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REPORTAGEN: Die ver­dräng­te jour­na­li­sti­sche Königsdisziplin

Von Michael Zwicker – Das rumä­ni­sche Reportage Magazin «Degât O Revista» ver­an­stal­te­te neu­lich in Bukarest eine Konferenz mit dem Titel: «Wie man mit Reportagen die Welt ver­än­dert.» Gene Weingartens «Der Grosse Zucchini» dien­te hier­bei als Beispielreportage, die in den Augen der Konferenzteilnehmer die­sem nicht gera­de beschei­de­nen Anspruch gerecht wird. Doch auf wel­che Art und Weise kann ein Portrait eines Washingtoner Kinderclowns die Welt ver­än­dern, wird man sich fra­gen. Der Grosse Zucchini bringt Kinder zum Lachen. Und obwohl, wie Weingarten schreibt, Lachen im Grunde ein Mittel ist, um die Furcht zu besie­gen, wird das Lachen eini­ger Washingtoner Kinder nicht aus­rei­chen, um die Furcht künf­ti­ger Generationen zu ver­trei­ben. Auch wenn eines die­ser lachen­den Kinder einst Präsident der USA sein soll­te. Vielmehr gelingt Weingartens Reportage, stell­ver­tre­tend für die jour­na­li­sti­sche Form der Reportage, was ande­ren jour­na­li­sti­schen Darstellungsformen nur sel­ten gelingt: Die Darstellung der mensch­li­chen Realität als Realität, die von viel­schich­ti­gen Spannungsverhältnissen beglei­tet wird:

«Doch die­ser Mann mit dem Schutzengel auf der Schulter, bei dem das Glücksspiel über die Liebe siegt, der die Liebe aber in einem Stripschuppen sucht; der weder eine Krawatte bin­den noch eine Rechnung recht­zei­tig bezah­len kann, der ein ansehn­li­ches Auskommen hat, aber kei­ne Ahnung, wo sein Geld hin­geht; der sich nicht an Dinge erin­nert, die ihm see­li­sche Schmerzen zuge­fügt haben; der vor jedem Auftritt fei­er­lich auf der Toilette zu Gott betet, um die 4‑jährigen Kinder zum Kichern zu brin­gen – die­ser Mann hat […] vor dem Erwachsenwerden noch nicht kapi­tu­liert.»

Die etwas gro­tesk anmu­ten­de Schilderung die­ses Kinderclowns lässt sich schlicht und ein­fach als unlös­ba­res Rätsel des Lebens begrei­fen. Sie fal­tet die ver­schie­de­nen Facetten einer Existenz, eines Menschen und sei­ner Umwelt auf, die im Grunde höchst wider­sprüch­lich ist. Wer von Ihnen wür­de einen spiel­süch­ti­gen Mann in flecki­gem Shirt und Malerhose, mit Zweitagebart und einem alten, an den Scharnieren ange­ro­ste­ten Koffer, gefüllt mit schmut­zi­gen und lädier­ten Zauberartikeln, für einen Kindergeburtstag enga­gie­ren? In Washington zählt der Grosse Zucchini zu den belieb­te­sten, aber auch teu­er­sten Unterhaltern von Kindern. Washingtons Kinder sind ver­rückt nach ihm. Pro Wochenende gibt der Grosse Zucchini sie­ben bis acht Shows. An einer halb­stün­di­gen Show ver­dient er 300 Dollar, im Jahr bei einer Zweitagewoche über 100’000 Dollar. Doch besitzt er weder ein eige­nes Bett noch ein eige­nes Auto.

Das Leben ist vol­ler Widersprüche. Wenn wir aber die Tagespresse hören, lesen oder schau­en, wird uns das sel­ten bewusst. Denn die abstrak­ten, oft­mals kon­text­lo­sen und kur­zen Nachrichten der Medien unter­schla­gen uns meist die Widersprüche des Lebens, und lie­fern statt­des­sen ein aus Daten und Merkmalen gezeich­ne­tes und dem all­täg­li­chen Leben frem­des Strukturbild: «Massenpanik bei indi­scher Beerdigung – 18 Tote». Doch Ereignisse, das unmit­tel­ba­re Leben, bestehen nicht nur aus Fakten, son­dern genau­so aus Emotionen, aus Subjektivität. Die soge­nann­te Königsdisziplin des Journalismus, die erzäh­len­de Reportage, schil­dert sol­che Emotionen und sucht nähe zu Personen. Die teu­er­ste Form des Journalismus wird aber immer mehr aus der Tages- und Wochenpresse ver­drängt. Zeitungen müs­sen spa­ren und Leser haben kei­ne Zeit mehr, um meh­re­re Zeitungsseiten lan­ge Artikel zu lesen.
Vor gut zwei­ein­halb Jahren wur­de in der Schweiz «Reportagen: Das unab­hän­gi­ge Magazin für erzähl­te Gegenwart» lan­ciert. Sechsmal jähr­lich erscheint das sechs Reportagen star­ke, neon­far­bi­ge und an jedem Kiosk erhält­li­che Magazin. Die in ihm abge­druck­ten Reportagen über­schrei­ten sozia­le und räum­li­che Distanzen, die den mei­sten von uns unüber­wind­lich erschei­nen. Nicht jede Reportage ist glei­cher­mas­sen gelun­gen. Doch gelingt es vie­len von ihnen unse­re oft­mals undif­fe­ren­zier­ten Strukturbilder zu ergän­zen und ins Wanken zu brin­gen. In der neue­sten Ausgabe fin­det sich die deut­sche Übersetzung von «Der Grosse Zucchini» – und neben ihr eini­ge wei­te­re sehr zu emp­feh­len­de jour­na­li­sti­sche Kunstwerke.

Foto: zVg.
ensuite, Februar 2014