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Reitschule bea­tet mehr

Von Ruth Kofmel – Unser erstes Mal: Es ist viel­leicht müh­sam und sicher­lich ziem­lich frag­wür­dig, dass man­che Männer ein der­ar­ti­ges Problem mit der Reitschule haben, so dass es immer mal wie­der zu einer Abstimmung kom­men muss; soll es sie in ihrer jet­zi­gen Daseinsform noch geben oder möch­ten wir nicht doch lie­ber ein Gebäude, das nach Putzmittel riecht, und in dem höch­stens sanf­te Liftmusik run­ter­rie­selt. Aber letzt­lich kann ich den Gedanken nicht ver­trei­ben, dass uns Herr Hess einen gros­sen Gefallen tut. Die Reitschule ist näm­lich nicht ein­fach nur gut – alle, die sie ger­ne mögen, wis­sen tau­send Geschichten zu erzäh­len, was sie dort ärgert, stört, und was anders lau­fen soll­te. Stellt sich dann die­ser bil­der­buch­mäs­si­ge Stereotyp von einem etwas zwang­haf­ten, nach Aussen hin sich ver­däch­tig selbst­si­cher geben­den Mann als Kontrahent zur Verfügung, explo­diert das krea­ti­ve, orga­ni­sa­to­ri­sche und sozia­le Gefüge in und um die Reitschule her­um, und der Laden surrt gera­de­zu vor Tatendrang. Der Wahlkampf ist tip top orga­ni­siert. Ich gehe an die Presseinfo zum CD-Release des Samplers «Reitschule bea­tet mehr» und bin beein­druckt. Nicht, dass ich mich auf Pressekonferenzen beson­ders gut aus­ken­nen wür­de, aber öffent­li­che Anlässe mit Apéro und Info-Mappen sind eigent­lich immer ganz schreck­lich. Hier ist es gemüt­lich, das Buffet ist hübsch ange­rich­tet und über­la­den mit Leckereien, der Weisswein edel, die Pressematte über­sicht­lich, das Propagandamaterial ein Design-Wurf, Hunde und Kinder wuseln her­um, die Musik im Hintergrund klingt super und auf der Bühne steht ein Sofa und kit­schi­ge Polstersessel. Zu Gast sind Steff la Cheffe und ein paar Züri Westler. Sie erzäh­len uns, war­um sie die Reitschule nicht mis­sen wol­len. Steff la Cheffe beschreibt ihr erstes Mal im Kulturzentrum als Erleuchtung: Die ver­schie­de­nen Räume, die Freiheit, sich als Künstlerin aus­pro­bie­ren zu kön­nen, das Unkomplizierte und Offene der Menschen, die sich dort tref­fen. Kuno Lauener holt wei­ter aus und geht zurück zu den Anfängen. Er beschreibt die ersten Stunden von Züri West und die­se eine Nacht im Jahr 1987, wo er und Küse Fehlmann in einem kana­ri­en­vo­gel-gel­ben Ford Transit mit unter­wegs waren Richtung Schütz, zusam­men mit tau­send ande­ren Freidenkern, und das Schloss zur gros­sen Halle knack­ten. Es muss eine ein­zig­ar­ti­ge Nacht gewe­sen sein; ein gros­ses Fest mit Musik, Staub und Aufbruchstimmung – der Grundstein zum heu­ti­gen Kulturzentrum wur­de damit gelegt. Damals wie heu­te – und das ist viel­leicht etwas, was man als Nicht-Besucher der Reitschule ein­fach nicht ver­ste­hen kann – ist weder Sinn noch Zweck, irgend­wel­che Regeln zu bre­chen und blind zu wüten, son­dern es geht dar­um, neue Räume zu eröff­nen, neu­en Ideen Platz zu geben, und einen Ort zu haben, wo die Schwerkraft der gesell­schaft­li­chen Zwänge und Modalitäten zumin­dest teil­wei­se auf­ge­ho­ben ist.

Während sie vorn auf der Bühne erzäh­len, kommt mir der Gedanke, dass die­ses Haus eine mei­ner läng­sten Romanzen ist. Es gibt vie­le Dinge, die wir zum ersten Mal tun, vie­le Orte, wo wir zum ersten Mal sind, aber es gibt nicht so vie­le die­ser Momente, die uns in Erinnerung blei­ben. Darum nimmt es mich wun­der, ob sich die Gäste die­ses Anlasses noch an ihr erstes Mal mit der Reitschule erin­nern.

Das ist eine pri­ma Frage, wie sich her­aus­stellt. Die Augen begin­nen zu glän­zen, der Kopf spult zurück, schie­fes Lächeln auf den Lippen – die Erinnerungsmaschine läuft. Für vie­le lässt sich das erste Mal nicht mehr so genau fest­ma­chen – es ist viel­mehr ihre erste Zeit, an die sie sich erin­nern. Mit fünf­zehn oder sech­zehn auf dem Vorplatz ste­hen und etwas trin­ken – das war schon Aufregung genug. Das erste Mal an einem Konzert im Dachstock ein­lau­fen, die Wildheit, das leicht Verruchte und Unbekannte – über­wäl­ti­gend. Für fast alle waren die ersten Besuche mit erhöh­tem Puls und Nervenkitzel ver­bun­den; die Reithalle ist ein Abenteuer. Sie habe beim ersten Mal den Frauenraum gesucht, sei extra von Ausserhalb gekom­men, zu fra­gen habe sie sich natür­lich nicht getraut und dann habe sie end­lich die­se Treppe ent­deckt; «nächär isch aues guet gsi» Oder die zwei Jungs, die sich mutig zwi­schen den gefähr­lich aus­se­hen­den Punks durch manö­vrier­ten, um auf dem Postwagen ihren ersten Joint zu rau­chen. Die Gymnasiums-Schülerin, die ihren ersten Einsatz in der Gassenküche hat­te und von ihrer Mutter mit dem Auto hin­ge­fah­ren wur­de, damit sie auch ja sicher dort ankam. Den dra­ma­tisch­sten Einstand hat­te wohl ein Bärner Gieu mit 14, der an ein Konzert im Innenhof ging, und in den ersten zehn Minuten Zeuge eines Treppensturzes wur­de: «U dr Anger isch mit gspaut­ni­gem Gring dört glä­ge». Vielleicht ist dies das beste Bild, um die Ängste, die mit der Reitschule ver­bun­den sind zu ver­deut­li­chen. Unser Drang, das Leben so sau­ber und geord­net wie mög­lich abzu­spu­len, lässt sich mit die­sem Ort nicht ver­ein­ba­ren. Die Reithalle ist auch dreckig, besof­fen, krank, ver­zwei­felt, aggres­siv und ganz ein­fach eine Zumutung. Aber auch dar­um haben wir uns in sie ver­liebt – sie ist eine run­de Sache, in ihr kann man das gan­ze Spektrum der Gefühle erle­ben, von Glück bis Wut. Sie ist kein neu­tra­ler Ort, und das ist gut so – lift­mu­sik­be­rie­sel­te Sterilbauten gibt es genug.

Ach ja, eigent­lich woll­te ich ja von die­ser CD «Reitschule bea­tet mehr» schrei­ben, ich liess mich etwas davon­tra­gen, ent­schul­di­gen Sie. Jedenfalls ist die­se CD ein Muss. Es hat tol­le Lieder dar­auf, vie­le extra für die­sen Anlass geschrie­ben. Eine schö­ne Auswahl, lustig und unter­hal­tend. Diese soll­ten sie also kau­fen, und das Badetuch und ein Shirt. Sie müs­sen das Müslüm Video schau­en – es ist so was von gelun­gen – und es wei­ter­schicken. Sie soll­ten ans Abstimmungsfest kom­men am 18. September, und fei­ern. Und dann unbe­dingt dar­an den­ken, die­sen Zettel aus­zu­fül­len und abzu­schicken.

Foto: zVg.
ensuite, September 2010