pitiè! von Alain Platel
Vier ausverkaufte Abende im Theaterhaus der Gessnerallee boten ein unbekömmliches Sujet: Die weltbekannte Companie Les Ballets C de la B blickt auf das irdische Elend und fleht um Erbarmen.
Ein unbekömmliches Sujet
Rohe Holzplanken bilden einen Podest im Hintergrund der Bühne, welchen wie bei Musikfesten ein kleines Orchester krönt. Daneben ragt ein hölzernes Turmgerüst, von dessen ‹Zinnen› bald ein Imam in die Ferne tönen wird. Und das inmitten Bachs Matthäus Passion. Das Spirituelle der Musik ist universell. Für diese Botschaft steht das Künstlerpaar Platel & Cassol seit ihrer Bearbeitung der Marienvesper Monteverdis für das Stück VPRS im Jahre 2006.
Auf der Bank vor den Planken reihen sich Bauarbeiter, das profane Licht von oben leuchtet kalt die nächtliche Baustelle aus. Die ausländischen Arbeiter erheben sich ab und an und brettern ihr rohe Break-Sequenzen hin, Körpersprache ist wohl ihr üblicher Austauschmodus. Ein lässig geflogener Pflasterstein übergibt frechkalkuliert dem nächsten ‹das Wort›. An einem Tisch abseits ist eine andere Welt: durch innere Haltung sich still verbunden sitzen drei Figuren, eine schwarze Sopranistin als Mutter Maria, Magdalena und der afrikanische Countertenor Serge Kakudji als Jesus. Sie werden gern mal von den Arbeitern angepöbelt. Denn die religiöse Innerlichkeit flösst diesen keinen Respekt ein. Da hilft auch nicht der ruhige authentische Gesang der Matthäus-Passion, zumal unterschwellig-jazzig die unbekümmerte Jetztzeit schwingt. Entsprechend fremdartig wirkt es, wenn der zurückhaltende Jesus sich auf die Arie “Das Wort ist Fleisch geworden” unter das Volk mischt. Ätherisch lässt er sich auf die Bank der Lebenden nieder. Anzügliche Anmache und Provokation ist da aber die Umgangsform. Denn hiernieden auf Erden wird das Fleisch angepackt. Und man prüft sich auf Herz und Nieren. Die Arbeiter greifen sich tief ins Gewebe und packen, tragen einander ‹am Fell›. Dann wieder vereint die Bank sie still wie Jünger der zwölfgliedrigen Kette des letzten Abendmahl-Bilds.
Allmählich scheint die frohe Botschaft in ihnen zu keimen. Mitten im Leben und inmitten der Bühne wippen sie dann einig, wenn nicht einfältig, auf den nackten Fusssohlen vor-rück, vor-rück und beugen sich demütig vornüber. In der Masse ist das ein starkes Bild für die Umwälzung ihres Lebens. ‹Kopfüber› (bouleversé) ist eine Haltung, in der sie marschieren, wischen und beten.
Dann perlen die Szenen aus dem Leben Jesu ab in einer schnellen Folge von tableaux vivants. Dramatische Episoden gefrieren in einzelne bühnengrosse Bilder, mit verschränkten Beteiligten, wallenden Gewändern, ausholenden Armen und manch bedeutsamem Blick gen Himmel. Arrangiert nach Michelangelos dynamischer Manier bevölkern im Schwung begriffene Jünger am Boden lauernd, andere in die Höhe sich reckend oder ins Firmament enthoben alle drei Bildebenen – für einen starren Moment. Vereinzelt entdeckt man Platels Leitmotiv, die Ausdruckskraft von körperlichem Leid: Finger und Füsse abgespreizt und verbogen vor Schmerz. Sie scheinen hier im ikonographischen Feuerwerk dem Maler Matthias Grünewald entlehnt. Der schaute für seine Kreuzigungsbilder das Leid einer krampfartigen Lähmung im Mittelalter ab. Doch unser Mitgefühl bleibt verschont. Denn die Theatralik der gereihten Bilder, mit dem Attribut der kämpferischen Axt versehen, erinnert uns an heroische Statuen der Arbeiterbewegung, die wir nun auch schon fallen sahen. Und das Material des sich blähenden Blaus vom Gewand ist das der Tragetaschen von Ikea.
Spätestens aber, wenn auf das berühmte Choral «Oh Haupt voll Blut und Wunden» einer der Break-Freunde (Judas?) in kreuzform auf Jesu Schultern lastet und dieser dennoch in unschuldig-hohen Countertenortönen weitersingt (!), ist der Zuschauer wieder emotional in das Geschehen geholt.
Wenn der Tod in drei Tonlagen beweint und besungen wird, die Klage dreifach gefärbt aus drei Richtungen tönt, wird Fabrizio Cassols Rezitativbearbeitung polyphon, dicht, aber stimmig. «Wiewohl mein Herz in Tränen schwimmt,» wie es dort heisst, gilt nämlich für Mutter, Magdalena und Jesus. Die Jüngerschar tanzt noch geeint, doch von starken Bewegungseinbrüchen (in den Combrés, Rumpfbeugen, z.B.) und verkrampften Händen gezeichnet.
Ein Wendepunkt ist die Auferstehung. Der stille Jesus wird quicklebendig. Selbstbewusst wie ein Popstar – mit dem passenden Christ-T-Shirt – rockt er vom Podest der Pietá. Dann welt(religionen)gewandt windet er sich in eine Krishna-Pose meditativ. Der blutjunge Countertenor von Tänzerstatur Serge Kakudji ist eine eindrückliche Besetzung. Doch als sich Jesus umschaut: Elend allenthalben. Maulklappen sind den Menschen (den Gläubigen? den Katholiken?) angelegt, sie schleifen einander an den Haaren herbei und brüllen in die Beichtstühle. Ein Büssender etwa: «I love you all! I love my sister!» Fliegende Pflastersteine rhythmisieren die spirituelle Musik. Sie haben die Symbole im Visier, den Turm, wenn nicht den Himmel selbst. «And what do you feel now?», muss sich Jesus fragen lassen. Die uralte Theodizee-Frage verstummt ihn. Er rollt die entsetzt aufgerissenen Augen und verzerrt den Mund. Die manieriert-stilisierte Gestik und Mimik geht in der Wucht auf, mit der sich das Innerste seinen emotionalen Weg durch den Körper nach aussen bahnt. Auch wo Jesus die Hand auflegt, entsteht scheinbar kein Heil. Berührt er die Schulter eines Mannes, stakst-stolpert dieser wie elektrisiert los. Er steht unter Strom und gebärdet sich so ungelenk, dass Jesus fassungslos den Kopf hängen lässt. Dieser geistig zurückgebliebene Mann wird Jesus die Träne abwischen. Denn was wir erst als behinderte Bewegung wahrnahmen, erkennen wir langsam als Freudentanz. Und hier ist der Trost für unsere Welt des Wettbewerbs mit den smarten Gewinnern: «Selig sind, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihrer». Wenn die Jünger im Verlauf zunehmend die Herrschaft über ihre Glieder verlieren und mitunter spastisch anmuten, so ist das ein Bekenntnis. Nicht zum modisch gewordenen integrativen Tanz, sondern zur menschlichen Tiefe der Einfalt. Und zum Vertrauen in uns Zuschauer, dass wir die Tiefe und die Freude der Andersartigen lesen lernen.