Observatio II

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Sein gan­zer Stolz bestand zu jener Zeit in einem Walkman von Sony, kein Gerät aus der aller­er­sten Generation zwar, aber das bis dahin klein­ste, nur gering­fü­gig grös­ser als eine Audiokassette. Aus Aluminium gefer­tigt, eig­ne­te dem Walkman fast nur das Gewicht der Kassette; die paar polier­ten Knöpfe lies­sen sich auf eine leich­te Berührung hin betä­ti­gen, das Getriebe sirr­te lei­se, der Deckel war gefe­dert. Der Gymnasiast fuhr auf dem Rad zu Schule, den ver­schwin­dend klei­nen Walkman in der Tasche sei­ner Jeans ver­staut, den schma­len Bügel, den je ein Ohrhöhrer abschloss, auf dem Kopf. Er fuhr über den Feldweg, links und rechts käu­ten Kühe im Gras wie­der, wei­ter vorn wich er ihren Exkrementen aus, deren Gestank ihm – aus­ser im Sommer, wenn das Vieh auf der Alp weilt – täg­lich in die Nase stach. Er erkann­te eine frü­he­re Mitschülerin auf dem Feld, die seit kur­zem ganz auf dem elter­li­chen Hof mit­half; sie grüss­ten sich auf die alte, pen­nä­ler­haf­te Weise. Bei der Schweinemästerei trat er kräf­ti­ger in die Pedale, dreh­te die Lautstärke auf; Grandmaster Flash and the furious five brüll­ten ihm ins Ohr.

Das war zu der Zeit, als er sich – mit viel Aussenseitergefühl – zu einer Absetzbewegung ent­schlos­sen hat­te, ohne dass er aller­dings hät­te benen­nen kön­nen, wovon er sich hat­te abset­zen wol­len, wel­ches Spiel eigent­lich er nicht mehr mit­zu­ma­chen gedach­te, mit wem er bre­chen woll­te. Es war eben nur dem alters­ge­mäs­sen Gefühl geschul­det, am Rande zu ste­hen, die Welt nur gera­de von aus­sen zu sehen, das ihn wohl mit Grandmaster Flash und all den ande­ren schwar­zen Rappern und Breakern ver­band, und nicht nur ihn, eine gan­ze Generation, zumal in der Ostschweizer Provinz.

Diese rhyth­mi­sche, text­be­ton­te Musik hat­te es ver­moch­te, sei­ne Wahrnehmung der Landschaft zu ver­än­dern; er fuhr auf dem Rad und hör­te sich eine ande­re Welt her­bei. Was spä­ter mit Bruckner und Mahler sich auf eine ähn­li­che Weise für ihn – wenn auch nicht auf einer Corbusier-Liege – wie­der­ho­len soll­te, fand mit dem Walkman sei­nen Anfang: die absicht­li­che Verknüpfung von Räumen mit Musik – oft genug mit dem Ziel, jene sinn­haft zu erwei­tern; den schlam­mi­gen Feldweg nichts weni­ger als zum Pfad, der zum Hades führt; den aus dem nahen Hochalpinen her­un­ter­stür­zen­den, reis­sen­den Fluss zum Hades selbst.

Jahrzehnte spä­ter such­te er in der Zürcher Förrlibuckstrasse eine Örtlichkeit der ZHdK auf. Im voll­di­gi­ta­li­sier­ten Studio Komposition für Film, Theater und Medien wohn­te er der abend­li­chen Vorführung zwei­er Kurzfilme bei, deren Musik und Sounddesign die bei­den Studenten Jonas Zellweger und Christof Steinmann besorgt hat­ten. In dem einen Werk, dem Animationsfilm mit ech­ten Schauspielern, über­kam ihn das Gefühl, in einer Spieluhr zu wei­len und zwei her­um­ir­ren­den Liebenden dabei zuzu­se­hen, wie sie, immer wie­der von kon­zen­trisch ange­ord­ne­ten, beweg­li­chen Häuserzeilen von­ein­an­der getrennt, den Moment such­ten, da das rie­si­ge Räderwerk, das die gan­ze Stadt antrieb, still­stand. Fanden sie end­lich zuein­an­der, zog die Liebende mit dem Schlüsselin schnell das Herz des Liebenden auf – doch auch die Stadt begann, sich wie­der zu bewe­gen, wor­auf sich die bei­den neu­er­lich aus den Augen ver­lo­ren.

Die modell­haft, breu­gel­haft, ocker­pa­stel­lig wir­ken­de Stadt beweg­te sich also nach der tech­nisch aus­ge­reif­ten Kompostion von Zellweger und Steinmann, die Töne von einer musea­len mit­tel­al­ter­li­chen Grossmühe mit­ge­schnit­ten und mit der vor­struk­tu­rie­ren­den Wirkung von Akkorden und Glockenspiel zu einem mono­to­nen, auf drei Tonstufen basie­ren­den Motiv ver­wo­ben hat­ten. Das Motiv schritt, auf die­sen drei Ebenen, belie­big kom­bi­nier­bar auf und ab und fort, um im Holywood-Bombast der Bildtotalen – die Stadt als rie­sen­haf­tes Räderwerk – zu enden.

Ich nahm gedank­lich den Bügel mit den Ohrhörern ab, drück­te sanft auf die Stopptaste mei­nes Walkman – den ich längst nicht mehr besass. Die 20 Personen, die den ela­bo­rier­ten Ausführungen der bei­den Studenten gelauscht und sich teil­wei­se am Gespräch betei­ligt hat­ten, bega­ben sich ein Stockwerk höher zu den bil­den­den Künstlern; die Studentin Florence Jung zeig­te dort in einem klei­nen, mit weis­sen Wänden beschal­ten Saal drei schwarz­lackier­te Heugabeln, die auf über zwei Metern Höhe waa­ge­recht in der Wand steck­ten. Sie stam­me aus einer Bauernfamilie, sag­te sie bald, und sie wol­le mit der Installation die Tatsache fas­sen, dass in den ver­gan­ge­nen 15 Jahren alles Bäuerische, das zuvor im all­ge­mei­nen nicht der Rede wert war, in einer media­len Überformung gesell­schafts­fä­hig gemacht wor­den sei; TV-Serien wie “Bauer sucht Frau” sei­en beliebt, es trä­ten dabei Städterinnen in Stöckelschuhen auf den Plan. Kaum ein Kleiderladen, so Jung, der heu­te nicht mit Versatzstücken aus der Landwirtschaft deko­riert sei, einem Heuballen, Seilen, eben einer Heugabel. Die Stilisierung des Bäurischen zum siche­ren und ehr­li­chen Wert, zum Authentischen schlecht­hin, sei ein fake.

Er frag­te sich, wo sein Walkman von damals hin­ge­kom­men ist. Er muss­te ihn ver­schenkt haben. Nach dem Abend mit Zellweger, Steinmann und Jung ver­miss­te er ihn nicht.

2 x 2. Interdisziplinärer Werkdiskurs. Studierende stel­len ihre Kompositionen / Werke vor und zur Diskussion. Zwei Mal im Semster. ZHdK in der Förrlibuckstr. 62, Zürich. Besuch am 2. November 2011.

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