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Paris: Ein Flatrate-Leben zwi­schen Geiz und Laster

Von Dr. Regula Stämpfli - Zehn Zeilen. Zehn Zeilen und mehr nicht. Zehn Zeilen, die uns mit­ten nach Paris trans­por­tie­ren. Zehn Zeilen, die uns in 48 Stunden aus unse­rem beschau­li­chen Schweizer Leben direkt in die Grossstadt trans­por­tie­ren. Zehn Zeilen, die das ver­track­te Verhältnis zwi­schen Wahrheit und Macht expli­zie­ren. Zehn Zeilen von Gila Lustiger und Sie und ich sind begei­stert.

Gila Lustiger schafft es, sich als Mann im Roman per­fekt zu bewe­gen, Frauen zu ver­füh­ren und klug über Menschen und Camembert nach­zu­den­ken. Den Käse habe ich hin­zu­ge­dich­tet, den gibt es nir­gend­wo im Buch. Doch als auf den deut­schen Mainstream geeich­te Kritikerin weiss ich, was in einem Text über ein fran­zö­si­sches Buch ste­hen soll­te. Zu mei­ner Schande muss ich geste­hen, dass ich vor der «Schuld der ande­ren» noch kein Werk von Gila Lustiger gele­sen habe, doch ich wer­de mir alles von ihr besor­gen, ins­be­son­de­re auch ihren letz­ten Essay «Erschütterung über den Terror». Dort wagt sie ein Plädoyer für Europa, für die Menschen, die hier leben und für alle, die euro­päi­sche Kinder haben und Kinder von Menschen aus Europa sind. Und ja: Mit Europa ist kei­ne Rassenherkunft oder Religion ver­bun­den. Terror ist schliess­lich nicht Biologie, son­dern Ideologie.

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Die «Schuld der ande­ren» wird mit einem Marx-Zitat zur Verdinglichung eröff­net. «Es ist dies die Zeit, wo selbst Dinge, die bis dahin mit­ge­teilt wur­den, aber nie aus­ge­tauscht, gege­ben, aber nie ver­kauft, erwor­ben, aber nie gekauft: Tugend, Liebe, Überzeugung, Wissen, Gewissen etc., wo mit einem Wort alles Sache des Handelns wur­de.»

Gila Lustiger geht in ihrem gross­ar­ti­gen Krimi zur Sache: Sie erzählt über Macht, Money und die Verdinglichung des Geistes, die beson­ders in der fran­zö­si­schen Elite eine Behausung gefun­den hat. Die Absolventen der ENA schaf­fen es, selbst den letz­ten Furz noch zu ver­sil­bern. Streckenweise glaubt man sich bei Lustiger in Didier Eribons «Rückkehr nach Reims» ver­setzt. Doch die­ser Pageturner schafft es, hohe kom­ple­xe Soziologie in span­nen­de Krimisprache zu über­set­zen. «Die Schuld der ande­ren» ist ein Thriller einer­seits, beschreibt aber ande­rer­seits die fran­zö­si­sche Gesellschaft. So wird klar, wie in Frankreich mafiö­se Verstrickungen zwi­schen Politik, gros­ser Industrie und alt­ein­ge­ses­se­nen Familien – sie­he auch Marine Le Pen – das typi­sche Gemisch dar­stel­len, das von Naiven ger­ne als Savoir-viv­re tou­ri­stisch ver­mark­tet und ver­kauft wird. Im Schweizer Fernsehen wur­de die packen­de Story von Gila Lustiger schon im Juni 2015 bespro­chen. Sehr unan­ge­nehm pater­na­li­stisch und typisch für den Literaturclub wur­de die Autorin als Erstes als «fami­li­är» kate­go­ri­siert. Als ob deren Vater – der übri­gens kein Schriftsteller war – die Erklärung dafür sei, wes­halb eine Frau so gross­ar­ti­ge, span­nen­de Romane schrei­ben kann. Echt …

Zudem ver­riet die Moderatorin, trotz gros­ser Warnung von Rüdiger Safranski, der das Buch in die Runde getra­gen hat­te, wie­der fast den gesam­ten Plot des ein­zig­ar­ti­gen Gesellschaftporträts von Lustiger. Dies ist eben­so unan­stän­dig wie strunz­dumm und soll­te Verlage dazu brin­gen, eine Besprechung im Literaturclub zu unter­sa­gen. Wohl des­halb raste der Krimi nicht wie erwar­tet in den ersten Wochen sofort an die Spitze der Bestseller. Vielleicht auch bes­ser so. Denn die Autorin wäre wohl ihr ruhi­ges Leben in Paris, wo sie seit über 30 Jahren lebt, los, wür­de die Aufmerksamkeit für den Roman in Deutschland auch die selbst­ver­lieb­ten Champagnersozialisten errei­chen. Aber dass der Krimi noch welt­weit Furore machen wird, ist sicher. Deshalb mein Tipp: Lesen Sie, bevor ihn alle schon gele­sen und nicht halb so gut ver­stan­den haben, wie Sie und ich hier bei ensuite.

Lassen wir uns gemein­sam in die Sprech- und Denkmusik von Gila Lustiger rein­ver­set­zen: «Er konn­te sei­ne jour­na­li­sti­sche Arbeit ein­fach nicht dar­auf redu­zie­ren, über einen Jungen zu schrei­ben, für den es nach Meinung aller kei­nen ande­ren Ausweg gege­ben hat­te, als der Gewalt zu hul­di­gen und den ver­hee­ren­den Folgen sei­ner Wahl zu erlie­gen. Zugegeben, die­se Jungs (es ist von Bandenangehörigen in Marseille die Rede; Anm. d. Red.) waren nicht sel­ten mit jeder ein­zel­nen Charakterstärke und ‑schwä­che des tra­gi­schen Helden aus­ge­stat­tet. Sie waren so naiv wie unbarm­her­zig, so ver­lo­ren wie skru­pel­los, so tap­fer wie dem schnel­len Geld zuge­tan, so zukunfts­gläu­big wie selbst­zer­stö­re­risch.

Vor allen Dingen waren sie nicht weni­ger ‹schuld­los schul­dig› und nicht weni­ger ver­blen­det als ein König Ödipus, wenn sie annah­men, sich durch­schum­meln zu kön­nen. Aber dies war kei­ne grie­chi­sche Tragödie. Niemand wur­de ‹von oben› ver­dammt, in die Rolle des Dealers und noch viel weni­ger in die Rolle eines gewalt­sam Dahingegangenen zu schlüp­fen. Zwar waren Immigration und Armut, Armut und Kriminalität, Kriminalität und Gewalt und Gewalt und Tod mit­ein­an­der ver­ket­tet, jedoch wür­de er sein Stück Brot nicht damit ver­die­nen, dass er das Geschehene so her­un­ter­er­zähl­te, als müs­se das eine immer not­ge­drun­gen zum ande­ren füh­ren. Konnte man sei­ne Denk- und Verhaltensmuster ein­fach abstrei­fen und sich neu erfin­den?» (S.168/169)

Diesem Buch merkt man die Wut, die Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit an, dass sich in Frankreich seit der Jahrtausendwende end­lich etwas zum Guten wen­den könn­te. Es ist ein Reiseroman, ein Pageturner, eine mei­ster­haf­te Milieustudie mit gross­ar­ti­gen Dialogen, Schattierungen in den unter­schied­lich­sten Orten sowohl geo­gra­fisch als auch sozio­lo­gisch. Dies ist ein Buch des Widerstands. In jeder Hinsicht und beson­ders geni­al ist die Kritik der Autorin an der Flatrate-Mentalität, die sich in Menschen und Konsumverhalten der sich stän­dig selbst­be­die­nen­den fran­zö­si­schen Elite aus­drückt. Grossartig.