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Operation am offe­nen Herzen

Von Anna Vogelsang (Erstpublikation nach der Reise im Oktober im ensuite 227, November 2021) - Wenn wir heu­te die Nachrichten über und aus Russland anschau­en oder hören, dann steht es um das Land nicht so rosig. In den letz­ten zehn Jahren hat sich das Image des Landes dra­ma­tisch ver­schlech­tert. Zugegeben, es gab zu viel Kontroverses, aus euro­päi­scher Sicht Unverständliches und nicht Akzeptables. Vor allem die poli­ti­schen Handlungen sowohl im Inland wie auch auf dem inter­na­tio­na­len Parkett waren der Grund für Empörung, Ärger und Sanktionen: Seien es Giftanschläge, Verstösse gegen Menschenrechte, mani­pu­lier­te Wahlen, die Annexion der Krim, die Aussenpolitik usw. Mit dem über­wie­gen­den Teil der Landesbevölkerung hat­te das alles wahr­lich wenig zu tun. Doch abge­stem­pelt wird das gan­ze Land, sprich jeder und jede Einzelne. Als Resultat begeg­nen wir den Leuten aus Russland heu­te nicht mehr so offen­her­zig, man «beschnup­pert» sich gegen­sei­tig mit Misstrauen. Ich selbst erleb­te, wie schnell zuerst wit­zi­ge, freund­li­che, spon­ta­ne Gespräche mit Russinnen und Russen abrupt ende­ten, wenn ich eine rela­tiv harm­lo­se poli­ti­sche Frage stell­te.

Generell erleb­ten wir in den letz­ten zwan­zig Jahren eine rasan­te Entwicklung in Sachen Überwachung und Sicherheit – alles 9/11 geschul­det. Das Attentat lie­fer­te die Legitimierung für die dar­auf­fol­gen­den mas­si­ven Verstärkungen betref­fend natio­na­le Sicherheit. In Staaten, in denen eine halb­wegs funk­tio­nie­ren­de Demokratie – mit allen Vorbehalten – exi­stiert, wur­den die Neuerungen mit einem gewis­sen Bedacht und einer vor­han­de­nen Kontrolle sei­tens Öffentlichkeit, Medien und oppo­si­tio­nel­len Parteien durch­ge­führt. In den Scheindemokratie-Ländern wucher­te die staat­li­che Überwachung.

Nach den Terroranschlägen wur­den in Russland an allen Bahnhöfen und in der Metro Körper- und Gepäckscanner instal­liert. Ich wur­de wegen mei­ner gros­sen Sporttasche inner­halb weni­ger Tage mehr­mals «gefilzt». Was mich aber wirk­lich über­rasch­te, war, wie weit die digi­ta­len staat­li­chen Dienstleistungen in Russland sind. Früher muss­te man für jedes Dokument, jede Bestätigung oder Auskunft bei den Behörden per­sön­lich antan­zen, stun­den­lang Schlange ste­hen und hof­fen, dass man vor dem Feierabend noch dran­kommt. Heute kann jeder Bürger und jede Bürgerin einen per­sön­li­chen digi­ta­len Account bei den staat­li­chen und städ­ti­schen Behörden erstel­len, alle vor­han­de­nen per­sön­li­chen Dokumente als PDF-Dateien drauf­la­den, allen Behörden Zugriff dar­auf erlau­ben und fer­tig: Alles wird digi­tal abge­wickelt – neue Dokumente bean­tra­gen, Bankkarten-Infos, Mobiltelefonrechnungen, Steuern, Parkbussen, Kindergartenrechnungen, Studiengebühren, Stromrechnungen usw. Einerseits prak­tisch, ande­rer­seits gibt’s kei­ne Barriere zwi­schen den unter­schied­li­chen Behörden und Institutionen. Wie die Informationen im Hintergrund aus­ge­tauscht wer­den – davon bekom­men die User nichts mit. Die BürgerInnen wer­den aus­ser­dem ermu­tigt, auch ihre Fingerabdrücke und ande­re bio­me­tri­sche Daten auf dem Account zu hin­ter­le­gen. Man wird zu einem glä­ser­nen Menschen. Doch das Vertrauen in die Regierung ist eher durch­wach­sen (die gran­di­os miss­lun­ge­ne Impfkampagne gegen Covid-19 ist das beste Beispiel dafür).

Das Land ist ein unend­li­cher (Alb-)Traum: Man weiss, dass etwas nicht stimmt, aber was, fin­det man nicht her­aus. All die Erklärungen, dass nur eine Person dafür ver­ant­wort­lich sei, sind naiv. Es ist ein Apparat, eine Kaste und ein eta­blier­ter Handlungskodex, die für das unend­li­che Spektakel ohne Progress und ohne Zukunft ver­ant­wort­lich zeich­nen. Das Ergebnis: Das Land und die Menschen sind wie ein Hamster im Rad, jeg­li­che Abweichungen, die zu einer Entwicklung füh­ren könn­ten, wer­den im Keim erstickt. Das Land steckt in einer spi­ral­för­mi­gen Rezession. Das poli­ti­sche Klima ist ver­gif­tet, die Opposition ist still­ge­legt.

Bezüglich der Lage der Medien in Russland spre­chen alle von Zensur. Doch es geht viel­mehr um den Informationsfluss und des­sen Kontrolle, nicht nur um Verbreitungsverbote bestimm­ter Inhalte. Eine ehe­ma­li­ge Angestellte der staat­li­chen Nachrichtenagentur RIA Novosti (neu «Rossija Sewodnja» oder zu Deutsch «Russland heu­te») erzähl­te mir von ihrem Alltag und ihrem Ausstieg aus die­sem, wie sie sag­te, «gol­de­nen Käfig». Wie in jeder Redaktion wur­den auch bei RIA Novosti die Aufgaben gleich­mäs­sig auf­ge­teilt. Doch die Aufgaben kamen nicht aus der Chefetage der Redaktion, son­dern «von aus­sen», «von oben». Dabei wur­den die Gewichtung der ver­schie­de­nen Themen, die Leitsätze und das Narrativ klar defi­niert und vor­ge­schrie­ben. Auf die­se Weise wur­den auch kri­ti­schen Sachverhalte und Themen, die für die Regierung nicht «bequem» sind, behan­delt und kom­mu­ni­ziert. Auch die Themen Zensur, Opposition oder Kriegs- und Politkonflikte wur­den auf die­se Weise gezielt behan­delt und so «prä­pa­riert», dass der Eindruck ent­ste­hen soll­te, dass im Land Meinungsfreiheit herrscht. Damit steu­ert man die öffent­li­che Meinung ganz geschickt, denn alle Themen wer­den beleuch­tet. Die «jour­na­li­sti­sche» Arbeit bestand aus einem von oben erteil­ten Staatsauftrag.

Die Arbeitsbedingungen, so die ehe­ma­li­ge Journalistin, waren aber her­vor­ra­gend: sozia­le Leistungen, hohe Löhne, eine sehr gute Rente in Aussicht, ein Sportsaal, ein Restaurant, Bars und sogar ein Schönheitssalon – alles an einem Ort, alles, damit die RedaktorInnen sich wohl­füh­len. Sollte mal jemand zu lan­ge arbei­ten, so konn­te man vor Ort ein Hotelzimmer bezie­hen. Wenige wag­ten es, aus die­sem Käfig aus­zu­bre­chen. Denn gleich­wohl soll­ten die JournalistInnen alle Ideale und Vorstellungen über ihren Berufskodex ver­ges­sen und begra­ben. Na ja, ich habe das nicht mit eige­nen Augen gese­hen, aber die Geschichte tön­te plau­si­bel.

Meine Heimatstadt ver­pass­te mir im Oktober einen Kulturschock, nicht weil sich viel ver­än­dert hat – weil vie­les genau­so absurd, destruk­tiv und aus­sichts­los ist wie je und je. Auf der einen Seite gibt’s tol­le neue Initiativen, Start-ups wagen etwas auf­zu­bau­en, Kulturzentren in ehe­ma­li­gen Fabriken beackern fast ver­ges­se­ne Plätze und hau­chen ihnen neu­es Leben ein. Neu-Holland – eine Insel mit­ten in der Stadt, eine ehe­ma­li­ge Militärzone, die wäh­rend fast drei­hun­dert Jahren für die Öffentlichkeit geschlos­sen war – wur­de zu einer Erholungsoase mit einem Park, einer Bühne, mit Spielplatz und Petanque, Kräutergarten, einer Handvoll tol­ler Beizen und Restaurants, Mieträumen, einem Museum und Galerien. Na gut, das ist ein Vorzeigeprojekt des Roman Abramowitsch gehö­ren­den «New Holland Development» (Millhouse LLC) – am Geld soll­ten die teu­ren Sanierungsarbeiten nicht schei­tern.

Auf der ande­ren Seite sah ich eine an Smog und Autos ersticken­de Stadt und das Missmanagement der städ­ti­schen Verwaltung, das sich unter ande­rem in Stadtentwicklung, Neubauten und kata­stro­pha­len Zuständen auf den Strassen mani­fe­stier­te. Ich sah aus Sowjetzeiten in die Gegenwart kata­pul­tier­te trost­lo­se Büros der öffent­li­chen Verwaltung, hör­te von mise­ra­blen Löhnen im öffent­li­chen Sektor, in Spitälern und Schulen, vom desa­strö­sen Zustand des Bildungssystems, von Korruption bei der Polizei und frag­wür­di­ger Migrationspolitik.

In Russland ist es wie immer: Ein wahn­sin­ni­ges Potenzial geht Hand in Hand mit abso­lu­ter Aussichtslosigkeit. Vielleicht liegt dar­in der Kern des Landes, das wie ein Pferd inner­lich rennt und zugleich wäh­rend Jahrzehnten, Jahrhunderten gefes­selt am glei­chen Platz steht.

 

Bild: Kultur- & Businesszentrum Sevkabel Port / Fotos: A. Vogelsang