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Observatio VII

Nun gab es, was er fast schon ver­ges­sen hat­te, am Drehgestell des Kiosks nicht nur die Lustigen Taschenbücher, son­dern auch jene Heftchen, grös­ser im Format, aber wesent­lich dün­ner, die von den ame­ri­ka­ni­schen Superhelden kün­de­ten; das Mädchen mit der blau­en Jacke liess sie seit je links lie­gen. In Wahrheit hat­te sie Angst vor der Lektüre, denn sie ekel­te sich vor den Figuren, wie er zufäl­lig vom Bus aus bemerkt hat­te; nicht etwa nur vor den ver­schla­gen wir­ken­den, genau­so vor den eigen­tüm­lich rot und blau ver­klei­de­ten Gestalten, die, merk­wür­dig genug, in eng­an­lie­gen­den, der Tierwelt nach­emp­fun­de­nen Kostümen auf­tra­ten, her­um­flo­gen, kämpf­ten und, oft und oft, auch sieg­ten. Darunter ein fin­ster aus­se­hen­der Fledermausmann, Batman, den sie der auf­ra­gen­den schwar­zen Ohren wegen ver­ab­scheu­te – obgleich sie erkann­te, dass er einer der Guten war. Er über­leg­te im Bus, ob die­se Fähigkeit zur Unterscheidung dem kind­li­chen Instinkt des Mädchens geschul­det oder ganz ein­fach auf die all­zu schlich­te Natur die­ser Heftchen zurück­zu­füh­ren war – Batman hat­te als Junge mit anse­hen müs­sen, wie sei­ne Eltern von Gangstern getö­tet wur­den, und folg­te spä­ter, trau­ma­ti­siert, in einer Art Rache als Lebensweise dem doch düste­ren Impuls, ande­ren nur Gutes ange­dei­hen zu las­sen, sie eben vom Bösen zu bewah­ren; etwa vor Joker, sei­nem Erzfeind, auch er ein Traumatisierter, von der Angst gelei­tet, der Verlustangst, miss­han­delt als Kind von sei­nem Vater, dem Mörder sei­ner Mutter, der ihm ein Messer in den Mund drück­te und dabei die Wangen auf­schlitz­te zu einem über­gros­sen Lachen, auf dass der Junge stets fröh­lich wir­ke, wenn er ande­re umbringt. In die­sem fal­schen Lachen fan­den Joker und Batman ant­ago­ni­stisch zuein­an­der, ganz Gegensatzpaar, steif und fest in ihrer Überzeugung, das – gleich für die Menschheit – Richtige zu tun.

In der Blauen Stunde wirk­te das Theater der Künste in der Gessnerallee so starr wie die Kasernenstallung, die es einst gewe­sen war. Er stieg aus dem Bus, ging über die Brücke, erreich­te das Gebäude. Im Innern traf er auf Batman und Joker. Er hat­te sie erwar­tet. Sie spiel­ten ihr wort­rei­ches Spiel, der Fledermausmann und der gewalt­tä­ti­ge Verrückte mit den roten Haaren, aber sie spiel­ten es hier ein letz­tes Mal; der fina­le Kampf zwi­schen Gut und Böse ende­te mit der – tat­säch­li­chen oder ver­meint­li­chen – Läuterung der Figuren, ganz so, wie sich das die inspi­rier­te Regisseurin Laura Koerfer und ihre sechs Schauspieler eben aus­ge­dacht und ein­an­der unter Zuhilfenahme von Textpassagen aus unter­schied­li­chen Werken (von Buddha über Nietzsche bis Shakespeare) gegen­sei­tig in den Mund gelegt hat­ten – mit einer je per­sön­li­chen Abkehr oder fast mit einer sol­chen, mit Comicfiguren, die sich zu Charakteren ent­wickelt hat­ten, zur Einsicht oder zumin­dest zur Introspektion befä­hig, die auch so weit gehen konn­te, dass die Spielenden ein­an­der als Spielende anspra­chen, ihrer Rolle ent­le­digt. Batman heg­te für sei­nen Widersacher (den beein­drucken­den Claudio Gatzke) kei­nen Hass mehr, son­dern Mitleid, wo doch der Comic kei­ne Entwicklung in den Figuren kennt und kei­ne Sprache aus­ser sei­ner selbst. Koerfer und die Spielenden (Yanna Rüger über­zeugt als herr­lich mani­pu­la­ti­ver Weisser Clown) haben das Gegenteil bewie­sen, denkt er, wie­der im Bus, nun­mehr durch die Nacht. Der Kiosk hat­te zu.

«Batman Genesis», Fragmente aus dem Mythos. Von Absolventen und Studierenden der ZHdK. Regie: Laura Koerfer. Mit Mehmet Atesci, Claudio Gatzke, Urs Humbel, Maximilian Kraus, Yanna Rüger, Rahel Sternberg. Theater der Künste, Gessnerallee, Bühne B. Fünf Aufführungen zwi­schen dem 24. Mai und dem 2. Juni. Besuch am 31. Mai 2012.

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