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Observatio I

Da war es wie­der, das Taschenbuch, das ihm in den ver­gan­ge­nen Tagen im Drehregal des nahen Kiosks auf­ge­fal­len war. In der herbst­li­chen Abendsonne blitz­ten die gestanz­ten sil­ber­far­be­nen Lettern auf dem Umschlag noch ein­mal auf. Er frag­te sich, in wel­che Kinderhände es gelan­gen wür­de; das Mädchen mit der blau­en Jacke näher­te sich dem Drehregal, griff nach dem Buch und schlug es schnell auf, sie las sich dar­in fest.

Noch immer ver­moch­te das Lustige Taschenbuch zu fes­seln, dach­te er, der als Kind unzäh­li­ge Stunden mit den Erzeugnissen des Berliner Ehapa-Verlags ver­bracht, sich in sie ima­gi­niert und die Abenteuer der Figuren Walt Disneys mime­tisch auf sich gewen­det hat­te. Er war Donald, er war die drei Neffen, er war der rei­che Dagobert, und ihm konn­te dann nichts Schlimmes wider­fah­ren, Disney gab auf ihn acht; nicht nur auf ihn, Disney, ein Spinner, hat­te mit tie­fem Ernst die Idee von Disneyland ‒ heu­te ein rie­si­ger Vergnügunspark in Anaheim, Kalifornien ‒ sowie Disneyworld ‒ nun­mehr ein Freizeitkomplex in Orlando, Florida ‒ ver­folgt, in denen die Grenzen zwi­schen Wirklichkeit und Fiktion ver­schwin­den wür­den, gross genug für Tausende Menschen, die in einer von den Krankheiten der Zivilisation ‒ wie er das nann­te und wor­un­ter für sein Verständnis auch Ehebruch und sozia­ler Protest fie­len ‒ befrei­ten Welt leb­ten, in sei­ner Welt, in der Experimental Prototype Community of Tomorrow (EPCOT), einer kreis­rund ange­leg­ten Stadt unter einer rie­si­gen Glaskuppel, die den neu­en Sozialverbund von allen Umwelteinflüssen abschir­men soll­te.

Disneys Einfluss frei­lich wür­de dar­in erhal­ten blei­ben. Der König von Amerika, wie er sich ein­mal bezeich­ne­te, behielt sich die allei­ni­ge Entscheidungsbefugnis in sei­ner Welt vor; er war es, der sag­te, wer nach wel­chen Kriterien Eintritt erhal­ten oder wel­cher Regelverstösse wegen aus­ge­schlos­sen wür­de.

Das Modell der EPCOT-Glaskuppel von 1966 erin­ner­te vie­le an ein Ufo. Kein Wunder, Disney hät­te wohl am lieb­sten die­sen Planeten ver­las­sen und anders­wo neu ange­fan­gen; der Entwurf selbst war ange­lehnt an Wernher von Brauns Vorstellungen von einer Raumstation, die der deut­sche Raketenbauer und spä­te­re Nasa-Held schon 1952 ent­wor­fen und bei dem dann auch Stanley Kubrick für 2001 ‒ A Space Odyssey abge­schaut hat­te.

Das Mädchen hüpf­te an der Hand sei­ner Mutter in den Bus, setz­te sich ans Fenster und las im Lustigen Taschenbuch wei­ter. Er aber mach­te sich zu den Räumlichkeiten der Gessnerallee auf; die ein­sti­gen Zeughäuser, Reithallen und Stallungen wer­den seit über zwan­zig Jahren im Kontext der Kultur genutzt. Im Theater der Künste, wie einer der Orte nun heisst, wur­den im Oktober 2011 wie­der­um Ideen der Umnutzung prä­sen­tiert, kei­ne neu­en Entwürfe für die Gessnerallee selbst, son­dern für das rie­si­ge Gelände des Militärflugplatzes Dübendorf.
52 Zukunftsideen war auf dem dicken Ausstellungskatalog zu lesen; eine Denk-Allmend, zur Demokratisierung von krea­ti­ven Prozessen ange­legt, soll­te die Projekte spries­sen las­sen.
Die Bühne A des Theaters der Künste war mit 52 höl­zer­nen Bauprofilen bestan­den, dar­an ein­zeln affi­chiert Papptafeln mit den Projektbeschreibungen der gela­de­nen Teilnehmer ‒ stu­den­ti­sche Gruppen, Einzelne, renom­mier­te Architekturbüros. Ihre Überlegungen gin­gen in unter­schied­li­che Richtungen: Riviera Metropolitana, Outdoor Sports Complex, Slow Urban Area, Zeitreise (frü­he­re Nutzungen neben­ein­an­der wie­der­auf­neh­men), Swiss International Park, E.Feld (Forschungs- und Entwicklungszentrum), Nullpunkt («wo man sein kann, ohne zu müs­sen»), Gea + Uranos («Die tie­fe Weite, die lan­ge Leere, die hohe Sicht»), K‑Würfel («weni­ger ist mehr»), Urban.Strip, MyLife, Albedo 1.0, Explore & more, Ad Astra und so fort.

Prämiert wur­den von einer Fachjury, bestehend aus ZHdK-Internen und ‑Externen, denen das Areal des Militärflugplatzes Dübendorf frei­lich nicht gehört, Dübenholz («Ein Waldgebiet als urba­ne Infrastruktur: Zur Erzeugung von Energie und Trinkwasser, zur land­wirt­schaft­li­chen Nutzung, zur Reduktion von CO2 sowie als städ­ti­scher Erholungsraum»), Ein Moment der Klarheit («Jeder wird etwas ande­res sehen», eine gigan­ti­sche spie­geln­de Fläche, «damit wird der Ort auf­ge­ho­ben und gleich­zei­tig unend­lich gross») sowie je mit dem 3. Preis Düland («Ein Land ohne Politiker, ein Land ohne Grenzen») und Flex ‒ Die fle­xi­ble Stadt («Raum für Individualität»).

Er ver­liess die Ausstellung, nach­dem er sich alles genau ange­se­hen hat­te. Bald kam er beim Drehgestell am Kiosk vor­bei. Das Mädchen mit der blau­en Jacke schien hier die ein­zi­ge Stammleserin der Lustigen Taschenbücher zu sein. Die Lücke, die ihr Kauf hin­ter­las­sen hat­te, schloss kein neu­es Exemplar.

Denk-Allmend: 52 Zukunftsideen. Ausstellung und fünf Veranstaltungen. 11.–16. Oktober 2011, Theater der Künste, Bühne A, Gessnerallee, Zürich.

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