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Rasieren nach alter Väter Sitte

Von Thomas Kohler – Sie grei­fen ohne Not zur Klinge. Und sie schla­gen mit­un­ter blu­ti­ge Schlachten gegen sich selbst. Junge Männer pin­seln sich lust­voll Schaum ins Antlitz und ent­decken Freud und Leid des Rasierens mit Grossvaters Rasiermesser.

Was bewegt Männer dazu, sich die Zeit zu neh­men, ihren Bartstoppeln nach alter Väter Sitte mit dem Rasiermesser zu Leibe zu rücken? Zumal die Risiken, im Vergleich zum Elektrorasierer oder dem Wegwerfhobel von Bic, Wilkinson, Gilette oder wie sie alle heis­sen, nicht uner­heb­lich sind. Viele Männer fürch­ten sich ins­ge­heim vor dem alten Rasiermesser, das auf Französisch bezeich­nen­der­wei­se als «Rasoir Sabre» bekannt ist. Und den­noch grei­fen auch jun­ge Bart- respek­ti­ve Stoppelträger ger­ne wie­der zum Badezimmer-Langschwert, um sich der lästi­gen Haarpracht im Gesicht zu ent­le­di­gen.

Ein Grund dafür ist offen­bar eine Liebe zum aus­ge­dehn­ten Ritual um den eige­nen Bart. Mann muss sich früh­mor­gens erst ein­mal gründ­lich die Sandpapierhaut im Gesicht net­zen. Danach betä­tigt sich der Bartträger als Schaumschläger, denn der Rasierpinsel muss genau die rich­ti­ge Feuchtigkeit haben, um den per­fek­ten Rasierschaum ans Kinn zu brin­gen. Der Schaum darf nicht zu fest oder trocken sein, sonst man­gelt es am nöti­gen Glanz. Ist es erst ein­mal flä­chen­deckend ein­ge­seift, wird das Kinn zum Kap der guten Hoffnung: Mit dem Rasiermesser die Kurve von Backe über Kiefer zum Hals zu neh­men, erfor­dert hand­werk­li­ches Geschick und Fingerspitzengefühl. Lässt Mann es dar­an mis­sen, kommt es leicht zu unschö­nen Blessuren rund um die Gurgel. Die muti­gen Klingenschwinger unse­rer Tage tra­gen die­se Bluttaten frei­lich mit Fassung: «Kleine Schnitte kom­men schon vor», gestand ein Klingenrasierer in Neuenburg kürz­lich einem Reporter des Westschweizer Fernsehens. «Aber die sind wie Kriegsverletzungen. Man trägt sie mit Stolz.»

Dass der begei­ster­te Nasszellen-Spiegelfechter aus Neuenburg stammt, darf nicht ver­wun­dern. In der Stadt am stei­len Ufer des gröss­ten Schweizer Binnensees fei­ert die Rasur mit der lan­gen Klinge seit gerau­mer Zeit Urständ. Nicht ganz unschul­dig dar­an ist der Messerhändler Patrick Goussard. Er bemerk­te das welt­wei­te Interesse; dass die Rasur der Grossväter bei vie­len jun­gen Männern wie­der Anklang fin­det – im Internet gibt es Foren dar­über und es wim­melt von Anbietern, die Rasiermesser und vie­le ande­re Utensilien des Rasierens mit blan­ker Klinge anbie­ten. Viele der ein­schlä­gi­gen Produkte waren bis vor Kurzem gar nicht käuf­lich zu erwer­ben. Wer erin­nert sich zum Beispiel schon an den Lederstreifen, mit dem die Barbiere der­einst ihre Klingen wetz­ten?

A pro­pos Barbiere: Um den neu­en Trend gleich von Anbeginn in der Schweiz rich­tig auf­zu­glei­sen, ver­si­cher­te sich Patrick Goussard der Dienste eines alt­ehr­wür­di­gen Barbiers. Der lebt eben­falls in Neuenburg, heisst Antonio Positano und unter­rich­tet uner­schrocke­ne Freiwillige in Rasier-Kursen über die Vorteile und Gefahren des Umgangs mit dem schar­fen Messer am Kinn.

«Verzichten Sie unbe­dingt auf hek­ti­sche Bewegungen», beschwor Antonio Positano sei­ne eif­ri­gen Rasier-Lehrlinge in einem vom Westschweizer Fernsehen beglei­te­ten Kurs. «Nehmen Sie sich Zeit, gehen Sie beim Rasieren ganz lang­sam vor.» Die Kurs-Teilnehmer stamm­ten alle aus der Romandie. Dennoch benütz­te der erfah­re­ne Barbier bewusst den deut­schen Begriff «lang­sam», um allen Anwesenden klar­zu­ma­chen, wie wich­tig sei­ne Mahnung ist.

Wichtig ist sie in der Tat. Nötig war sie jedoch nicht. Die ange­hen­den Messer-Rasierer fas­zi­nier­te vor allem ande­ren die betu­li­che Seite der für sie neu­en Technik. «Die Frauen neh­men sich alle Zeit der Welt für ihre Kosmetik und ihr Make-up», sag­te ein Teilnehmer. «Das möch­te ich auch tun. Ich will mir mit der Rasur mit dem Messer ganz bewusst Zeit für mich selbst neh­men. Mich inter­es­siert vor allem das Ritual.»

So ganz neben­bei zeig­te der Mann der Kosmetikindustrie wo es lang geht beim Verkauf weit­ge­hend nutz­lo­ser Produkte. Statt ihre Kundinnen mit hirn­ris­si­gen Instant-Beauty-Versprechen zu lang­wei­len, soll­te die Crème- und Duftwässerchen-Branche bes­ser auf Rituale set­zen. Die Wellness-Hoteliers der rei­che­ren Hemisphäre haben da welt­weit schon ganz schön Mass genom­men.

Da bleibt aber immer noch die Frage, wie­so sich vie­le Leute – es sind bei­lei­be nicht nur Männer – plötz­lich wie­der auf alte Rituale besin­nen. Neben den Messer-Rasierern tun sich da beson­ders auch die Besitzerinnen und Besitzer von Oldtimerautos her­vor, die es schät­zen, dass ihre alten Kutschen bar jeder elek­tro­ni­schen Fahrhilfe sind. In eine ähn­li­che Kerbe schla­gen welt­weit auch die Menschen, die sich plötz­lich wie­der für die Fotografie mit Film statt digi­ta­len Datenträgern inter­es­sie­ren. Und die Mode über­schlägt sich ja auch mit ewi­gen Sixties‑, Seventies- oder Eighties-Revivals.

Offenbar sehnt sich der moder­ne Mensch gewal­tig nach Althergebrachtem, Bekanntem. Kunsthistoriker ent­decken in alten Landschaftsfotos einen beson­ders kla­ren Himmel (dank ver­meint­lich feh­len­der Luftverschmutzung) oder glau­ben, auf Sepia-getön­ten Bildern «Stille» und «Ruhe» füh­len zu kön­nen.

Ein Grund dafür könn­te dar­in lie­gen, dass der Mensch den Übergang vom mecha­ni­schen ins elek­tro­ni­sche Zeitalter emo­tio­nal nur schwer voll­zie­hen kann. Die Elektronik bringt unend­lich viel Vorteile und Annehmlichkeiten ins mensch­li­che Dasein. Sie stei­gert in vie­len Bereichen die Sicherheit. Aber sie beschleu­nigt auch alles. Und mit ihr ver­bin­det sich für den Menschen auch ein gewis­ser Kontrollverlust. Wer eine E‑Mail ver­sen­det weiss aus Erfahrung, dass es beim Adressaten ein­tref­fen wird. Aber wirk­lich kon­trol­lie­ren kann er das nicht. Der Computer besänf­tigt ihn besten­falls mit einem Geräusch, das künst­li­chen Wind, ergo Schnelligkeit vor­täu­schen soll. Nur Idioten las­sen sich davon ein­ne­beln. So wie auch nur Anfänger und abso­lu­te tech­ni­sche Laien an die Unfehlbarkeit des Computers glau­ben. Die scheint auf der Basis der Null-und-Eins-Logik zwar gesi­chert. Doch sie ist ein Trugbild, das schon durch den mini­ma­len Datenverlust etwa beim mehr­ma­li­gen Bearbeiten digi­ta­ler Bilder zer­ris­sen wird.

Diese Unsicherheit könn­te dar­an mit­schul­dig sein, dass sich vie­le Leute ins­ge­heim nach einer ver­meint­lich ein­fa­che­ren Welt seh­nen. Deren mecha­ni­sche Abläufe waren zwar auch feh­ler­haft, kei­ne Frage. Aber die – vor­ge­gau­kel­te – schnei­di­ge Unfehlbarkeit der elek­tro­ni­schen Technik ging ihr voll­ends ab. Und zwar spä­te­stens seit die als «unsink­bar» hoch­ge­ju­bel­te Titanic hin­ab­gur­gel­te in die dunk­len Tiefen des Atlantik.

Info: Wer ein Rasiermesser kau­fen (oder einen Rasierkurs buchen) möch­te, wird hier fün­dig: Coutellerie des Halles Sarl, Patrick Goussard, Place des Halles 13, 2000 Neuchâtel NE, 032 725 33 66 .

Foto: zVg.
ensuite, August 2013