Von Nicola Schröder – Die Kunstform von Cindy Sherman wird für sich genommen im Zeitalter des «Selfie» bei einer Erstbegegnung möglicherweise niemanden mehr überraschen. Unter dem Titel «Untitled Horrors» vermittelt das Kunsthaus Zürich allerdings aktuell in einer grossen Retrospektive nicht nur recht verstörendes Bildmaterial, sondern auch, warum man bei der Einordnung eines jeden Fotos, bei dem ein Künstler zum Selbstauslöser greift, heute kaum mehr an einem Verweis auf Cindy Sherman vorbeikommt. Tatsächlich ist die scheue US-Amerikanerin mit ihren Selbstaufnahmen in wechselnder Kostümierung über die letzten vierzig Jahre zu einer der wichtigsten Positionen der Gegenwartskunst aufgestiegen.
Über zahlreiche thematische Serien hinweg scheint sie sich in ungeheurer Konsequenz und mit grossem Einfallsreichtum nun schon seit den 1970ern immer wieder neu zu erfinden. Ihre Ansätze reichen vom Dokumentationscharakter über das Groteske, Bedrohliche und Abstossende bis hin zum Albtraumhaften. Sie bedient sich der Mutation und Fragmentierung. Aus allem mag der Eindruck einer gespaltenen, wenn nicht sogar gebrochenen Persönlichkeit der Frau hinter all diesen Facetten entstehen. Doch schon die ältesten Schwarzweissaufnahmen zeigen, dass es vor allem Hülsen und Stereotype sind, mit denen Sherman in ihren Verwandlungen arbeitet. In einer grossen Überspitzung und Verzerrung der jeweiligen Rolle erzeugt sie Distanz in alle Richtungen, sowohl zwischen der eigenen Person und dem Konterfei, als auch jeweils zum Betrachtenden hin. In Bezug zum «Selfie» als Gesellschaftsphänomen wirken diese Bilder wie wortlose Kommentare zu einer Kultur der Selbstbetrachtung und Selbstinszenierung, hinter deren Fassade wie in jedem menschlichen Zeitalter auch Elend, Schmerz, Gewalt und Gier liegen. Entsprechende Ur-Triebe und Phantasien werden schonungslos ins Bild gesetzt. Alternde Diven, melancholisch wirkende Clowns und überschminkte Starlets gehören hier zum harmloseren Teil – zerstückelte Frauenleiber, überdimensionale Kunststoffgenitalien und verschimmeltes Erbrochenes zum eher schwer Verdaubaren.
Die Kuratoren bezeichnen die Retrospektive, die auch in Oslo und Stockholm Station macht, selbst als «Risikoausstellung». Mit ihren expliziten Inhalten, abstossenden, existenziellen und sexuellen Aspekten ist sie so auch wohl nur auf europäischem Boden denkbar – die Retrospektive in Shermans Heimat New York ist zuletzt erwartungsgemäss bedeckt ausgefallen. In der Schweiz aber scheint Sherman inzwischen derart im Kanon angekommen, dass selbst über den quasi «nicht zu bezeichnenden Horror» verhältnismässig wenig Empörung aufbrandet. Vielmehr kam es sogar schon zur Umkehr und man versucht nun von Kritikerseite, Erklärungen für eine sogar an sich selbst empfundene Dickfelligkeit zu finden.
Nun zeigt der Rückblick mit Arbeiten aus allen Schaffensperioden, dass Sherman von Beginn an über die Grenze des gesellschaftlich Tolerierbaren gegriffen hat. Es wird daraus auch deutlich, wie stark sich diese Grenze in den letzten Jahrzehnten verschoben hat. Es ist kaum noch vorstellbar, dass seinerzeit schon die Selbstablichtung einer Frau aus dem Rahmen der Anständigkeit fiel. Das Werk Shermans kann demnach auch als Langzeitprojekt angesehen werden, was vor allem über die ungewohnte Hängung der Schau deutlich vermittelt wird. Sie wurde mit der Künstlerin zusammen erarbeitet und zeigt die Werke für einmal nicht chronologisch oder nach Gruppen geordnet. Die Anlage soll «kaleidoskopartig» sein. So sind neue Formen der Hängung und noch nicht dagewesene Kombinationen entstanden; verschiedene Blickachsen lassen Werke immer wieder anders zusammen sehen. Aber vor allem wird die immense Kontinuität im Werk Shermans so erst richtig deutlich. Ihr kontinuierlicher Blick auf weibliche Rollen und Schicksale ist dabei inspirierend wie erschütternd, das jeweilige Verhältnis vom Betrachtenden selbst abhängig. Hat man beispielsweise die im Migros Museum für Gegenwartskunst stattfindende Ausstellung von Teresa Margolles gesehen, die sich mit Frauenmorden in Mexiko befasst und dazu mit nicht weniger als dem originalen Leichenwasser arbeitet, liegen spezifische Assoziationen auf der Hand.
Doch die ganze Schau im Kunsthaus wirkt darauf angelegt, viel mehr Aspekte wie das Künstlerische und die Inszenierung herauszustreichen und es scheint gelungen, dass diese auch als Abstandhalter zum wahren Grauen fungieren. Entsprechend findet man Shermans Werk beinahe schon auf einer Metaebene wieder. Tatsächlich stellt sie ein Stück Kunst- und Fotografiegeschichte vor und verbildlicht dies selbst auch noch anschaulich. Der Zeitraum reicht von der Analogfotografie mit dem Selbstauslöser am Kabel bis hin zur Digitalaufnahme. Viele Nachahmer und Interpreten ihres Vorgehens sind in dieser Zeit auf den Plan getreten. Manch einer wird dabei noch nicht einmal um Sherman wissen, weil die Idee der Selbstfotografie und Kostümierung so zeitgemäss und aktuell ist, dass sie für viele heute wie naheliegend erscheint.
Cindy Sherman – Untitled Horros
Kunsthaus Zürich, Heimplatz 1, 8001 Zürich
www.kunsthaus.ch
Bis 14. September 2014. Mit Katalog
Bild: Cindy Sherman, Untitled #153, 1985, Chromogener Farbabzug, 170,8 × 125,7 cm.
© Cindy Sherman. Courtesy of the artist and Metro Pictures, New York
Publiziert: ensuite Nr. 140, August 2014