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Shitdetector Reloaded: Thesen zu Thesen

(Constantin Seibt) –

 

Letzten Monat stand hier die These, man müs­se in einem Text nur allen Unfug strei­chen. Der Rest habe auto­ma­tisch Stil.

Ein unge­lö­stes Problem, das etwa bei Thesen-Artikeln bleibt, ist der Selbstbetrug. Thesen sind qua­si die Schaben des Geistes: frucht­bar, gefräs­sig und fast unzer­stör­bar. Ihr Überlebensinstinkt ist erstaun­lich: Einmal im Haus fin­den sie über­all Indizien, Beispiele und Statistiken. Und sind prak­tisch immun gegen­über Gegenindizien, Gegenbeispielen und Gegenstatistiken.

Das pas­siert auch auf­ge­räum­ten Köpfen. «Eine gefass­te Hypothese gibt uns Luchsaugen für alles sie Bestätigende, und macht uns blind für alles ihr Widersprechende», schrieb Schopenhauer.

Dazu müs­sen Thesen pro­du­zie­ren­de Journalisten Blamagen nicht fürch­ten. Denn sie haben einen mäch­ti­gen Verbündeten: die Altpapierabfuhr. Kaum jemand liest ihre Artikel eine Woche spä­ter, geschwei­ge denn einen Monat oder ein Jahr. Auch nicht im Netz. Die Flut des Neuen deckt das Alte.

Und die Sofortkritik der Leser lie­fert kei­ne kla­re Erkenntnis, was Quark war und was nicht. Test 1 (für Opportunisten) ist: Wird die­se These all­ge­mein geteilt? Nur irrt das Publikum manch­mal, manch­mal aber auch nicht. Test 2 (für Wirkungs-Opportunisten): Regt die These mög­lichst vie­le Leute auf? Doch auch der klappt nicht. Thesen soll­ten scharf sein, sicher. Nur besagt die Schärfe einer These noch nichts über ihre Qualität. Scharfe Gewürze tar­nen gern ver­dor­be­nes Fleisch.

Unfug im eige­nen Kopf

Wie also kommt man sich auf die Schliche? Dringender Verdacht auf min­der­wer­ti­ge Ware besteht bei fol­gen­den Genres:

Thesen obi­ger Art stim­men meist so wie jene der Astrologin Teissier: alle irgend­wie halb und im Rückblick eigent­lich nie. Blödsinn schreibt man meist in fol­gen­den Fällen: 1. Wenn das Sample zu gross ist. (Also wenn man über die Frauen, die Männer, die Schweizer, den Staat, den Markt etc. schreibt.) 2. Bei Endgültigkeit: Fallbeil und Heiligsprechung klap­pen fast nie. Manager des Monats sind häu­fig die Gefeuerten im näch­sten Jahr; Tote ste­hen mit Zombiefilm-Regelmässigkeit wie­der auf; Trends sind gedruckt fast immer die Trends von gestern.

Das Gegengift

Was also tun? Mit Schweigen sind Sie auf der siche­ren Seite; aber das ist kei­ne Option. Schon, weil die gesell­schaft­li­che Debatte sich nicht in Wahrheiten, son­dern in Windungen bewegt: Echte Themen kom­men wie­der und wie­der. Und ver­än­dern sich von Runde zu Runde. Es ist okay, mit sei­nem Stand des Irrtums dabei zu sein.

Meine Faustregeln wären fol­gen­de:

  1. Die mecha­ni­sche Methode bei einer Thesenrecherche ist, die stärk­sten Gegenargumente zu recher­chie­ren. Das pas­siert aber zuge­ge­ben mei­stens, um die­sen am Anfang des Artikels den Hals umzu­dre­hen. WARNUNG: Dies ist eher ein Versicherungsinstrument als eines der Wahrheitsfindung.
  2. Weit inspi­rie­ren­der ist es, sei­ne These ein­fach so in der Gegend mäan­drie­ren zu las­sen. In Gesprächen mit Fachleuten, Praktikern, Journalistenkollegen, mit Freundin oder Freund, der eige­nen Mutter. Ziel die­ser Recherche ist vor allem eines: zu prü­fen, ob man nicht einen rie­si­gen Gorilla im Raum über­se­hen hat. So wie etwa die Wirtschaftsjournalisten die anrol­len­de Finanzkrise über­sa­hen. Die Details ihrer Artikel stimm­ten alle, nur die Artikel nicht. (Hier ein Einstieg zu Unaufmerksamkeitsblindheit und hier das Video eines unsicht­ba­ren Gorillas.)
  3. Schlechte Redaktionen ver­lan­gen vor der Recherche eine These; gute eine Frage. Es ist immer klü­ger, nicht mit einem Ergebnis ein­zu­stei­gen, son­dern mit einem Fragezeichen. Perfekt, wenn die Frage so offen wie mög­lich ist. Aber selbst wenn Sie bedau­er­li­cher­wei­se von etwas über­zeugt sind, ist die Frage frucht­ba­rer als die Behauptung. Also nicht: «Die Orks sind Schurken.» Sondern: «Warum sind die Orks Schurken?» Oder: «Warum sind die Orks so uner­folg­rei­che Schurken?»
  4. Im Zweifel gilt: Bei einem wirk­lich guten Thesen-Artikel muss sich die Lektüre loh­nen, selbst wenn die These falsch ist. Wegen der Anekdoten. Der Formulierungen. Der Eleganz der fal­schen Argumentation. Wenn man schon Irrtümer ver­brei­tet, dann wenig­stens fun­keln­de.
  5. Eine auch im Irrtum loh­nen­de These ent­steht fast immer durch die rich­ti­ge Distanz. Sie gehen ganz nah ran und schil­dern, wie eine Sache kon­kret ablief: Sie lie­fern eine Fallstudie. Oder Sie fra­gen sich, was das Ganze unter dem Spiegel des Universums bedeu­tet. Und sehen die Sache mit einem lan­gen Blick wie vom Mars an. Platte Thesen sind fast immer auf Halbdistanz gedacht. Denken ist Bewegung.
  6. Im zwei­ten Zweifel gilt: Irrtümer, die bereits weit ver­brei­tet sind, soll­te man nicht wie­der­ho­len. Irrtümer, die kei­ne Lobby haben, sind einen Versuch wert. Sie brin­gen die Kundschaft zum Denken. Und das gefahr­los. Denn dass Leser wegen eines Artikels die Meinung wech­seln, müs­sen Sie nicht fürch­ten. Das Publikum hat auch nur Schaben im Kopf.

Ich gebe zu: Das ist nicht gera­de viel. Aber Sauberkeit ist in einem Beruf, der sich mit der Welt beschäf­tigt, nicht gege­ben. Ihr Job ist schlicht, den gröb­sten Unfug nicht zu schrei­ben. Das genügt.

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Dieser Beitag wur­de auto­ma­tisch per RSS auf unse­re Webseite gestellt. Der Originaltext ist über den Tagesanzeiger, dem Blog von Constantin Seibt – http://blog.tagesanzeiger.ch/deadline – zu fin­den.