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Oli Kuster – Menschenwerk

Von Werner Bucher – Ein Ausland-Stipendium wird för­de­rungs­wür­di­gen KünstlerInnen gewährt und ist gleich­zei­tig eine Anerkennung für deren Schaffen. Viele möch­ten es, Oli Kuster hat es gekriegt. Ein Besuch in Berlin.

Über die hek­ti­sche Karl Marx-Allee im Stadtteil Friedrichshain gelangt man im wohl­tu­end ruhi­gen zwei­ten Hinterhof ins Residenzatelier der Städte Thun, Winterthur, St. Gallen und des Kantons Bern. Dort arbei­tet zur­zeit der Berner Pianist, Keyboarder und Komponist Oli Kuster, unter ande­rem bekannt gewor­den als Mitglied von «Züri West» und neu­er­dings mit dem Projekt «Hand Werk», der Band «Menschmaschine» mit Jazzversionen von Songs der deut­schen Elektro-Pop-Pioniere «Kraftwerk».

Hinterm Horizont Im lau­fen­den PC sind fri­sche Aufnahmen zur Bearbeitung bereit, auf dem Klavier lie­gen Werke von Bach, Ravel, Bartók, die unspiel­ba­ren Etüden Ligetis, Monk-Transkriptionen, ein win­zi­ges Real-Book, offe­ne Notizbüchlein mit ver­schlüs­sel­ten Musik-Kritzeleien, dane­ben Fender-Rhodes, Synthi, Mikrofone, Musikutensilien. «Beim Komponieren ver­su­che ich nur an die Musik und ihre Parameter zu den­ken», beginnt Kuster zu erzäh­len, «nicht an die Band, nicht an ein Arrangement, zuerst muss jedes ein­zel­ne Problem gelöst wer­den, und die Musik soll auch solo spiel­bar sein. Wichtig sind mir Linearität, Stimmführung, Chromatik. Es ist manch­mal schwie­rig, dar­aus Chords zu defi­nie­ren, die zur Improvisation tau­gen.» So ent­steht aller­dings auch etwas wirk­lich Neues, nichts bereits Vorgespurtes. Eine fein gear­bei­te­te, eigen­stän­di­ge Musik, die inno­va­tiv in eine neue Richtung geht, ohne über-kon­stru­iert zu sein; nichts, was man in die «Klingt Wie-Ecke» legen könn­te, wes­halb es manch­mal mehr Zeit zum Verstehen braucht. «Stücke ent­ste­hen öfters auch beim Herumspielen mit musi­ka­li­schen Bausteinen, zum Beispiel alle mög­li­chen und unmög­li­chen Kombinationen und Schichtungen von Sexten. Manchmal notie­re ich auch klei­ne Ideen, die sich erst nach lan­ger Zeit zu einem Stück aus­wei­ten. Natürlich gibt es auch Aufträge aus der Filmmusik und Werbung, das ist ein ganz ande­rer Input, mehr the­ma­tisch. Meine eige­ne Musik dage­gen ist mir hei­lig.» Kusters Visionen wei­sen manch­mal fast über den Jazz hin­aus in die soge­nann­te Neue Musik – dort hin­term Horizont, wo die Welt noch nicht gänz­lich erforscht ist. Seine Arbeiten sind aber durch­aus von Spurenelementen des Blues durch­wirkt und genaue­stens struk­tu­riert. Als Vorbilder nennt Kuster Craig Taborn und Jason Moran.

Ausgetüftelte Sounds «Die Form zu fin­den ist ein län­ge­rer Prozess, und man­che Formen ändern sich auch im Laufe der Zeit wie­der.» Kusters Formgefühl ist jeden­falls untrüg­lich, rührt ver­mut­lich von der jah­re­lan­gen Beschäftigung mit Pop-Musik her. Seine Hauptbeschäftigung in Berlin ist denn auch die Fertigstellung einer CD für die Elektro-Pop-Band «AEIOU» – Claire Huguenin und Djemeia – voc, Oli Kuster – comp, Keys, Kevin Chesham – dr, zum gros­sen Teil in Bern auf­ge­nom­men und in Berlin edi­tiert und gemischt. Auch hier zeigt sich die per­sön­li­che Handschrift des uner­müd­li­chen Arbeiters. Insbesondere das Editieren ist eine lang­wie­ri­ge Knochenarbeit. «Im Pop ist Form aller­dings ziem­lich vor­de­fi­niert, es sind eher die aus­ge­tüf­tel­ten Produktionen und die Sounds, die das Genre erneu­ern. Ich bin fas­zi­niert von der Respektlosigkeit der heu­ti­gen musi­ka­li­schen Jugend im Umgang mit Herkömmlichem. Alles was gefällt und passt wird gemasht und so zu etwas Neuem geformt.»

Re-Inkarnation Da scheint es fast wie Anachronismus, dass Kuster sich mit Kraftwerk-Songs beschäf­tigt, aber genau da zeigt er eine inter­es­san­te Ambivalenz in sei­nem Schaffen. Der gros­se Erfolg vor allem in Deutschland signa­li­siert, dass er auf dem rich­ti­gen Weg ist. Kraftwerk waren in den Siebzigern auch Innovatoren, deren Endergebnisse der dama­li­gen Computertechnik wegen aber rela­tiv künst­lich ste­ril aus­fie­len – mit heu­ti­gen Maßstäben gemes­sen. Sie erhal­ten durch «Menschmaschine» (Oli Kuster – p, Domenic Landolf – ts, b‑cl, Christoph Utzinger – b, Kevin Chesham – dr und als Gastsängerin Nadja Stoller) eine Re-Inkarnation im wahr­sten Sinne: Wärme, hin­ter­grün­di­ger Humor, fleisch­ge­wor­de­ner Rhythmus, und mensch­li­cher Live-Jazz mit all sei­ner Spontaneität. Die Musik kriegt über den übli­chen Drei Minuten-Pop hin­aus die Zeit, die sie braucht zum Atmen. Obschon die­ses Projekt im Kollektiv ent­stan­den ist, durch­drin­gen Kusters Einfälle das Ganze maß­geb­lich. «Die mei­ste Zeit geht lei­der mit Release orga­ni­sie­ren und son­sti­gem Bürokram drauf.» Umso erstaun­li­cher, wie viel­fäl­tig und umfang­reich Kusters Werk sich prä­sen­tiert. Sein Klavierstil ist ein­la­dend und lockt her­bei. Er ist kein Tastenlöwe, der einem sei­ne Musik um die Ohren schlägt und dabei brüllt: «take it or lea­ve it!» Er ist viel­mehr eine erfah­re­ne Katze, die war­ten kann, um dann im rich­ti­gen Moment das Richtige zu tun. Sein Spiel ist offen und schöpft den­noch aus dem Vollen, nie domi­nant, stän­dig wei­ter­ge­bro­chen. Sein Anschlag leuch­tet schim­mernd, wenn der Kontext es zulässt. Ist es nicht so, wie wir uns das alle immer vor­ge­stellt haben?

Infos: www.olikuster.ch

Oli Kuster, gebo­ren 1968 in Bern, Ausbildung an der Jazzschule Luzern, Jazz- und Rockschule Freiburg im Breisgau und an der New School in New York u.a. bei George Cables, Geri Allen, Michelle Rosewoman und Fred Hersch. Diverse CDReleases mit der Oli Kuster Kombo, Züri West, Menschmaschine, Lumi, Pola, Mich Gerber, Gilbert Paeffgen. Tourneen durch ganz Europa, zahl­rei­che Filmmusik-Projekte.

Diskografie (Auswahl):
- Gilbert Paeffgen Trio «X99», nagel heyer (2012)
– Menschmaschine «Hand Werk», meta records (2011)
– Oli Kuster Kombo «Flokati», Unit Records (2009)

 

 

 

Foto: zVg.
ensuite, November 2012