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Schwitters Angewandt

Von Fabienne Naegeli – Haenni/Küchler/Reifler col­la­gie­ren «Anna Blume»: Sie hängt im Raum drei des Kunstmuseums Bern als Aquarell mit Farbstift auf Papier. Einige Monate zuvor konn­te man sie im Sprengel Museum in Hannover, der Heimatstadt ihres Erschaffers und Liebhabers, bestau­nen.

Oh Du, Geliebte mei­ner 27 Sinne, ich lie­be Dir!
Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir, —- wir?
Wer bist Du, unge­zähl­tes Frauenzimmer?
Du bist, bist Du?
Die Leute sagen, Du wärest.
Lass sie sagen, sie wis­sen nicht …
Symbolisch durch ein rotes Herz in der Flasche hat er sie 1919 dar­ge­stellt und drei­fach ange­schrie­ben ‚Anna Blume‘.
Du bist von hin­ten, wie von vor­ne:
«A —- N —- N —- A».
Anna Blume ist die Stimmung, direkt vor und direkt nach dem Zubettegehen.
Anna Blume ist die Dame neben Dir.
Anna Blume ist das ein­zi­ge Gefühl für Liebe, des­sen Du über­haupt fähig bist.
Anna Blume bist Du.

Ihr gegen­über mit stei­fem Kragen und einem rotie­ren­den Dada-Rad an der Brust sie treff­si­cher wie Amors Pfeil in den Blick neh­mend «Ich», Kurt Schwitters (1887–1948), der Revolutionär der Collage und damit Vorreiter der Installationskunst, der Recycling-Poet und Begründer der MERZ-Malerei. 1918 lern­te Schwitters die Dadaismus-Bewegung und eini­ge ihrer VertreterInnen (Hans Arp, Georg Grosz, Raoul Hausmann, Hannah Höch) ken­nen. Im sel­ben Jahr ent­stan­den erste Bilder aus ver­schie­den­sten vor­ge­fun­de­nen Materialien wie Zeitungsauschnitten, Reklame oder Metallstücken, soge­nann­te Collagen, die er 1919 in Herwarth Waldens Galerie «Der Sturm» in Berlin unter dem Begriff MERZ-Kunst prä­sen­tier­te. MERZ, ent­stan­den aus dem Wort «Commerzbank», das Schwitters zer­schnitt, bedeu­tet die Schaffung von abstrak­ten Kunstwerken. Abstraktion im Sinne Schwitters heisst, dass hete­ro­ge­ne Materialien aus ihrem Herkunfts- und Funktionszusammenhang geris­sen und auf­grund ästhe­ti­scher Überlegungen rhyth­misch zuein­an­der in Beziehung gesetzt wer­den. Damit ver­liert das Material sei­ne ursprüng­li­che Bedeutung, wird neu gestal­tet, ver­frem­det und hat die Möglichkeit etwas ganz ande­res zu wer­den. Für die Entwicklung von Schwitters MERZ-Konzept, das er 1919 in einem pro­gram­ma­ti­schen Text in der Zeitschrift «Der Sturm» ver­öf­fent­lich­te, ist das Medium der Zeichnung ent­schei­dend. Diesem wid­met das Kunstmuseum Bern eine Überblicksausstellung mit dem Titel «Anna Blume und ich». Von den künst­le­ri­schen Anfängen bis zu Schwitters Tod ent­stan­den kon­ti­nu­ier­lich rea­li­sti­sche wie auch abstrak­te Zeichnungen, die ver­schie­de­ne Stilrichtungen umfas­sen. Schwitters ver­wen­det die Zeichnung nicht in kon­ven­tio­nel­ler Weise, als Kunst des Anfangs zwecks Entwurf oder Vorstudie für bei­spiels­wei­se ein Gemälde, son­dern als Experimentierfeld, für exak­te Studien der Natur, als Inspirationsquelle und zur Entwicklung einer neu­en Formsprache. So ent­stan­den neben gegen­ständ­li­chen Arbeiten wie Landschaften, Porträts und Stillleben Abstraktionen, die, los­ge­löst von der Legitimation durch die Realität, zweck­frei, von den Mitteln aus­ge­hen und sowohl dem Dadaismus als auch dem Konstruktivismus zu zurech­nen sind. Mit sei­nen zeich­ne­ri­schen Werken über­schrei­tet Schwitters tra­di­tio­nel­le Gattungsgrenzen. Sie ent­hal­ten auf­ge­kleb­te Sätze, geschrie­be­ne oder gestem­pel­te Wörter. Analog dazu wer­den sei­ne Gedichte durch die spie­le­ri­sche Anordnung teils fer­ti­ger Satzfragmente aus Zeitungen oder von Werbeplakaten, durch den Bruch gram­ma­ti­scher Regeln, Wortneuschöpfungen und ‑wie­der­ho­lun­gen, oder durch die Verwendung von Paradoxien zu klang­li­chen und zeich­ne­ri­schen Kompositionen, die die lite­ra­ri­sche Gattung der Lyrik iro­ni­sie­ren. Anstelle eines Sinnzusammenhangs öff­nen sich absur­de, gro­tes­ke und «unsin­ni­ge» Assoziationsfelder. Die Collage-Technik, die Schwitters zur Konstruktion sei­ner Texte und Schaffung sei­ner Bilder ver­wen­de­te, benut­zen Haenni/Küchler/Reifler in ihrer Performance «Man neh­me kurz alles. Schwitters Materialkunst als Kunstmaterial» über das im bild­ne­ri­schen und lite­ra­ri­schen Werk Schwitters immer wie­der in unter­schied­li­chen Variationen auf­tau­chen­de «Anna Blume»-Motiv, des­sen Bedeutung unklar ist und sich jeder Sinnzuschreibung ent­zieht. Machte Schwitters aus Werbetexten Kunst, machen Haenni/Küchler/Reifler aus Schwitters Kunst Werbung und befra­gen mit dem popu­lä­ren Mythos «Anna Blume» den Umgang kom­mer­zi­el­ler Institutionen und Kultursponsoren mit Kunstwerken.

1. Who the f*** is Anna Blume?
2. Why do you care?
3. Want to buy a T‑Shirt?

Foto: zVg.
ensuite, Januar 2012