Schiessen auf die Zukunft

Von

|

Drucken Drucken

Von Patrik Etschmayer - Wir mach­ten uns hier lan­ge über die Vernarrtheit der US-Amerikaner in Schusswaffen lustig und waren immer wie­der schockiert, wenn ein wei­te­rer Amoklauf wahl­los Tote und Verletzte for­der­te. Doch die Geschichte ändert sich: Nun sind auch in Europa die Waffenbesitzer im Vormarsch, die per­ma­nen­te Angst im Visier.

2016 sei­en in der Schweiz je nach Kanton ‒ von jenen, die Zahlen ver­öf­fent­li­chen ‒ zwi­schen 10 und 30% mehr Waffen ver­kauft wor­den als im Vorjahr. Auch unser Nachbarland Österreich rüstet auf. Die Angst geht um. Wobei man sich fra­gen muss, wovor. Denn total gehen die Zahlen der Gewaltopfer ten­den­zi­ell zurück ‒ und dies bei stei­gen­der Bevölkerungsdichte. Vermutlich war das Leben rein sta­ti­stisch gese­hen noch nie so sicher wie heu­te. Zumindest in unse­ren Breiten.

Daran ändern auch Flüchtlinge und ande­re Immigranten nichts.

Vermutlich geht von den immer zahl­rei­che­ren Schusswaffen für deren Besitzer und die Öffentlichkeit eine grös­se­re Gefahr aus als von all den Faktoren kom­bi­niert, die mit die­sen gebannt wer­den sol­len. Rational ist die Aufrüstung jeden­falls nicht zu begrün­den.

Darum mal die grund­sätz­li­che Frage: Warum haben wir wirk­lich Angst? Wovor? Vor wem?

Denn die Gesellschaft hat eine Angststörung. Um es mal ganz klar zu sagen. Vor allem die Älteren unter uns sor­gen sich um die Zukunft, ja, um die Gegenwart. Und genau unter jenen befin­den sich beson­ders vie­le der neu­en Waffenbesitzer.

[wc_quick_donation]

Bedrohliche Erlebnisse durch­lit­ten dabei nur die wenig­sten. Und wenn, dann meist Second-Hand-Horror wie Terroranschläge, deren Ablauf wir dut­zend­fach im Internet und den News ein­ge­häm­mert bekom­men. Doch selbst die­se Ereignisse sind nur die Spitzen des Angstberges. Die stän­di­ge Bewirtschaftung unse­rer Befürchtungen kom­bi­niert mit der Realität, dass die Zukunft nicht mehr das ist, was uns einst ver­spro­chen wur­de, tra­gen zu die­sem unsicht­ba­ren, aber dif­fus spür­ba­ren Fundament der Vollzeit-Panik ent­schei­dend bei.

Renten, deren Höhe Jahr für Jahr nach unten kor­ri­giert wird, Arbeitslosigkeit, die stark unter jenen gras­siert, wel­che die Fünfzig hin­ter sich haben, der dro­hen­de sozia­le Abstieg kom­bi­niert mit einer Wirtschaft, die sich in einer atem­be­rau­ben­den Geschwindigkeit wan­delt, die gan­ze Industrien ver­wü­stet zurück- und neue ent­ste­hen lässt, die vie­len so fremd erschei­nen wie Klingonisch. Dazu kommt die Filterblase der sozia­len Netzwerke, in denen sich vie­le der «Wutbürger», die aber viel mehr «Angstbürger» heis­sen soll­ten, auf­hal­ten und dort ihre emp­fun­de­nen Ängste 1000-fach bestä­tigt fin­den.

Alle dort ver­han­del­ten – selbst erfun­de­nen … ja, vor allem die selbst erfun­de­nen – Gewalttaten tra­gen zur 360-Grad-Drohkulisse bei. Und sei­en wir ehr­lich, noch bes­ser, als im dunk­len Wald zu sin­gen, ist es, eine Automatik mit mög­lichst gross­zü­gi­gem Kaliber bei sich zu haben. Das Gefühl, nicht mehr hilf­lo­ses Opfer, son­dern pro­ak­ti­ver Aktor, ja, womög­lich Rächer der Unschuldigen, der Angegriffenen und Bedrohten zu sein, ver­än­dert Selbstverständnis und Selbstbild nach­hal­tig.

Blöd nur, dass die Knarre die Welt nicht bes­ser zu machen ver­mag und der «schwar­ze Mann» vor allem fleisch­ge­wor­de­nes Symbol der Angst ist. Die bedroh­ten Arbeitsplätze kön­nen eben­so wenig mit einer Schusswaffe beschützt, wie die Renten damit gesi­chert wer­den. Und auch Flüchtlingsströme ver­mag eine Schusswaffe nicht auf­zu­hal­ten. Die gan­zen Umbrüche in der Gesellschaft, die dro­hen, die Gegenwart in eine Zeit der Erwerbslosigkeit und das Alter wie­der in eine der Armut zu ver­wan­deln, sind mit einer Waffe eben­so wenig auf­zu­hal­ten wie die unvor­her­seh­ba­ren tech­ni­schen Umbrüche, die mit immer höhe­rer Frequenz über uns her­ein­bre­chen und gan­ze Berufszweige eli­mi­nie­ren.

So sind die immer zahl­rei­che­ren Waffen das Liedlein im Wald, ein Lied, das unter­des­sen im viel­stim­mi­gen Chor ange­stimmt wird. Sie sind Symbol dafür, die Bedrohung nicht ein­fach hin­zu­neh­men, auf­zu­ste­hen gegen das, was einen unter­krie­gen will, bis zur letz­ten Konsequenz. So sehr eine Knarre auch das Selbstgefühl wie­der auf­zu­rich­ten mag, so lach­haft ist die­ses Bestreben in der Realität, so gering der tat­säch­li­che Nutzen und so gross die zusätz­li­che Gefahr, die von die­sen Waffen aus­geht. Man muss nur die US-Statistiken anschau­en, nach denen in jedem Jahr mehr Menschen durch Kleinkinder mit Waffen umkom­men, als Menschen durch isla­mi­sti­sche Terroristen ster­ben, und wo die zur Verteidigung der Familie gekauf­ten Waffen nicht sel­ten und end­gül­tig gegen genau die­se gerich­tet wird.

Wobei es sich zynisch sagen lässt, dass dann­zu­mal die Angst abschlies­send und end­gül­tig besiegt, das Ziel mit­hin erreicht wor­den ist. Fragt sich nur, ob das auch im ursprüng­li­chen Sinne der Sache war. Zumindest gewis­se Zweifel sind da ange­bracht.

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo