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Seit eh und je Akrobatik

Von Peter J. Betts – Seit eh und je Akrobatik auf dem Seil, ohne Netz: «Alles kann pas­sie­ren. Weg! Etwas Neues suchen. Eine neue Identität auf­bau­en. Immer wie­der. Schön ist, wenn man neu­gie­rig sein kann. Als Grundhaltung.» Das sagt eine jun­ge Frau, die als bestim­men­de Gefühle ihrer Kindheit Sicherheit, Interesse, Nähe und Vertrauen ohne Einengung, das Aufwachsenkönnen in Ruhe, Halt, Unterstützung erlebt und mit­ge­nom­men hat. Auch dezi­dier­ter Widerstand, fai­rer Kampf wäh­rend der Pubertät tru­gen dazu bei. Als sie ihren Berufswunsch, Keramikerin, ver­wirk­li­chen woll­te, wur­den Ängste vor einer wahr­schein­lich brot­lo­sen Zukunft laut. Die Ausbildungsziele im gestal­te­ri­schen Vorkurs ver­trie­ben die Zweifel. Im Oktober 2012: Beginn der fünf­jäh­ri­gen Zweitausbildung in Leipzig an der alt­ehr­wür­di­gen «Hochschule für Graphik und Buchkunst» in der Abteilung für Medienkunst. Sie? Rahel Zaugg. Zuerst bin ich nicht ihr, son­dern einer ihrer Arbeiten begeg­net. In Bern, an der Münstergasse, im Blumenladen von Melanie JeanRichard. Mein Blick fiel auf ein Objekt, das ich vor­erst als Dornenkrone wahr­nahm, aller­dings weiss, aller­dings dis­kret glän­zend. «Das kann doch nicht Porzellan sein», dach­te ich und nahm die Hand vor­sich­tig zu Hilfe. «Doch, ein­deu­tig Porzellan. Wie kann man Porzellan so ver­ar­bei­ten, dass das Gebilde aus­sieht, wie ein aus fei­nen Zweigen gefloch­te­ner Kranz?» – «Häb Sorg zum fyne Pozellan!», ging mir durch den Kopf. Eine Lebensregel, die ich in mei­ner eige­nen Kindheit oft gehört hat­te. In der Tat, Porzellan ist zer­brech­lich, selbst schein­bar robu­ste Isolatoren an Hochspannungsmasten zer­split­tern, wenn man sie mit einem Flobert-Geschoss erwischt. Doch die Lebensregel war als Metapher auf an sich Zerbrechlicheres aus­ge­rich­tet: auf Liebe und Vertrauen bei­spiels­wei­se. «Dornenkronen – zer­brech­lich?», oder: «Kränze trot­zen auf Friedhöfen über Wochen dem Wetter – ein etwas hilf­lo­ser Versuch, Unvergänglichkeit zu sug­ge­rie­ren.» – «Wie, zum Kuckuck macht man so etwas?». «Der Grundgedanke ist ein­fach: man flicht einen Kranz aus Zweigen – gehört eigent­lich zur spie­le­ri­schen Praxis in einem Blumenladen, man kann, wenn man sich die Liebe zur Sache bewah­ren will, sei­nen Einsatz nicht nur auf das gän­gig Verkaufbare aus­rich­ten –, dann taucht man den Kranz in die flüs­si­ge Porzellanmasse, lässt ihn trock­nen, wie­der­holt, wenn nötig, den Vorgang, brennt, gla­siert und brennt noch­mals. Gedanklich sehr ein­fach, aber die Ausführung ist hei­kel: bei jedem Versuch ist der mög­li­che Absturz, zum Beispiel im Brennofen, immer wie­der gegen­wär­tig.» – «Aber sind Sie denn auch Keramikerin?» «Nein, es war das Ergebnis eines inter­es­san­ten Experimentes aus mei­ner Zusammenarbeit mit Rahel Zaugg.» Rahel Zaugg, also Keramikerin. Punkt? Geboren im Aargau, in der Nähe, wo Aare, Reuss, Limmat zusam­men­flies­sen, in Gebenstorf, hat sie in Aarau den Vorkurs, dann wäh­rend vier Jahren die Fachklasse für Keramikdesign in Bern besucht. Keramikerin. Sie hat Praktika in der Theaterassistenz des Kinder- und Jugendtheaters «Zamt und und Zunder» in Baden und im Keramikatelier Christine Burch in Rheinfelden absol­viert. Vielseitig inter­es­siert? Offen? Akrobatik ohne Netz? Nach ihrem Abschluss an der Schule für Gestaltung hat sie sich ihren Lebensunterhalt und den Aufwand für ihre Arbeit als Keramikerin sel­ber ver­dient: unter ande­rem im Service (Gastgewerbe) und als Bauarbeiterin («Meine schön­ste und anre­gend­ste Arbeit beim Bau war das Führen eines Baggers: dort lernt man drei­di­men­sio­nal vor­aus zu den­ken.»), aus­ser­dem als Lehrer-Stellvertreterin in gestal­te­ri­schen Fächern, und natür­lich mit Verkäufen ihrer Produkte (bei­spiels­wei­se hat sie die gan­ze Serie der «Hinterlassenschaften» ver­kauft). Melanie JeanRichard weist auf ein ande­res Objekt hin: ein ziem­lich volu­mi­nö­ses Gebilde, auch aus Porzellan; ein – Gefäss, das mit Sicherheit kei­ne Flüssigkeit wird ber­gen kön­nen: von oben bis unten durch­lö­chert: ein Gefäss? Rahel Zaugg sagt dazu spä­ter: «Meine Grossmutter hat mir das Stricken bei­gebracht. Bei die­ser Arbeit, einem fünf­tei­li­gen Ganzen, gibt es vier etwa gleich­gros­se Elemente und ein grös­se­res. Das Grosse steht für Grossmutter Ida, die vier Kleineren für mei­ne Familie. Es han­delt sich um gestrick­tes Gewebe, das, in Porzellan getaucht, gebrannt wird. Das Grundmaterial ist Haushaltschnur. Grässlich, wie Haushaltschnur im Brennofen stinkt. Grossmutter hat auch beim Stricken mit­ge­hol­fen, sie hat übri­gens das fer­ti­ge Produkt vor ihrem Tod auch noch sehen kön­nen. Beim gros­sen Gefäss hat ein Velo-Rad mit sei­nen Speichen als Stütze gedient.» Auch hier: eine Inszenierung? Nur eine kera­mi­sche Arbeit? Hommage an den Halt in der Familie, der Grundlage, die ihr Lebensenergie und den Willen, ihren Mut zu rea­li­sie­ren, ihre Schöpfungskraft, ihren Sinn für Sinn ermög­licht hat­te? «Ida bit­tet zu Tisch», heisst die Arbeit. Keramische Objekte fern von jeg­li­cher Funktionalität? Heile Welt? Kaum. Zu einer ande­ren Serie von Figurengruppen, «Mortal Sins», schreibt Rahel Zaugg: «Verschiedene Szenen aus Porzellan, die einen Einblick in eine etwas ande­re Welt ermög­li­chen. Gartenzwerge, Symbole des Guten und der Bürgerlichkeit, ver­wan­delt in ein Mahnmal mensch­li­cher Grausamkeit und schein­hei­li­ger Freundlichkeit. Die Figuren wer­den durch ihre Gleichfarbigkeit zu iden­ti­täts­lo­sen, kon­for­men Wesen, die sich in ihrer gan­zen Bösartigkeit in der Masse tar­nen.» Artgenossen zu Tode quä­len, erzwun­ge­ner ana­ler Geschlechtsverkehr – bei­des unter Gelächter der lüstern zuschau­en­den Artgenossen –, der besin­nungs­los Besoffene im Strassengraben. Güte der Bürgerlichkeit? Hier: sicher auch kei­ne hei­le Welt. Ebenso wenig bei «Hinterlassenschaft», den drei­di­men­sio­na­len Kleinporträts von Nutztierhinterteilen mit der inter­es­san­ten Materialbeschreibung: «Porzellan, Bilderrahmen, Gold, Stoff», den Namen sowie Lebensdaten der Porträtierten und dem lako­ni­schen Werk-Kommentar: «Der Teil, der viel zu wenig Beachtung fin­det. Der Teil, der stinkt. Der Teil, der scheisst. Hinten ist vor­ne, und Scheisse wird zu Gold. Verkehrte Welt.» Aber: eine rea­li­sti­sche Umsetzung unser aller Realität. Und Politiker/innen sowie Leute aus den höhe­ren Managements las­sen sich ger­ne von vor­ne ablich­ten – mit ver­trau­en­er­wecken­dem Lächeln: kei­ne Nutztiere, kei­ne Goldscheisser, sie nut­zen. Nicht weni­ger aus­sa­ge­kräf­tig sind Frau Zauggs Fotoarbeiten, die Performances, die com­pu­ter­be­ar­bei­te­ten Collagen. Ein ehr­li­ches Nachdenken über ihre höchst unter­schied­li­chen Arbeitsweisen und Produkte kann zu einer Reise ins Innere der Betrachtenden füh­ren. In der wohl älte­sten Kunstschule Deutschlands will Rahel Zaugg Medienkunst stu­die­ren. Meiner Ansicht nach bringt sie die aller­be­sten Voraussetzungen mit, ihre Ziele zu errei­chen. Ich zitie­re aus ihrer «Motivation» in den Bewerbungsunterlagen: «… ich will wei­ter gehen, tie­fer ein­tau­chen. Ich will ver­sin­ken, mir neue Welten öff­nen … … Ich will die Welt ken­nen ler­nen. Ich will mich ken­nen ler­nen. … Ich will Kultur. Ich will Geschichte. Ich will Geschichten erzäh­len. Ich will den Raum spü­ren, bespie­len … … Ich will wei­ter, nie ste­hen blei­ben. … … Ich will ler­nen. Ich will Medienkunst stu­die­ren.» Viel Glück! Akrobatik auf dem Seil, ohne Netz. Über Leipzig sagt sie unter ande­rem, vie­le Künstlerinnen und Künstler aller Sparten sei­en dort tätig, arbei­te­ten zusam­men; es gebe viel Raum zum Arbeiten, auch gemein­sam; die Stadtverwaltung sei aktiv inter­es­siert, neue, gewag­te Projekte zu unter­stüt­zen, auch mit Infrastrukturen und Bewilligungen, ohne Misserfolg zu bestra­fen. Politik der Kultur und Kultur der Politik im Austausch auf Augenhöhe? Eine Kulturpolitik, die mit Weitblick, Lebensfreude, Engagement die Politik der Kultur, somit die Gegenwart für die Zukunft nutzt? Und hier in Bern hat ein Blumenladen wich­ti­ge Starthilfe gelei­stet.

Foto: zVg.
ensuite, November 2012