – Staatskapelle Dresden Profil Hänssler // 6 CDs PH 13032
  • Dazu zwei emp­feh­lens­wer­te DVDs mit Sir Colin: Das a‑moll-Violinkonzert von Bach mit David Oistrach und dem English Chamber Orchestra (London 1961) fin­det sich auf EMI clas­sic archi­ve DVA 4928369.
  • Beethovens Violinkonzert mit Yehudi Menuhin und dem London Symphony Orchestra (London 1962) ist Teil der DVD EMI clas­sic archi­ve DVB 4928449.

Foto: zVg.
ensuite, Dezember 2013