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Observatio VI – Platons Airbus/Verborgene Universen

«Ich bin mir nicht ganz sicher, ist Sprache das Schiff oder das Meer, auf dem das Schiff fährt.»

«Ich kom­me so biss­chen ins Schwitzen, weil ich nicht weiss, haben wir zu viel oder zu wenig Material – mir kommt es auf Folgendes an…»

Solche Sätze sind cha­rak­te­ri­stisch für Nils Röller; wobei das Eingeständnis der eige­nen zeit­wei­li­gen Unsicherheit nichts Kokettes hat, dafür weiss er schlicht zu viel, und mei­stens weiss er auch, wo er hin will mit sei­nen Gedanken, was ihm erlaubt, sie kunst­voll mäan­drie­rend zu ent­wickeln. Denn Nils Röller doziert nicht, er denkt (mit lei­ser, kon­zen­trier­ter Stimme) laut nach über Phänomene, die ihn beschäf­ti­gen, mit denen er sel­ber viel­leicht nicht ganz zu Rande kommt, und dar­an lässt er die Studierenden teil­ha­ben, die stets auf­ge­for­dert sind, mit­zu­dis­ku­tie­ren, ihre Einwände und Eindrücke ein­zu­brin­gen – wovon sie durch­aus Gebrauch machen. Nils spricht frei, ohne Manuskript oder Notizen; ein­zig Bilder zum Zeigen hat er auf sei­nem Laptop dabei – vie­le Bilder von Kunstwerken, die ihn inspi­rie­ren, und auf die er zurück­greift, wenn er den Boden zu ver­lie­ren glaubt. Seit kur­zem ver­teilt er jeweils pro Sitzung ein Handout, damit die Studierenden nicht nur ihn als Gedankenakrobaten bestau­nen, son­dern Quellentexte nach­le­sen und Informationen über­prü­fen, einer Sache fun­dier­ter nach­ge­hen kön­nen.

Grundfragen

Gerne stellt er (in sei­ner Vorlesung Platons Airbus) «ein­fa­che» Grundfragen; etwa «wie kommt es, dass nicht mehr Leute aus­ra­sten, die Beherrschung ver­lie­ren, wenn sie in einem Airbus sit­zen, über vie­le Stunde hin­weg ein­an­der und der Situation aus­ge­lie­fert, der Tatsache des In-der-Luft-Seins, exi­sten­ti­ell ange­wie­sen auf das Funktionieren der Technik und die Kompetenz der Mannschaft?» Jede Ordnung ist men­schen­ge­macht; Schritt für Schritt ent­wickelt Nils Röller aus der bedrän­gen­den Enge des Airbus den Imaginations- und Simulationsraum der Kunst, geht ihren Ursprüngen nach (das rhyth­mi­sche Schleifen unse­rer Ahnen an einem Knochen als Akt, der Ruhe schafft), um Sekunden spä­ter in der Moderne zu lan­den und neue Businessmodelle zu ent­wickeln wie man z.B: das Bedürfnis nach Bewegungsspielraum auf Langstreckenflügen berück­sich­ti­gen und damit Geld ver­die­nen könn­te, auch mit Passagieren, die sich kein Erstklasseticket lei­sten kön­nen oder wol­len, aber bereit wären, einen Aufpreis zu bezah­len für zwei Stunden in einem Ruhesessel, der von meh­re­ren Interessierten abwechs­lungs­wei­se gemie­tet wer­den könn­te.

Er habe, sagt Nils Röller spä­ter im Gespräch, als jun­ger Dozent damit begon­nen, Professoren zu imi­tie­ren, sich damit aber stets unwohl gefühlt. Mittlerweile fühlt er sich offen­sicht­lich wohl bei dem, was er tut und wie er es tut – was zum Glück für alle Studierenden kei­nes­falls dazu führt, dass er etwa bequem gewor­den wäre, eher im Gegenteil.

«Wir sind nicht ver­pflich­tet, wie Wissenschaftler, zu glät­ten», sagt Nils Röller ein­mal, und genau das ist einer sei­ner Untersuchungsgegenstände, das Verhältnis von Kunst und (exak­ter) Wissenschaft wie zum Beispiel Physik; des­halb steht auch ein Besuch im CERN mit den Studierenden auf dem Programm (wie ger­ne wäre ich mit­ge­reist, wie not­wen­dig erschei­nen mir gera­de sol­che Ausflüge, den­ke ich etwa an die Aufnahmeprüfungen für den Studiengang Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern; wenn da eine oder eine kommt und sagt, ich weiss nicht, soll ich nicht doch lie­ber Physik stu­die­ren, raten wir immer zu Physik oder Chemie oder Medizin; schrei­ben kann der oder die Betreffende danach immer noch, wenn es wirk­lich sein soll, und wie viel mehr Wissen wird er oder sie ein­brin­gen in seine/ihre Literatur).

Vermittlungsarbeit

Die Kunst, so meint Nils in der Kritik zu einer Fotografie von Thomas Struth: «Stellarator Wendelstein» (eine Versuchsanlage des Max-Planck-Instituts zur Stromerzeugung mit­tels Kernfusion), die ein wil­des Durcheinander von Kabeln und Apparaturen zeigt, sol­le sich nicht damit zufrie­den geben (wie o.g. Fotografie), das Nichtverstehen zu insze­nie­ren, son­dern müs­se und kön­ne Vermittlungsarbeit lei­sten, indem sie eige­ne Bilder für Phänomene wie etwa den Magnetismus erfin­de; am Beispiel einer Holzschnitt-Version des «Schreis» von Edward Munch – das gan­ze Bild besteht aus kreis­för­mi­gen «Feldern», die schrei­en­de Figur und ihre Umgebung, die sich inein­an­der auf­lö­sen, nicht mehr klar von­ein­an­der zu unter­schei­den sind – lässt sich das sehr schön zei­gen; wobei Munch natür­lich nicht die Feldtheorie ver­mit­teln woll­te, son­dern einem inne­ren Empfinden – ein Schrei, der alles durch­dringt, Natur und Mensch – bild­haf­ten Ausdruck ver­lie­hen hat; was wie­der­um die Frage auf­wirft, die spä­ter an die­sem Tag in der Vorlesung «Platons Airbus» dis­ku­tiert wird; haben Künstlerinnen und Künstler etwa ein spe­zi­fi­sches Sensorium, eine genaue­re Selbst- und Weltwahrnehmung, sind sie, wie Mussolinianhänger Ezra Pound schrieb, gar «die Antennen der Gattung»?

Eher ist es wohl so, dass sie, wenn sie ihre Arbeit sorg­fäl­tig machen, ihre Wahrnehmung ver­fei­nern, sodass sie als SchriftstellerInnen zum Beispiel, «die Normalsprache zum Stottern brin­gen, oder zum Zittern, […] das ist […] die Fremdsprache in der Muttersprache.» (Deleuze und Guattari, Was ist Philosophie).

Lukrez-Studien

Für das Seminar «Verborgene Universen», das Nils Röller gemein­sam mit Christian Fürholz kon­zi­piert hat und durch­führt, war die Aufgabe, sich mit dem sechs­bän­di­gen Werk De rer­um natu­ra (Über die Natur der Dinge) von Lukrez zu beschäf­ti­gen, und zwar in drei­fa­cher Weise; zunächst lesend und so, die Weltvorstellung des Lukrez (eini­ger­mas­sen) nach­voll­zie­hend, sich Wissen aneig­nend; spä­ter pro­du­zier­ten die Studierenden je ein Fanzine, also eine hap­tisch-visu­el­le künst­le­ri­sche Umsetzung des Gelesenen; drit­tens galt es, je eine Audiodatei her­zu­stel­len, auch im Hinblick auf eine ein­stün­di­ge Radiosendung bei Radio LoRa, die etwas vom Seminarinhalt für ein brei­te­res Publikum ver­mit­teln soll. (Mittlerweile wur­de sie pro­du­ziert und ist hier nach­zu­hö­ren.)

Auch das ist bezeich­nend für die Art und Weise, wie Nils Röller sei­ne Arbeit an der ZHdK ver­steht: Aneignung, Umsetzung, Vermittlung über die Hochschulgrenzen hin­aus – auch wenn die ersten Ergebnisse noch beschei­den sind. Ich benei­de die Studierenden bei­na­he ein wenig; mit wie viel Verve kön­nen sie sich in ihre Aufgaben stür­zen, das Lukrezsche Werk hält so viel Denk- und Arbeitsmaterial bereit; bie­tet soviel «Fremdsprache», d.h. sprach­li­che Bilder, die sich nicht sofort erschlies­sen; ein gross­ar­ti­ges Objekt, um sich dar­an «abzu­ar­bei­ten» – und dies tun die Studierenden mit erstaun­li­cher inhalt­li­cher und metho­di­scher Breite. Einer ruft sei­ne gan­ze Verwandt- und Bekanntschaft an, um Menschen unter­schied­li­cher Herkunft und von jung bis alt zu ihren Vorstellungen von Seele zu befra­gen; eine ande­re fal­tet aus Transparentpapier eine kom­ple­xe Landkarte, die teil­wei­se beschrif­tet ist, sodass sich je nach «Entfaltungszustand» ver­schie­de­ne Lesarten eines Lukrezschen Satzes zei­gen; eine drit­te unter­legt ihren Lukrez-Text mit der Tonspur eines Handyfilms, den ein Tourist am 26. Dezember 2006 auf­ge­nom­men hat, als er und sei­ne Familie vor dem Tsunami flo­hen, noch ohne zu rea­li­sie­ren, was genau sich da vor ihren Augen abspiel­te.

Die Audioarbeiten stell­ten für die mei­sten Studierenden eine grös­se­re Herausforderung dar; auch weil man­che zum ersten Mal eine Tonspur gestal­te­ten; das Gespräch in der Gruppe über die kur­zen Beiträge war denn auch eher ver­hal­ten; nie­mand soll­te ent­mu­tigt, viel­mehr das spür­ba­re Engagement der Studierenden genutzt wer­den für den näch­sten wich­ti­gen Schritt, die Überarbeitung. Erstaunlich den­noch die wenig aus­ge­bil­de­te Fähigkeit, das eige­ne Tun zu reflek­tie­ren bzw. (gemein­sam) eine Sprache zu ent­wickeln, die es dem Einzelnen erlau­ben wür­de, von der Gruppensituation stär­ker zu pro­fi­tie­ren, dar­aus sowohl tech­ni­sches Know How wie auch inhalt­li­che Anregungen für die wei­te­re Arbeit zu gewin­nen.

Kunst und Wissenschaft

Dennoch: Theorie und Praxis – hier scheint mir der Transfer spe­zi­ell frucht­bar, wo es nicht vor allem um Kunsttheorie geht, son­dern um – eben – den Wissenstransfer vom Medium der Wissenschaft ins Medium der Kunst und umge­kehrt; womög­lich, den­ke ich Tage spä­ter, hat bei­des tat­säch­lich den­sel­ben Ursprung; erwächst bei­des aus dem­sel­ben Impuls, wört­lich, dem Transfer des Pulsschlags als phy­si­sches Ordnungsprinzip in die Aussenwelt; das von Nils Röller erwähn­te rhyth­mi­sche Schleifen eines Steins oder Knochens durch unse­re Vorfahren – dass sich dar­aus Kunst und Technik, Form und Funktion, Schönheit und Nützlichkeit, (Selbst- bzw. Welt-)Wahrnehmung, (Selbst- und Welt-)Beherrschung (mit allem, was dar­an pro­ble­ma­tisch ist) und (Selbst- bzw. Welt-)Erkenntnis ent­wickeln konn­ten, scheint mir plötz­lich plau­si­bel – und ergo auch, dass sich aus der Art und Weise die­ses Unterrichtens ein frucht­ba­rer Dialog ent­spin­nen kann zwi­schen Kunst und Wissenschaft.

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