Release! Eine Technik?

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Von Kristina Soldati – Die Anfänge: Was ist die­se eph­emer anmu­ten­de Release-Technik? Wo man sie ver­mu­tet und anfragt, wird sie meist ver­leug­net. Die erste Release-Comunity wur­de in Amerika 1999 gesich­tet. Die Entdecker-Zeitschrift hiess Movement Research Performance Journal. Dabei reicht der Stammbaum der «Gemeinschaft» zurück in die Hippie-Zeit der 60er-Jahre. So viel­fäl­tig die gesell­schaft­li­che (Miss-)Bildungen waren, von wel­chen sich die Hippies absetz­ten, so auch die im Tanz.

Dabei war ihnen gar nicht in erster Linie die stra­pa­ziö­se Ausformung und Verrenkung des Hochleistungstanzes, des Balletts, ein Gräul. Jede auto­ri­tä­re Ausprägung einer «Schule», auch die Martha Grahams›, samt Ideologie, Vorgaben und Imitationsanspruch, ent­lock­te ihnen ein müdes Gähnen. Der Pathos der Moderne griff nicht mehr. Den wah­ren Spass fan­den sie im gleich­be­rech­tig­ten Miteinander beim Experiment. Kein Guru hob sich ab, um eine Gefolgschaft abzu­seg­nen, kei­ne Hierarchie war gefragt. Entsprechend war die ein­zi­ge Verkündung die­ser Gegenbewegung ein Non-Manifest. Es ent­sprang der Feder Yvonne Rainers, einer der weni­gen Experimentierlustigen der Judson Church, einer ehe­ma­li­gen Kirche in New York.

Ein ande­rer Experimentator des dor­ti­gen Körper-Bewegung-Labors war Steve Paxton, der vor allem auf das Zusammenspiel der orga­ni­schen Elemente setz­te. Welche Kräfte wir­ken im Kontakt auf­ein­an­der, und wie explo­siv lässt sich Dynamik ent­fa­chen? Die Erkenntnis floss dann in sei­ne spä­ter soge­nann­te Contact Improvisation ein (vgl. Ensuite Nr. 66/67).

Zen ruh­te über alles Ob in medi­ta­ti­ven Eigenkörpererfahrungen oder in Gefühls- und Bewegungsexplosionen, man liess erst ein­mal gesche­hen. «Release!» war das Motto, aber noch kein Begriff. Die Gemeinschaft war offen, welt­of­fen und durch­läs­sig. Asiatischer Kampfsport (über Steve Paxton) war genau­so will­kom­men wie soma­ti­sche Praktiken einer Alexander-Technik. Der Holländer Frederick Alexander, als erkrank­ter Sänger, war ein Vorreiter ganz­heit­lich-heil­sa­mer Körperkultur. Wie vie­le noch heu­te erfah­ren kön­nen, geht sein Verfahren kör­per­li­chen Spannungen auf die Spur. Alexander mit den fast lahm­ge­leg­ten Stimmbändern war der Erste, der an der Technik gene­sen konn­te.

Während die Leistungsgesellschaft samt Wirtschaftswunder sich Infarkte erar­bei­te­te und der west­li­che Segen ande­ren auf­ok­troy­iert wer­den soll­te (Vietnam), blüh­te der unam­bi­tiö­se Tanz der Hippie-Zeit. Er riss die Grenzen zum Nicht-Tanz nie­der und erwei­ter­te den Kreis der so Beglückten. Aussen vor blie­ben – wohl frei­wil­lig – die ziel­stre­big Ehrgeizigen «mit auf­ge­plu­ster­tem Brustkorb». Trisha Brown, Teilnehmerin der ersten Stunde, berich­te­te in den 70-ern, sie wäre von Anfang an gegen die­se «puf­fed out rib­ca­ge» gewe­sen. Ihr schweb­te viel­mehr die natür­li­che instink­tiv koor­di­nier­te Bewegung vor Augen, die «orga­ni­sche» eben. Trainierte Tänzer hät­ten die­se ver­lernt. Statt sorg­sam aus einer Elite zu rekru­tie­ren, tanz­ten ihr wohl die – mit LSD ohne­hin ent­hemm­ten – jun­gen Leute gera­de­wegs in die Arme.

Und was übten sie? Sich fal­len zu las­sen ohne sich weh­zu­tun bei­spiels­wei­se. Steve Paxton, der dies aus asia­ti­schen Sportarten kennt, berich­tet, wie der dama­li­ge Zuschauer sich vor­erst nicht abfin­den konn­te, im Tanz einen Handstand oder einen beherrscht abrol­len­den Fall zu betrach­ten. Sie woben Alltagsbewegungen ein, auch das Gehen (daher ihr Spitzname Pedestrian) und ver­wisch­ten ger­ne Konturen: Wenn Paxton in sei­nem Solo Transit Bewegungsabfolgen mit mar­kie­ren­der (nur andeu­ten­der) Qualität vor­führ­te, war die Lesbarkeit samt nöti­ger Schärfe dahin. Zumal die Dynamik in ein Diminuendo ent­glitt.

Slow-Down, eine dama­li­ge Entdeckung? Energiesparen, Überspannung abbau­en war durch­aus ihre Idee, auch ohne grü­nen Anstrich. Es beschleicht uns die Frage: Entsteht damit nicht ein schlaf­fer Low-Energie-Brei? Die Verfechter weh­ren sich: Release sei nicht gegen den Einsatz von Spannung, son­dern gegen deren Vereinnahmung. Gegen ver­in­ner­lich­te Gewohnheiten wie die typi­sche Balletthaltung, das bestän­di­ge Hochziehen bei­spiels­wei­se. Lasse man erst ein­mal zu, das eige­ne Gewicht zu spü­ren, dann grei­fe auch der Schwung, und die Nutzung des Momentums brin­ge Abwechslung in die Dynamik (das Momentum ist der Umkehrpunkt eines Schwungs, wie bei einer anrol­len­den Kugel, die auf dem Hügel fast zum Stillstand kommt, bevor sie abwärts ihre Bahn nimmt). Und das auf ver­schie­de­ne «Etagen» ver­teilt, von der Luft bis zum Boden, ja vor allem dem Boden. Auf dem hin­zu­ge­won­ne­nen Terrain, seit Martha Graham und dem Break-Dance zwar kein Neuland, Release-Tänzer füh­len sich da hei­misch. Wieviele Spiralen las­sen sich da nicht kre­ieren, wie oft sich nicht hoch- oder run­ter­schrau­ben?

Innen- statt Aussenansicht Wenn nicht Körperlinien und Posen die Vorgaben sind, dann wohl auch nicht geo­me­tri­sche Abbilder. «Die Release- wie auch Alexander-Technik hat weder geo­me­tri­sche Repräsentation des eige­nen Körpers noch mecha­ni­sche. Man sucht nach einem neu­en leib­li­chen Selbstverständnis, eine neue Phänomenologie. Ich sage oft: «Fühlt, wie beim Tanzen sich das Fleisch win­det oder was unser gröss­tes Organ, die Haut, uns ver­mit­telt!», ver­rät uns Michou Swennen. Sie unter­rich­te­te im Tessiner Sommerkurs unter dem Label «Zeitgenössischer Tanz». Anna Halprin sei durch­aus eine Ahnin der Release-Technik, fin­det sie. Gemeint ist die Amerikanerin, wel­che die Doris Humphrey & Charles Weidman Company (des­sen Solist José Limón wur­de) ver­liess und ihren eige­nen Weg an der Westküste ging, viel­mehr ertanz­te. Anna Halprin war expe­ri­men­tell wie die Postmoderne der erwähn­ten Judson-Church-Gruppe. Betanzte aber kei­ne Wolkenkratzer, son­dern Strand, Äcker und Wald. Sie soll sinn­ge­mäss gesagt haben: «Es ist mir unver­ständ­lich, wie ver­langt wer­den kön­ne, den zen­tra­len Teil des Körpers, das Becken, beim Tanzen still zu hal­ten.» Eine solch rigi­de Aufgabenteilung des Körpers lag ihr fern. Ihr Befreiungsfeldzug ein hal­bes Jahrhundert nach Isadora Duncan war lei­se und fried­lich, auch wenn Grössen wie Merce Cunningham bei ihren Workshops unter frei­em Himmel auf­tauch­ten. In ihrem eben erschie­nen bio­gra­phi­schen Film Breath Made Visible spricht nie­mand von Release-Technik. Die Vorreiter hat­ten weder Flagge noch Banner. Etikettierungen und Kategorisierungen sind das Steckenpferd der Nachwelt. Nur ein­mal fällt das Wort release, als sie näm­lich 1975 tod­krank zum Tanz als Therapie griff: «I had to release my des­truc­ti­ve power» («Ich muss­te mei­ne zer­stö­re­ri­schen Kräfte frei­set­zen»). Sie war über­zeugt, sich so der Krankheit zu stel­len: Das Unbewusste konn­te beim Tanzen frei­wer­den. Vielleicht wur­de mit dem Release die­se Kunstart aus der Vorherrschaft des posi­ti­vi­stisch mes­sen­den oder for­ma­len Zugriffs befreit? Vergessen wir nicht, das New York City Ballet tri­um­phier­te unun­ter­bro­chen mit der Ästhetik George Balanchines. Wie Anna Halprin woll­ten man­che eher den im Tanz betei­lig­ten Kräften nach­spü­ren. Und die­se sei­en laut Susan Langers Philosophie der Kunst vita­le Kräfte, wel­che vor allem der Tanz uns vor­führt. Und die aner­kann­te Symboltheoretikerin mein­te das gar nicht mystisch.

Spätere Entwicklung Nach ein bis zwei Jahrzehnten Experimentierens und New Yorker Non-Dance stell­te sich die ame­ri­ka­ni­sche Postmoderne der Herausforderung tech­ni­scher Versiertheit. Die Fachwelt fei­er­te als wich­tig­ste Entwicklung des Tanzes der 80er die Rückkehr zur Virtuosität.

Nicht nur nah­men die Tänzer ver­mehrt wie­der klas­si­schen Unterricht, sie «bedien­ten sich vor­han­de­ner Stile und Techniken wie im Supermarkt». Das ist durch­aus im Sinne der Postmoderne.

Zeitversetzt in Europa Die Wurzeln der Release-Technik sind weit ver­zweigt. Die Release-Lehrerin mit Limón-Hintergrund Michou Swennen erwarb ihre Kenntnisse unter dem Label Mouvement Fonctionel, einer Mischung aus Alexander-Technik und Rosalia Chladek, meint sie. Sie gibt sie wei­ter an berühm­te Compagnien wie die von Carolyn Carlson, Gallotta und Anne Teresa de Keesmaeker. Letztere wie­der­um hat ihre Kenntnisse aus New York. Als Absolventin der Mudra-Schule von Béjart sog Anne Teresa de Keesmaeker 1982 die ame­ri­ka­ni­sche Postmoderne vor Ort auf. Wieder auf hei­mi­schem Boden grün­de­te sie die Compagnie Rosas. Sie schlug ein wie der Blitz. Rosas wur­de kunst­voll ver­filmt, und der flies­send-coo­le Stil wird viel­leicht man­chen von Ihnen noch im Kopf schwir­ren. Von die­ser Choreographin erzählt Michou Swennen in einem Interview mit Ensuite, wie sie aus der Release-Idee her­aus zu Beginn vie­le Amateure in ihrer bel­gi­schen Tanzschule P.A.R.T.S (in Nachfolge der abzie­hen­den Béjart-Schule) ein­be­zo­gen hat­te. Doch das habe sich mitt­ler­wei­le kom­plett ver­än­dert. Aus dem Interview mit Alain Platel (Ensuite Nr. 80) wis­sen wir, dass auch er die Virtuosität pro­fes­sio­nel­ler Tänzer für sich ent­deckt. Wenn nun Tänzer mit purer Release-Technik, in Kursen erwor­ben, zu einem sol­chen Choreographen stos­sen, tref­fen sie auf Probleme. Mark Bruce, der­zeit Gastchoreograph für das Bern:Ballett, hat bei­spiels­wei­se bei Rosas von Anne Teresa de Keesmaeker getanzt, doch er meint: «Loslassen (=Release) kön­ne man nur, wenn man vor­her etwas erar­bei­tet habe. Nur Release-Tänzer ver­mö­gen mei­nen zusam­men­ge­setz­ten Bewegungsabläufen beim Vortanzen gar nicht erst fol­gen.»

Von den unver­meid­li­chen Cross-Overs pro­fi­tiert natür­lich auch das Ballett. Sein Bewegungsweltbild ist immer weni­ger geo­me­trisch und ari­sto­kra­tisch aus­ge­rich­tet. Manche Lehrer schwär­men: «Wenn Du die Spannung aus dem Nacken nimmst, kannst du dich plötz­lich schnel­ler bewe­gen!»

Identität In Amerika, wo der Tanz schon früh in uni­ver­si­tä­ren Einrichtungen ver­mit­telt wur­de – es gab da ein hal­bes Jahrhundert vor Europa Tanzforschung – tüff­telt man an der Identität der Release-Technik. Man merkt: Viele ver­wen­den zwar in Mischformen deren Prinzipien, sind aber kei­ne Bekenner.

Eine wich­ti­ge Frage treibt sie um: Ist die Release-Technik stil­prä­gend oder ver­trägt sie sich mit ande­ren Stilen? Mit jedem? Haben die Mischformen etwas Erfahrbares gemein­sam? Die Technik sei durch­aus mit ver­schie­de­nen Stilen kom­bi­nier­bar. Sagen die einen. Die ande­ren pochen auf eine sti­li­sti­sche Eigenart: Selbst bei so unter­schied­li­chen Choreogra-phen wie Eric Hawkins (Tanzpartner Martha Grahams) und Trisha Brown hät­te die Release-Arbeit und Anwendung der Alexander Technik «die Kanten ent­schärft».

Damit ist aber nicht in erster Linie die Ausfransung von Linien durch flap­si­ge Füsse, also etwas Geometrisch-Formales, gemeint. Es geht um einen Charakter der Dynamik, und da tun die ForscherInnen gut dar­an, Rudolf von Labans Eukinetik anzu­schau­en. Anfang des 20. Jahrhunderts inven­ta­ri­sier­te näm­lich die­ser Tanztheoretiker die Bewegungsqualitäten (vgl. Ensuite Nr. 62). Eine Laban-Kennerin an der Ohio-State-University schau­te im Inventar nach und meint: Labans Tabelle fehlt das pas­si­ve Gewicht! Was das ist? Nicht der erwünsch­te Gewichtsschwund etwa, son­dern ein Erspüren der Wirkung der Schwerkraft. Kein Dagegenhalten oder Herumtragen der Eigenmasse, was ein «akti­ves Gewicht» wäre. Nun, die neue Bewegungsqualität hielt Einzug ins System. Die Eigenart des Release ist nun zu ver­or­ten, näm­lich inner­halb des Zusammenspiels von Gewichtsverwendung, Tonus und Fluss mit den Koordinaten Raum(qualität) und Zeit(qualität): Der Release-«Stil» sei im Punkto Tonus mit sei­nem schwa­chen Muskeltonus und im Punkto Gewicht auf der nega­ti­ven Seite der Skala – Dem Ephemeren ist ein Platz geschaf­fen …

Foto: Herman Sorge-Loos
ensuite, März 2010

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