Reale Welt der Fantasten – Ron Mueck in Paris

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DSC_2906Von Anna Vogelsang – Es ist die ewi­ge Frage: «Was unter­schei­det einen guten Handwerker vom Anderen, der zum Künstler avan­ciert? Bei den alten Meistern erüb­rigt sich dies: Was nach Jahrzenten, Jahrhunderten noch begei­stert, ist heu­te schlicht und ein­fach Kunst und nicht ein­fach ein Bild, ein Mosaik oder eine Gartenskulptur. Wer aber nicht Jahrzehnte bis zur Anerkennung war­ten will, macht es heu­te anders: Singt sich an unzäh­li­gen Wettbewerben die Seele aus dem Leib, plat­ziert selbst­ge­ba­stel­te Videos im Internet oder macht ein paar Bilder, stellt die­se in einem Raum aus, ladet am besten noch eini­ge Prominente People- Persönlichkeiten ein und … wird «Künstler» genannt. So geht das. Ah ja, eine eige­ne Website, Twitter- und ein Facebook‑, respek­ti­ve Myspaceaccount müs­sen noch her. Ron Mueck hat einen ande­ren Weg gewählt, und ist sich auch nach der Anerkennung durch die Welt treu geblie­ben.

Gross, blass, drah­tig und irgend­wie in sich ver­sun­ken – so wirkt Ron Mueck. Seit eini­gen Jahren gibt er kei­ne Interviews, hat kei­ne eige­ne Website, und wenn Sie ihn an sei­ner Ausstellung per­sön­lich ertap­pen möch­ten lohnt es sich nicht an die Vernissage zu gehen, son­dern ein paar Tage vor­her in der Galerie auf­zu­kreu­zen, wäh­rend die Aufbauarbeiten im vol­len Gang sind. Diese Verweigerung der Kommunikation lädt uns, das Publikum ein, die Werke ohne Vorschriften und Andeutungen des Künstlers frei zu rezi­pie­ren und zu inter­pre­tie­ren. Keine Interpretation kann falsch sein.

Um die hyper­rea­le Welt von Ron Mueck ken­nen­zu­ler­nen, lohnt sich ein Ausflug nach Paris und der Besuch der Fondation Cartier pour l’art con­tem­po­rain. Bis zum 29. September 2013 läuft dort die zwei­te Pariser Einzelausstellung des in London leben­den austra­li­schen Künstlers. Von den ins­ge­samt knapp 40 Mueck-Werken sind neun aus­ge­stellt, dar­un­ter sechs völ­lig neue Kreationen. 1958 in Melbourne gebo­ren wuchs Ronald (Ron) Mueck in einer Familie deut­scher Auswanderer auf. Beide Eltern waren Spielzeugmacher, und der Sohn lern­te das Handwerk im Atelier des Vaters. Ohne eine Kunstschule absol­viert zu haben begann Ron als Puppenbauer und Puppenspieler im austra­li­schen Kinderfernsehen für die Show «Shirl’s Neighborhood» zu arbei­ten. Von da wur­de er im Alter von 24 Jahren von Dave Goelz als Assistent und Puppenspieler für Dreharbeiten von Produktionssegmenten von Jim Henson’s «Fraggle Rock» enga­giert. 1982 zog Mueck nach London, um als Puppendesigner und Puppenspieler defi­ni­tiv in den Produktionen von Henson’s Creature Shop zu arbei­ten: «Fraggle Rock», «Dreamchild » (unter der Regie von Gavin Millar, 1985), «The Tale of the Bunny Picnic» (1986), «Jim Henson’s The StoryTeller», «Puppetman» (od. «Dragon Time», 1987) und «The Ghost of Faffner Hall» (1989). 1985 kre­ierte und ver­kör­per­te er Ludo, ein Riesenmonster mit sanf­tem Gemüt in Jim Henson’s Kult-Spielfilm «Labyrinth » (mit David Bowie und Jennifer Connelly in den Hauptrollen, 1986). Ausserdem wur­de er in die Arbeit des Design-Teams des NY Muppet Workshop invol­viert. 1990 grün­de­te Mueck eine Agentur, mit der er zum Teil hyper­rea­li­sti­sche Plastiken für Werbefotographie her­stell­te.

DSC_2875Das Leben als welt-aner­kann­ter Künstler begann für Ron Mueck mit einer Pinocchio- Puppe. Aber nicht aus Holz, son­dern aus Fiberglas. 1996, in Vorbereitung der Ausstellung für die Londoner Hayward Gallery, brauch­te Paula Rego – Muecks Stiefmutter, eine der bedeu­tend­sten Gegenwartskünstlerinnen Englands – ein Modell für ihr neu­es Bild, einen Pinocchio. Kurzerhand bat sie Ron, ihr zu hel­fen. Mueck fer­tig­te einen hyper­rea­len Pinocchio an – einen Knaben mit locki­gem, brau­nem Haar und schel­mi­schem Blick.

Es ist gewiss kein Zufall, dass eines Tages in Regos Atelier der bri­ti­sche Werbemogul und Kunsthändler Charles Saatchi erschien, hat­te doch Paula Rego schon 1994 in The Saatchi Gallery in London aus­ge­stellt. Der Kunsthändler sah die Arbeit von Mueck und erkann­te deren Potenzial. Saatchi war es denn auch, der 1997 in sei­ner Ausstellung «Sensation – young bri­tisch Artists from the Saatchi Collection » zu Muecks Durchbruch ver­half, indem er sei­ne Skulptur «Dead Dad» – die einen Meter gros­se Kopie vom nack­ten Körper sei­nes ver­stor­be­nen Vaters – aus­stell­te. Die Teilnahme 2001 an der 49th Venice Biennale unter Direktion von Harald Szeemann, an der Muecks fast fünf Meter gros­ser «Boy» für Furore sorg­te, festig­te sei­ne Position in der ersten Liga der Gegenwartskünstler. Seither stell­te er an zahl­rei­chen Einzelausstellungen in London, Paris, New York, Sydney und Mexico City aus. So wech­sel­te Ron Mueck vom Erschaffen von flau­schi­gen, far­ben­fro­hen Fantasietierchen zu (oft) nack­ten, (mei­stens) blas­sen hyper­rea­len Menschenabbildungen, an denen alles «echt» zu sein scheint: Haut mit Poren, Falten und Härchen, Augen und Nägel.

So spielt Mueck auch mit der Realität: Die hyper­rea­len Plastiken gau­keln uns vor, sich tat­säch­lich plötz­lich zu bewe­gen oder sogar zu spre­chen. Und gleich­zei­tig wis­sen wir genau, dass dies nicht der Fall ist. Trotzdem ertap­pen wir uns beim Betrachten immer wie­der dabei, dre­hen uns um um zu über­prü­fen: Hat mich die­ser Mann im Boot jetzt ange­starrt? Hat er etwas gemur­melt hin­ter mei­nem Rücken?

Fast in allen Arbeiten von Mueck lebt tie­fe, end­lo­se Melancholie. Diese Skulpturen haben nichts mit der fan­ta­sti­schen Welt von Fraggle Rock und den Muppets zu tun. Eher erken­nen wir in Muecks Plastiken Personen aus unse­rem Alltag. Als ProtagonistInnen die­nen dem Künstler Passanten, die er foto­gra­fiert, ein Foto aus einem Magazin, jemand aus sei­nem Bekanntenkreis, oder über­haupt kei­ne rea­len, son­dern Fantasiepersonen. Auch eine Geschichte oder ein Mythos kann als Ausgangspunkt die­nen. Mueck arbei­tet so gut wie nie mit Modellen, die für ihn posie­ren. Um eine bestimm­te Körperhaltung oder einen Körperteil rich­tig zu erfas­sen, wer­den Fotos aus Internetrecherchen oder das eige­ne Spiegelbild her­an­ge­zo­gen.

Doch wie die Muppets leben, so leben auch die Plastiken von Mueck aus Fiberglas und Silikon. Wir kön­nen deren Dialogen (Two Women, Couple under an Umbrella, Young Couple) oder deren inne­ren Monologen (Man in a Boat, Youth, Woman with Shopping) lau­schen. Hier kommt die all­täg­li­che Tragik, die «Tragik des klei­nen Menschen» wie bei Nikolaj Gogols Helden zum Vorschein. Da steht ein jun­ges Paar ganz eng zusam­men (Young Couple, Edition 1/1, 2013, mixed media). Es scheint, dass der Mann sei­ner Freundin etwas ins Ohr flü­stert und sie auf­merk­sam zuhört. Wenn wir aber um das Paar her­um gehen ent­decken wir, dass der Mann die Hand der Frau hart packt, und sie scheint zu ver­su­chen, sich zu befrei­en. Stiller, nicht aus­ge­spro­che­ner Konflikt, stil­ler Kampf mit den Gefühlen, Wünschen und Pflichten. Diese unter­drück­te Zwiespältigkeit und Angst fin­den wir fast in jedem Werk von Mueck.

Die Skulpturen von Mueck sind nie lebens­gross. Der Künstler erklärt dies in einem der sel­te­nen Interviews: «I never made life-size figu­res becau­se it never see­med to be inte­re­st­ing. We meet life-size peo­p­le every day» (Skulpture, Vol. 22, No.6, 2003). Mueck schafft sei­ne Plastiken nicht für einen bestimm­ten Ort oder Raum. Das Spiel mit der Grösse ist immer kon­trol­liert und absicht­lich. Durch die Veränderung der Proportionen – Raum, Menschen- Skulpturen vs. Menschen-Besucher – appel­liert Mueck an unse­re Aufmerksamkeit und beein­flusst unse­re Wahrnehmung.

DSC_2923In einem Ausstellungsraum der Fondation Cartier wird ein fast ein­stün­di­ger Portrait-Film gezeigt. Mueck erlaub­te einem jun­gen Filmemacher, dem Fotographen Gautier Deblonde, ihn wäh­rend 18 Monaten unter ganz kla­ren Bedingungen in sei­nem beschei­de­nen Atelier im Norden Londons zu fil­men: Keine Fragen, kei­ne Dialoge und kei­ne Kommentare. So ent­stand der ein­stün­di­ge Film «Still Life: Ron Mueck at Work». Diese Produktion ist der erste Film von Deblonde. Der Streifen fällt eher unter die Definition «Kunstfilm» oder «Lehrfilm », nicht unter «Dokumentarfilm» wie wir ihn ken­nen. Denn er hat kein Skript, erzählt kei­ne Geschichte, hat kei­ne Dialoge oder Monologe. Nur das Radio läuft dau­ernd im Hintergrund und «pro­vo­ziert» die Assistentinnen des Künstlers zu einem kur­zen Lachen oder Kommentar. Die Stadien der Arbeit wer­den frag­men­ta­risch doku­men­tiert: Von Skizze und Tonprototyp bis zur Pigmentierung der Endobjekte, dem Färben der Augen und Einsetzten der Haare – eines nach dem ande­ren. Ob die­ser Film Ron Mueck wirk­lich einen guten Dienst erweist ist frag­lich. Er zeigt nur einen ein­zi­gen emo­tio­na­len Ausbruch des Künstlers, als er ziem­lich zor­nig flucht weil ein Teil der Arbeit nicht klappt. Sonst agiert Mueck ohne Mimik, ohne Gespräche mit sei­nen zwei Assistentinnen und ohne Dialoge mit dem Filmer.

Man kann die Arbeiten von Ron Mueck aner­ken­nen, mögen oder eben nicht. Man kann sie als kraft­voll und schön oder leb­los, häss­lich und repe­ti­tiv emp­fin­den. Aber bit­te, man ver­glei­che sie nie mit den Wachsfiguren aus «Madame Tussauds Kabinett»! Oder kann sich jemand vor­stel­len, dass Mueck lebens­gros­se Figuren eines breit lachen­den und win­ken­den William und der schwan­ge­ren Kate prä­sen­tie­ren wür­de? Sorry, ich kann das nicht.

 

Ausstellung Ron Mueck
Fondation Cartier pour l’art con­tem­po­rain, Paris
ver­län­gert bis 27.10.2013¹
www.fondation.cartier.com

Still Life: Ron Mueck at Work
Film von Gautier Deblonde, 52 Min., 2013.

1 Following the resound­ing suc­cess of the Ron Mueck exhi­bi­ti­on, which has been open to the public sin­ce April 16, 2013, the Fondation Cartier pour l’Art Contemporain has deci­ded to pro­long the exhi­bi­ti­on until October 27, 2013. The Fondation Cartier has exten­ded its ope­ning times for this exhi­bi­ti­on. Until October 27th, the exhi­bi­ti­on will now be open every day, except Monday, from 11 a.m. to 9 p.m. (and open on Tuesday evenings until 10 p.m.).

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