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Paradies: Glaube

Von Sonja Wenger - Ein Türschlüssel klickt. Eine Frau in geblüm­tem Kleid und mit lustig-stren­ger Hochsteckfrisur spricht ein Gebet vor dem gros­sen Kruzifix im Raum. Dann nimmt sie eine Geissel her­vor und peitscht sich ihren Rücken blu­tig: «Jesus, so vie­le Menschen sind vom Sex beses­sen. Befreie sie aus ihrer Hölle und nimm die­ses klei­ne Opfer von mir an», bit­tet sie die Figur am Kreuz – und der Grundton ist gesetzt.

Es ist die erste Szene aus «Paradies Glaube», dem zwei­ten Film der «Paradies»-Trilogie des öster­rei­chi­schen Regisseurs Ulrich Seidl (sie­he Ensuite April 2013), der in drei Handlungssträngen das Leben drei­er Frauen aus der glei­chen Familie in ihren Extremsituationen zeigt, und sich dabei mit den Themen Liebe, Glaube und Hoffnung aus­ein­an­der­setzt.

Viele wei­te­re Bet- und Geisselszenen mit teils absur­den Ausprägungen, aber in visu­ell per­fekt durch­kom­po­nier­ten Bildern wer­den der ersten Szene fol­gen. Doch anders als es der Titel ver­mu­ten lässt, ist es kein Film über Religion, nicht ein­mal über den wah­ren Glauben, was immer das sein könn­te. Vielmehr erzählt Seidl in «Paradies Glaube» die Geschichte einer zutiefst ver­letz­ten Seele, die, wohl ver­zwei­felt, eine Heimat gesucht und gefun­den hat – und die­se nun mit allen ihr zur Verfügung ste­hen­den Mitteln ver­tei­digt.

Diese ver­letz­te Seele gehört Anna Maria (Maria Hofstätter), einer Wiener Röntgen-assi­sten­tin, die ihr Leben voll und ganz der Keuschheit und dem katho­li­schen Glauben ver­schrie­ben hat. Ihre Tage sind erfüllt mit Beten, Loblieder sin­gen, Putzen – und Missionieren; schliess­lich gilt es, die vie­len Sünden der Menschen zu süh­nen. Regelmässig packt sie eine gros­se Statue der Mutter Gottes ein, fährt in die Vororte Wiens und klin­gelt an irgend­ei­ner Haustüre. Mit den Worten «die Mutter Gottes kommt zu Ihnen auf Besuch» dringt sie in die Wohnungen ein und nötigt deren über­rum­pel­te Bewohner jeweils zum Gebet. Der Widerstand hält sich dabei erstaun­li­cher­wei­se in Grenzen. Nur ein­mal wird Anna Maria in eine har­te Diskussion über Religion und Moral ver­wickelt, die sie aber dank der end­lo­sen Selbstgerechtigkeit des wah­ren Glaubens nicht ver­lie­ren kann.

Dass sich hin­ter Anna Marias uner­schüt­ter­li­chem Glauben noch eine tie­fe­re Geschichte ver­birgt wird in jenem Moment klar, als ihr Ehemann plötz­lich wie­der auf­taucht. Nabil (Nabil Saleh) ist quer­schnitts­ge­lähmt – und Moslem. Mehrere Jahre war er nach einem schwe­ren Unfall bei sei­ner Familie in Ägypten. Nun ist er zurück und for­dert Eherechte ein. Ein Unding für Anna Maria, die inzwi­schen nicht nur ihre Seele, son­dern auch ihren Leib Jesus ver­schrie­ben hat, und sich umso mehr an ihren Glauben klam­mert. Das Dilemma ent­lädt sich in einem bizar­ren Kleinkrieg zwi­schen den bei­den, der uralte Strukturen der gegen­sei­ti­gen Missachtung ent­hüllt, und der in vie­len klei­nen Andeutungen erah­nen lässt, was denn der Ursprung für Anna Marias Glaubensexzess gewe­sen sein könn­te.

Wie stets bei Seidls Filmen hal­ten sich komi­sche und bedrücken­de Momente die Waage und wird in Abgründe der Seele geblickt, ohne sich vor dem Blick zurück zu fürch­ten. Zugleich schafft es der Regisseur, sei­ne Figuren in all ihrer Verbohrtheit, ihren Exzessen, ihren Irrtümern und ihren Schwächen zu por­trä­tie­ren, ohne über sie zu urtei­len, und ohne den Klischees zu ver­fal­len. Das muss er auch nicht. Seidls Markenzeichen in all sei­nen Filmen ist – neben einer schmerz­haf­ten Authentizität – die akri­bi­sche Recherche.

Waren es im ersten Teil der Trilogie «Paradies Liebe» die Realitäten zum Thema Sextourismus in Afrika, denen Seidl in meh­re­ren Reisen vor Ort nach­ging, sind es in «Paradies Glaube» unter ande­rem die Ausprägungen des katho­li­schen Glaubens und sexu­el­le Tabus. Dabei woll­te Seidl jedoch nicht Kritik an der Kirche üben, son­dern zei­gen, in wel­che Exzesse ein all­zu fun­da­men­ta­li­sti­sches Denken füh­ren kann: «Wenn ich einen Film mache, geht es mir dar­um, die Wahrheit zu zei­gen. Zumindest, wie ich sie sehe», sag­te Seidl in einem Interview. Jede Zuschauerin und jeder Zuschauer soll – und darf – dar­aus dann die ganz per­sön­li­chen Schlussfolgerungen zie­hen.

«Paradies Glaube», Österreich 2012. Regie: Ulrich Seidl. Länge: 120 Minuten.

Foto: zVg.
ensuite, Mai 2013