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Polyphonie des Wahnsinns

Bea von Malchus dekon­stru­iert Shakespeare – und das sau­ko­misch

Eine lee­re Bühne, ein Hocker vor einem dun­kel­ro­ten Samtvorhang. Mehr bekommt der Zuschauer im Hochhaus am Limmatplatz anfäng­lich nicht zu Gesicht. Mehr als die­ses mini­ma­li­sti­sche Setting benö­tigt Bea von Malchus für ihr Solostück Shake Lear! Greise. Wahnsinn. Shakespeare auch nicht. King Lear, William Shakespeares düster­ste Tragödie qua­si als zwei­stün­di­gen Monolog zu insze­nie­ren erfor­dert offen­kun­dig ein zu gros­ses Mass an dra­ma­tur­gi­scher Verwegenheit, so dass ein Scheitern fast unaus­weich­lich scheint. Sollte man mei­nen, denn von Malchus belehrt uns eines Besseren, indem sie die Ernsthaftigkeit der lite­ra­ri­schen Motive – Rache, Intrige, Schrecken, Leid, Elend, Wahnsinn – in so ein­falls­rei­cher wie bös­ar­tig gewitz­ter Weise unter­gräbt und auf­löst. Der Wahnsinn wird zum domi­nan­ten Topos, birgt er doch ein schier uner­schöpf­li­ches Potential an Komik.

Narrenfreiheit

Von Malchus ver­wei­gert dem Zuschauer einen objek­ti­ven Blick auf die Handlung und lässt den Narr erzäh­len; von Anfang an ist man aus­schliess­lich an sei­ne Perspektive gebun­den. An eine Sichtweise, die mei­ster­haft einen zen­tra­len Charaktertypus des eli­sa­be­tha­ni­schen Theaters in sei­ner gan­zen ihm inne­woh­nen­den Ambivalenz reprä­sen­tiert: Der Narr als schalk­haf­ter Spassmacher, Imitator und Geschichtenerzähler; der Narr als der Irrsinnige, Unerwünschte, Stigmatisierte, von der Gesellschaft Ausgestossene. Indem man ein­zig ihn spre­chen lässt, ver­leiht man dem Wahnsinn eine Stimme und ermög­licht dem Verdrängten eine Wiederkehr.

Und wahr­haf­tig, von sei­ner Narrenfreiheit aus­führ­lich Gebrauch machend, treibt der Schalk sei­nen Schabernack mit der lite­ra­ri­schen Vorlage. So mag von Malchus, bzw. der Narr dem Publikum den nihi­li­sti­schen End- und Nullpunkt von Shakespeares Tragödie, an dem eigent­lich fast alle Protagonisten ster­ben, gar nicht erst zumu­ten und greift mun­ter in die Handlung ein: Cordelia über­lebt, lässt sich schei­den, ehe­licht den Narr und schenkt ihm Zwillinge; selbst der Konflikt zwi­schen Goneril und Regan gip­felt nicht in einem töd­li­chen Eifersuchtsdrama. Shakespeare als Autor wird dabei völ­lig ent­eig­net, der Text gehört ihm, dem Autor-Subjekt nicht mehr und wird in sei­ner struk­tu­rel­len Offenheit fast nach Belieben vari­iert und ite­riert.

Körper-Stimmen

Die mimisch-kör­per­li­che Wandelbarkeit, mit der Bea von Malchus die ein­zel­nen Charaktere des Stücks reprä­sen­tiert, ist sowohl an schau­spie­le­ri­scher Virtuosität als auch an unge­zü­gel­ter Komik nicht zu über­bie­ten. Nur durch gerin­ge Veränderung ihrer Gesten, ihrer Körperhaltung, Gesichtszüge oder einer Nuance ihres raf­fi­niert gestal­te­ten Kostüms wech­selt sie schein­bar mühe­los und flies­send die Rolle.

Am stärk­sten bleibt aller­dings die erstaun­li­che Mutabilität der Stimme in Erinnerung. Es gelingt von Malchus in schlicht ful­mi­nan­ter Weise, jeder der von ihr ver­kör­per­ten Personen eine eige­ne Stimme mit eige­nem Klang und eige­ner Sprechweise zu ver­lei­hen. Der Narr erzählt in brei­tem eng­li­schen Akzent, Lear, der alte unbe­herrsch­te Tor klingt mal auf­brau­send bis jäh­zor­nig, mal jäm­mer­lich-ver­bit­tert; die bös­ar­tig-unnah­ba­re Goneril spricht in dunk­lem, samt­wei­chem Ton; Gloucester lis­pelt, sein Sohn Edgar stot­tert und nach­dem er sich als gei­stes­ge­stör­ter Bettler aus­gibt, ver­langt er mit jau­len­der Falsettstimme nach Dr. Shakespeare, der doch bit­te ans Telefon gehen möge. Das ist eben­so wit­zig wie unter­halt­sam und wird durch geschickt ein­ge­streu­te Gesangseinlagen mit zusätz­li­chem Unterhaltungswert ange­rei­chert.

Damit trifft Bea von Malchus den ambi­guen Wesenszug des Narren in sei­nem Kern und ist dabei nichts weni­ger als eben­die­ser Narr, den sie die Geschichte erzäh­len lässt: Sowohl ein unter­halt­sa­mer Spassmacher, der in Rollen schlüpft und Personen imi­tiert als auch ein irr­sin­ni­ges, wahn­sin­ni­ges, zutiefst frag­men­tier­tes Subjekt, das in frem­den Zungen spricht. Die Stimme, wel­che die Identität einer Person fest­zu­hal­ten scheint, ent­puppt sich dabei als rei­nes Phantasma einer unmit­tel­bar gege­be­nen Präsenz und Verkörperung. Die illu­sio­nä­re Einheit von Stimme und Träger löst sich in einer deper­so­na­li­sier­ten Vielheit auf. Die Schauspielerin auf der Bühne kon­fi­gu­riert Stimme und Körper zu eph­eme­ren sze­ni­schen Gestalten, die sogleich wie­der abtre­ten.

Die Art und Weise, in der das geschieht, ist – mit Verlaub – sau­ko­misch und zutiefst beein­druckend. Oder wie Lear es for­mu­liert: «Rettet eure igno­ran­ten Ärsche, denn nun wer­det ihr wahn­sin­ni­ges Talent sehen!»

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