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«Sie macht etwas im Raum, ich in der Zeit.»

Von Heike Gerling - Eine Wanderung durch die  Ausstellung von Alfred und Gisela Andersch im  Literaturmuseum Strauhof: «Sie macht etwas im Raum, ich in der Zeit»: Mit die­sen Worten cha­rak­te­ri­sier­te der Schriftsteller, Redakteur und Literaturvermittler Alfred Andersch ein­mal sei­ne künst­le­ri­sche Beziehung zu sei­ner Lebenspartnerin und zwei­ten Ehefrau, der Malerin und Graphikerin Gisela Andersch. Auf der Grundlage gegen­sei­ti­gen Respekts und grösst­mög­li­cher Autonomie des Einzelnen pfleg­ten sie einen inten­si­ven künst­le­ri­schen Austausch über die Grenzen der lite­ra­ri­schen und bild­ne­ri­schen Diziplinen hin­weg.

Das Zürcher Literaturmuseum Strauhof wid­met die­sem bemer­kens­wer­ten Künstlerpaar eine ganz beson­de­re Ausstellung, die noch bis zum 2. März zu sehen ist.

In die­sem Jahr wären Alfred und Gisela Andersch 100 Jahre alt – das ist der äus­se­re Anlass der Ausstellung. Der zeit­ge­schicht­li­che Rahmen, ins­be­son­de­re die Zeit des Zweiten Weltkrieges und die Nachkriegszeit, hat das Leben und die Arbeit die­ser bei­den Künstler stark geprägt. Über ihre zeit­ge­schicht­li­che Bedeutung hin­aus sind vie­le ihrer Arbeiten auch heu­te noch von einer beein­drucken­den Frische und Gültigkeit, sofern man sich die Zeit und die Freiheit nimmt, sich mit ihnen aus­ein­an­der­zu­set­zen.

Da das Literaturmuseum Strauhof in einem barocken Wohnhaus des 17. Jahrhunderts behei­ma­tet ist, ver­teilt sich die Ausstellung auf meh­re­re Räume und über zwei Etagen. Man durch­wan­dert das alte Haus und mit ihm die ver­schie­de­nen, immer wie­der von gegen­sei­ti­ger Inspiration gepräg­ten und ein­an­der ergän­zen­den lite­ra­ri­schen und bild­ne­ri­schen Arbeitswelten von Alfred und Gisela Andersch. Die Eigenwilligkeit der Räume des klei­nen Museums trägt wohl­tu­end – und dem Metier der Literatur sehr ange­mes­sen – zur Entschleunigung bei: Sie lädt dazu ein, sich auf die in ihnen ein­ge­ni­ste­ten the­ma­ti­schen Aspekte der Ausstellung ein­zu­las­sen, zu ver­wei­len, zu lesen, sich zu kon­zen­trie­ren und nach­zu­den­ken.

Im Erdgeschoss beginnt die Ausstellung in einem lang­ge­streck­ten, schma­len Raum. Auf weni­gen Quadratmetern ver­mit­teln zunächst eini­ge Briefe und Fotografien einen Eindruck von Leben und wich­ti­gen gesell­schaft­li­chen Beziehungen des Künstlerpaars.

Ein paar Treppenstufen wei­ter beginnt das Reich der Kunst von Gisela Andersch: An den Wänden sind Ölbilder und Federzeichnungen zu sehen; in Vitrinen neben Presseartikeln zu ihrer Arbeit auch Ausstellungsbücher mit Dokumenten und Fotos ihrer Werke, die Alfred Andersch für sie ange­fer­tigt hat­te – und ein von ihr for­mu­lier­ter, selbst­iro­ni­scher Lebenslauf.

Gisela Andersch hat­te nach einer bild­haue­ri­schen Ausbildung zunächst gegen­ständ­lich gezeich­net und gemalt. Nachdem sie sich mit der bild­ne­ri­schen Lehre Paul Klees aus­ein­an­der­ge­setzt hat­te, ent­wickel­te sie seit den frü­hen 50er Jahren eine abstrak­te bild­ne­ri­sche Sprache, mit der sie im Bereich der kon­kre­ten Malerei eine sehr eige­ne, freie Position ein­nimmt.

Mit einer von Strenge und gleich­zei­ti­ger Offenheit gepräg­ten Haltung hin­ter­frag­te die Künstlerin unter ande­rem das Verhältnis von Rationalität und Emotionalität in der Kunst. Werke wie ihre in der Ausstellung gezeig­ten Federzeichnungen «Thema 1,2,3» und «Variationen zu 1,2,3» oder ihr eben­falls in der Ausstellung gezeig­tes Spiel-Objekt «Permutationen» expe­ri­men­tie­ren damit, bild­ne­ri­schem Schaffen mathe­ma­ti­sche Gesetzmässigkeiten zugrun­de zu legen, ohne aber dar­aus ein Programm oder eine Theorie abzu­lei­ten. In ihren abstrak­ten und zugleich poe­ti­schen «Achsenbildern», von denen eini­ge Ölgemälde klei­ne­ren Formats in der Ausstellung zu sehen sind, setz­te sie sich ab 1968 inten­siv mit dem Thema des Gleichgewichts aus­ein­an­der. Federzeichnungen wie die Serien der «Perfuga» und «Dorset» ver­su­chen, basie­rend auf dem Grundthema der Achsenbilder, gra­phi­sche Chiffren zu ent­wickeln, die den Charakter der Landschaften, nach denen sie benannt sind, abstra­hie­rend erfas­sen.

Arbeiten Gisela Anderschs waren an bedeu­ten­den Ausstellungen zu sehen; 1977 nahm sie auf Einladung des Kunsthistorikers Wieland Schmied an der damals von ihm gelei­te­ten Documenta in Kassel teil.

Im sel­ben Jahr ver­öf­fent­lich­te Alfred Andersch, der ihre Arbeit zeit­le­bens auf­merk­sam beglei­tet und unter­stützt hat, unter dem Titel «Einige Zeichnungen» eine Aufsatzsammlung, in der er sich der künst­le­ri­schen Arbeit sei­ner Partnerin mit lite­ra­ri­schen Mitteln anzu­nä­hern ver­sucht. Später schrieb er über die­se Texte, sie ent­hiel­ten noch ein­mal sei­ne «kom­plet­te Ästhetik». Peter Erismann, Kurator der Ausstellung, hat Anderschs Aufsatzsammlung erfreu­li­cher­wei­se als Teil des Ausstellungskatalogs noch ein­mal neu her­aus­ge­ge­ben. Einer die­ser Texte, «tête-à-queue», in dem Alfred Andersch die Entstehung des gleich­na­mi­gen Bildes von Gisela Andersch beschreibt, ist hier aus dem «off» zu hören, beglei­tend zur Betrachtung ihrer Bilder.

Mit den Zeichnungsserien der abstra­hier­ten Landschaften kor­re­spon­die­ren die Reisebücher im benach­bar­ten Raum, den man über ein paar durch die Seitenwand nach oben füh­ren­de Treppenstufen erreicht. 1958 war das Paar mit vier Kindern nach Berzona im Tessin umge­zo­gen. Auf der Grundlage gemein­sa­mer Reisen in den Norden, in ver­schie­de­ne Länder Skandinaviens bis in die Antarktis, oder in den Süden, bevor­zugt nach Italien, ent­wickel­ten sie eine inno­va­ti­ve Art von Reiseberichten aus lite­ra­ri­schen Landschaftsbeschreibungen, foto­gra­fi­schen Fragmenten, kul­tur­ge­schicht­li­chen und kunst­theo­re­ti­schen Reflexionen. Mit den Reisebüchern «Wanderungen im Norden» und «Hohe Breitengrade» ver­such­te Alfred Andersch auch eine Ästhetik der dor­ti­gen Naturphänomene zu for­mu­lie­ren. Seine Texte wur­den ergänzt durch abstrak­te Landschaftsfotografien Gisela Anderschs. An den Wänden des Ausstellungsraumes kon­tra­stie­ren eini­ge gros­se Abzüge ihrer Fotos von Spitzbergen in der Arktis mit zwei Kohlezeichnungen aus Italien und einer schwarz-weis­sen Fotoreihe Alfred Anderschs aus Sizilien. Vitrinen, die wie Tische in der Mitte des Raumes ste­hen, erlau­ben Einblicke in die Konzeption von Reisen und Reiseberichten; dar­un­ter auch Vorbereitungen für die im Auftrag des Deutschen Fernsehens von Alfred Andersch und Martin Bosboom rea­li­sier­te fil­mi­sche Dokumentation der Reise nach Spitzbergen.

Die Wanderung durch das Strauhof-Museum führt über eine gewun­de­ne Treppe wei­ter zum im Korridor des Obergeschosses in Vitrinen aus­ge­stell­ten lite­ra­ri­schen Werk Alfred Anderschs. Seine Erfahrungen mit den Ideologien des Nationalsozialismus und des Kommunismus in Deutschland und der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges ver­ar­bei­te­te der Autor in vier Romanen und meh­re­ren Erzählungsbänden. Nachdem er zwei­mal zum Kriegsdienst ein­ge­zo­gen wor­den war, hat­te er sich der deut­schen «Wehrmacht» 1944 durch Desertion ent­zo­gen. Sein 1952 erschie­ne­nes, erstes lite­ra­ri­sches Werk «Die Kirschen der Freiheit» setzt sich mit die­ser Zeit aus­ein­an­der und the­ma­ti­siert in einer Kombination auto­bio­gra­phi­scher und fik­ti­ver Elemente die Desertion als einen sar­tre­schen Moment der Freiheit. In sei­nen spä­ter ver­öf­fent­lich­ten Erzählungen und Romanen ist neben der Eigenständigkeit und Verantwortung des Einzelnen auch die zumin­dest theo­re­tisch immer vor­han­de­ne Vielfalt der Entscheidungsmöglichkeiten ein zen­tra­les Thema – und ihre Abhängigkeit davon, sie im eige­nen Denken zuzu­las­sen. Im klei­nen Café und Leseraum hat man Gelegenheit, bei einem Kaffee wei­te­re Lese-Kostproben aus Anderschs Büchern zu sich zu neh­men und viel­leicht auch gleich ein Buch zu kau­fen.

Nebenan kann man sich damit aus­ein­an­der­set­zen, wie Andersch sei­nen letz­ten Roman ent­wickel­te, der spä­ter auch ver­filmt wur­de. Basierend auf Kriegserlebnissen Gisela Anderschs in der Eifel, erzählt «Winterspelt» eine Liebesgeschichte, «umge­ben vom Sandkastenspiel eines Krieges, der jeder Krieg sein könn­te», wie Andersch spä­ter über die­sen Roman schrieb. Die kom­ple­xe Situation der fünf Hauptpersonen des Romans zwi­schen den Fronten der geg­ne­ri­schen Armeen kurz vor Ende des Krieges ver­such­te der Autor in einer mul­ti­per­spek­ti­visch frag­men­tier­ten Handlung lite­ra­risch zu fas­sen. Das 1930 ent­stan­de­ne Aquarell «Polyphon gefass­tes Weiss» von Paul Klee spielt dar­in eine wich­ti­ge Rolle: Einer der Protagonisten ver­sucht es durch den Krieg zu ret­ten. Zugleich war die­ses Bild aber auch Anderschs Inspirationsquelle dafür, wie er den viel­schich­ti­gen lite­ra­ri­schen Stoff sei­nes Buches mit­tels einer «poly­pho­nen Schnittechnik» ord­nen und orga­ni­sie­ren könn­te.

Die wie Arbeitstische in der Mitte des Raumes auf­ge­stell­ten Vitrinen zei­gen anhand exem­pla­ri­scher Arbeitsdokumente, wie Andersch sich das Buch erar­bei­te­te. Arbeitsschritte wie ein «Biogramm» der Hauptfigur oder ein «Aufsatz über die Liebe», der das Verhältnis der zwei Hauptfiguren beschreibt, oder auch der «Bauplan» sei­nes Romans – der kom­ple­xe Entwurf einer Struktur für die Kapitel von Winterspelt –, las­sen erah­nen, was für eine umfang­rei­che und prä­zi­se Arbeit in die­sem Buch steckt. Der Autor frag­men­tier­te die von ihm ent­wickel­ten Handlungsstränge und setz­te die Fragmente dann neu zusam­men zu einer «poin­til­li­sti­schen» Prosa, einer «Prosa mit Löchern» und einer offe­nen Handlung.

Die «Keimzelle» von «Winterspelt» war die Pastellzeichnung eines Eifeldorfes von Gisela Andersch sowie ein von ihr dar­aus ent­wickel­tes abstrak­tes Ölgemälde, «Häuser im Gespräch (Winterspelt dar­stel­lend)». Dieses wich­ti­ge Bild ist hier neben einer Kopie von Paul Klees Aquarell aus­ge­stellt. Ein Film über das gemein­sa­me Leben der bei­den Künstler im Tessin gibt auf einer wei­te­ren Ebene Auskunft über die Entstehung ihrer Arbeiten.

Die inno­va­ti­ve Tätigkeit Alfred Anderschs als Redaktor, Herausgeber, Radiomacher und Literaturvermittler, die wäh­rend sei­ner Kriegsgefangenschaft in den USA begann, nimmt in der Ausstellung einen wei­te­ren, letz­ten Raum ein. Zurück im kriegs­zer­stör­ten Deutschland initi­ier­te er zusam­men mit Hans Werner Richter die ersten Treffen einer offe­nen Gruppe jun­ger Schriftsteller, die spä­ter als «Gruppe 47» bekannt wur­de. Als Redakteur bei Radio Frankfurt, beim Hamburger NWDR und schliess­lich bis 1958 beim Stuttgarter SWR för­der­te Andersch die Arbeit die­ser und wei­te­rer bis dahin in Deutschland unbe­kann­ter Schriftsteller mit Lesungen und Publikationen ihrer Werke; er ver­sorg­te sie mit Aufträgen für Reiseberichte, Hörspiele und Features. Andersch ent­wickel­te mit aus­ge­präg­ter for­ma­ler Experimentierlust neue Radioformate wie «Hörbilder», in denen Reportagen, Musik, Lesungen und wei­te­re Ton-Aufnahmen col­la­giert wur­den. Gisela Andersch ent­warf für die von ihrem Mann ver­öf­fent­lich­ten oder her­aus­ge­ge­be­nen Publikationen prä­gnan­te, gra­phisch abstrak­te Erscheinungsbilder; etwa für die Buchreihe «Studio Frankfurt» oder die Literaturzeitschrift «Texte und Zeichen», die in der Ausstellung zu sehen sind und als deren Herausgeber er, gemein­sam mit den von ihm ent­deck­ten Autoren, Literaturgeschichte schrieb.

Wie sich Alfred Anderschs Radioproduktionen anhör­ten ver­mit­telt in der Ausstellung ein Ausschnitt aus einer Klangcollage der Radio-Bremen-Redakteure Walter Weber und Michael Augustin. Das Rahmenprogramm zur Ausstellung ergänzt am 4. Februar die­sen Aspekt: Dann prä­sen­tiert das Literaturhaus ein radio­pho­nes Portrait des Schriftstellers und inno­va­ti­ven Radio-Redakteurs Andersch, das von den­sel­ben Redakteuren ent­wickelt wur­de. Und schon am 1. Februar sen­det SRF2 Anderschs Hörspiel «Russisches Roulette».

Eine wei­te­re Kooperation der Ausstellungsmacher bestand in einem spe­zi­el­len Angebot der Zürcher Volkshochschule: Am 09. 01. hielt Prof. Dr. Beat Beckmann eine Vorlesung zum Thema: «Alfred Andersch – Deutsche Geschichte im Spiegel der Literatur. Zur Ausstellung im Museum Strauhof.» Der zwei­te Teil die­ser Veranstaltung bestand in einer höchst auf­schluss­rei­chen Führung durch die Ausstellung.

Alfred Andersch war der Meinung, über Kunst kön­ne man nur ange­mes­sen schrei­ben, indem man beschreibt, wie sie ent­steht. Er selbst hat das, wie erwähnt, in Bezug auf das Werk von Gisela Andersch ver­sucht. Die Ausstellung im Strauhof ori­en­tiert sich an dem sel­ben Prinzip und ver­an­schau­licht so noch ein­mal des­sen Wirksamkeit: Die Art und Weise, wie Peter Erismann und Annette Korolnik-Andersch die­se Ausstellung kura­tiert und in die Räume des Museums ein­ge­passt haben, eröff­net einen Zugang zu den viel­fäl­ti­gen Werken und Themen von Gisela und Alfred Andersch, der viel Anlass gibt, sich wei­ter mit der Arbeit die­ser bei­den Künstler aus­ein­an­der­zu­set­zen. Wer sich dafür inter­es­siert, wie aus einer inter­dis­zi­pli­nä­ren Kommunikation Neues gewon­nen wer­den kann, fin­det am Beispiel der Auseinandersetzung zwi­schen Gisela und Alfred Andersch wert­vol­le Anregungen von blei­ben­der Aktualität.

Einmal abge­se­hen davon, dass von die­ser ersten Etage des Museums aus eine wei­te­re Treppe dazu ver­füh­ren kann, auch die Welt des James-Joyce-Archivs zu erkun­den, gibt die Ausstellung eine kom­ple­xe Fülle von Anregungen: Das Literaturmuseum lei­stet eine viel­schich­ti­ge Vermittlungsarbeit, die über die kul­tur­hi­sto­ri­sche Dimension der Literatur hin­aus­geht. Ein Archiv oder eine Bibliothek könn­ten dies mit ein paar zusätz­li­chen Ausstellungsvitrinen nicht lei­sten, geschwei­ge denn eine Linksammlung im Internet.

Foto: zVg.
ensuite, Februar 2014