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«Papers, Please – A Dystopian Document Thriller»

Von Andreas Meier – Die Idee von Videospiel als Kunst ist nicht neu. Seit dem Beginn der Videospiel-Ära hat es immer wie­der expe­ri­men­tier­freu­di­ge Spiele gege­ben, die sich in die­sen omi­nö­sen Raum vor­wag­ten, den man «Kunst» nennt. Doch seit der Explosion der Independent-Szene vor eini­gen Jahren ist das Thema so aktu­ell wie noch nie. Befreit von Herausgebern und der Last gros­ser Budgets began­nen vie­le Entwickler erfolg­rei­che und unge­wöhn­li­che Spiele zu desi­gnen, die noch vor kur­zem kaum denk­bar gewe­sen wären. «Arthouse»-Spiele wie «Gone Home» (sie­he letz­te Ausgabe) oder «Journey» haben wenig gemein­sam, abge­se­hen davon, dass sie bei­de bril­lant sind und vie­le Eigenschaften klas­si­schen Gamedesigns aus dem Fenster wer­fen. Diese Abwendung geht so weit, dass vie­le ein­ge­fleisch­te Spieler sie nicht als Videospiele bezeich­nen wol­len. Schliesslich kann man weder ver­lie­ren noch gewin­nen in «Gone Home» und «Journey». Es gibt kei­ne Probleme zu lösen, kei­ne Schwierigkeiten zu über­win­den. Es stellt sich die Frage: Steht die klas­si­sche Interaktion zwi­schen Spieler und Spiel in direk­tem Gegensatz zu «arti­sti­schen» Ambitionen?

Das Einmann-Projekt «Papers, Please» (2013) von Lucas Pope ver­neint die Frage. Der Untertitel des Spiels – «A Dystopian Document Thriller» – fasst das Spiel erstaun­lich gut zusam­men. Der gesichts- und namen­lo­se Protagonist ist der «Gewinner» einer Lotterie des fik­ti­ven kom­mu­ni­sti­schen Staates Arstotzka. Sein «Preis» ist eine Stelle als Immigrationskontrolleur an einem neu eröff­ne­ten Grenzübergang. Die Aufgabe des Spielers ist es, die Dokumente der Immigranten zu inspi­zie­ren und per rotem oder grü­nem Stempel über ihre Aufnahme oder Abweisung zu ent­schei­den. Das ist alles.

Eine Bürokratie-Simulation hört sich nach einem unwahr­schein­lich schlech­ten Konzept für ein Spiel an, doch der «Thriller»-Teil im Titel trifft völ­lig zu. Aber wie macht «Papers, Please» die Wahl zwi­schen Rot und Grün so invol­vie­rend?

Jede Entscheidung ist, was die Spielmechanik anbe­langt, ent­we­der rich­tig oder falsch. Weist man jeman­den ab, des­sen Dokumente in Ordnung sind, oder lässt jeman­den hin­ein, des­sen Dokumente gefälscht oder abge­lau­fen sind, erhält der Spieler eine Warnung. Zu vie­le Warnungen bedeu­ten Geldbussen. Nach jedem Arbeitstag wird Geld benö­tigt, um Miete, Heizung und Nahrung für die Familie zu bezah­len. Zu wenig Geld, und die Familie kann erfrie­ren, ver­hun­gern oder an Krankheiten zugrun­de gehen.

Die Höhe des Lohnes hängt von der Menge der kor­rekt beur­teil­ten Fälle ab, was den ersten inter­es­san­ten inne­ren Konflikt aus­löst: Soll ich mich beei­len und Fehler ris­kie­ren, oder mir Zeit neh­men und weni­ger Lohn in Kauf neh­men? Es hilft nicht, dass «Papers, Please» kein ein­fa­ches Spiel ist. Es gibt dut­zen­de von Informationen auf den Dokumenten, die feh­ler­haft sein könn­ten, und jeden Tag ändern sich die Regeln ein wenig. Nach poli­ti­schen Unruhen etwa müs­sen alle Pässe von Bürgern aus einem gewis­sen Distrikt kon­fis­ziert wer­den. Oder eine Epidemie in einem Nachbarsstaat führt dazu, dass zur Immigration ein gül­ti­ger Impfausweis nötig ist. Dazu kom­men noch wie­der­hol­te Terroranschläge auf den Grenzübergang.

Der Geniestreich von «Papers, Please» ist nun, wie die­se spiel­tech­ni­sche Schwierigkeit mit der Schwierigkeit ethi­scher Entscheidungen ver­bun­den wird. Das beschrie­be­ne Spielsystem ist iden­tisch mit dem System des tota­li­tä­ren Staates. Spielt man nach den Regeln des Spiels, spielt man auch nach den Regeln des Regimes. Der zwei­te, weit inter­es­san­te­re inne­re Konflikt ist der zwi­schen Gehorsam und Ungehorsam, und «Papers, Please» schiebt einem wie­der und wie­der Situationen zu, die einen zwin­gen sich zu fra­gen, ob der Lohn des Ungehorsams grös­ser ist als die dro­hen­de Busse. In man­chen Fällen geht es schlicht um Geld. Lässt du dich bestechen, um einen ver­zwei­fel­ten Immigranten ohne kor­rek­te Dokumente durch­zu­las­sen? Deine Familie braucht das Geld. Doch Geld ist nur ein Aspekt. Ein kon­stan­tes Thema ist die Frage, ob der Spieler bereit ist, sei­ne eige­ne Sicherheit und die sei­ner Familie zu gefähr­den, um einem Fremden zu hel­fen. Lässt du die Geliebte einer Grenzwache ins Land, obwohl sie kei­ne gül­ti­gen Dokumente hat? Weist du einen mut­mass­li­chen Frauenhändler ab, obwohl er ein Bürger von Arstotzka ist? Es gibt in die­sen Fällen kei­ne Belohnung für die gut­her­zi­gen Entscheidungen, abge­se­hen davon, dass einem ein schlech­tes Gewisses erspart bleibt.

Es ist kei­ne Wahl zwi­schen Gut und Böse. Zu viel Altruismus oder Auflehnung, und der Spieler wird hart bestraft. Es ist eine Gratwanderung, bei der es kei­ne abso­lut rich­ti­gen oder fal­schen Entscheidungen gibt. «Papers, Please» hat 20 mög­li­che Enden. Einige sind depri­mie­rend und düster, ande­re hoff­nungs­vol­ler. Doch es gibt kein «rich­ti­ges» Ende, zumin­dest kei­nes, das das Spiel als sol­ches impli­ziert. Der Spieler hat mit sei­nen eige­nen Entscheidungen zu leben.

«Papers, Please» geht mit kom­ple­xen und schwie­ri­gen Themen auf spie­le­ri­sche und zugleich erwach­se­ne Weise um, und beschämt damit die unzäh­li­gen ein­falls- und sub­stanz­lo­sen Spiele mit 100-Mann Entwicklerteams und Budgets von zig Millionen. Es zeigt, dass Spiele ihr eige­nes Medium nicht zurück­las­sen müs­sen, um mehr zu sein als «nur» Unterhaltung.

«Papers, Please» ist unter ande­rem erhält­lich auf www.papersplea.se für 9.99$ als Download für Windows und Mac. Rudimentäre Englischkenntnisse sind erfor­der­lich. Eine Demo und eini­ge kosten­lo­se Spiele von Lucas Pope kön­nen auf www.dukope.com her­un­ter­ge­la­den wer­den.

Foto: zVg.
ensuite, Januar 2014