- ensuite | kulturagenda | enBlog - https://ensuite.we-are.gmbh -

«Nonsense» – die Zuschauerkritik

Im drit­ten Raum der Ausstellung

E: (kommt eben aus dem «Didaktik»-Raum die klei­ne Treppe hoch und blickt um sich) Kommst du, L? Aber pass auf, es ist dun­kel hier drin und vor­her hab ich mich an einer die­ser schwar­ze Säulen gestos­sen. Genau, Edward Lear war das, der das Book of Nonsense geschrie­ben hat, schau hier die Limericks dar­aus, siehst du, er hat die Fünfzeiler mit fein­skiz­zier­ten Bildern illu­striert.
L: (geht durch den klei­nen Raum, nimmt ein dün­nes, gebun­de­nes Buch von einem Hocker und setzt sich auf den­sel­ben, davor an der Wand frei erfun­de­ne Pflanzen). Wieso eigent­lich Nonsense? Fantasievoll ja, aber unsin­nig würd ich dem nicht sagen, und die­ses Kinderbuch aus dem 19. Jahrhundert würd’ ich mei­nem Kind sofort kau­fen.
E: Aber schau doch mal die­se Kombinationen von Tieren und Pflanzen an. Bissige Hundsnessel, eine Pflanze voll­be­hängt mit Hundegebissen. Wenn das mal kein Unsinn ist. So etwas Wissenschaftliches und Akribisches wie Ordnungssysteme von Pflanzen oder Tiere durch ver­que­re Kombinationen in einen ande­ren Sinn zu über­füh­ren, ist ja nicht nur für Kinder wit­zig. Ich krieg mein Lächeln ja schon fast nicht mehr von den Lippen.
L: (hört nicht mehr rich­tig zu, trägt bereits Kopfhörer über den Ohren «The Jumblies» von 1970 läuft) Witzig? Dann hör dir mal an, was hier auf Englisch ein­ge­spro­chen wur­de. Du könn­test die Geschichte auch auf Deutsch hören, aber wie die­ser Graham Valentine die Geschichten von Lear in brei­te­sten Schottisch mit ver­stell­ter Stimme inter­pre­tiert, ist köst­lich!
E: (Setzt sich eben­falls Kopfhörer auf und lacht) Ich muss schon sagen, in die­ser Ausstellung nicht zumin­dest zu schmun­zeln, ist wohl ein Ding der Unmöglichkeit. Kinderbücher hin oder her.
L: (Schaut E ver­schwö­re­risch an und grinst): Wobei, was ist hier schon unmög­lich?

Im vier­ten Raum der Ausstellung

M: (betritt einen Raum, der mit Spiegeln aus­ge­klei­det ist, der Boden gleicht einem Schachbrett) Ui, komm mal hier rein. Hier sieht’s aus wie bei Alice im Wunderland. Hast du gewusst, dass die Abenteuer in Lewis Carrolls Buch «Alice hin­ter den Spiegeln» den Regeln einer Schachpartie fol­gen?
C: (tritt in den Raum) Wo bist du? Ich weiss gar nicht mehr wo du stehst vor lau­ter Spiegeln an den Wänden. Schon fas­zi­nie­rend wie ein Spiegel alles ver­dre­hen und auf den Kopf stel­len kann. Und trotz­dem macht auch die Spiegelschrift Sinn. Einfach nicht auf die her­kömm­li­che Art (betrach­tet die Spiegelschrift an der Wand im Spiegel).
M: Fantasie hat­te Lewis Carroll. Aber auch komisch, dass er der real exi­stie­ren­den Alice und ande­ren Töchtern von Bekannten so oft Geschenke gemacht hat, ihnen Bücher zeich­ne­te und Geschichten schrieb? Ich mei­ne man kennt ja die­se Geschichten aus den Zeitungen, wo sich der Kindernarr schliess­lich als Pädophiler ent­puppt.
C: Ach was, so eine Liebe ist doch eher eine Flucht vor der Sexualität. Der hat sich ein­fach in der Welt und in den Köpfen der Kinder woh­ler gefühlt hat als unter Erwachsenen.
M: Also so wie bei Michael Jackson, oder? (lacht)
C: Sieh mal. Hier kann man drei Filme über Alice im Wunderland schau­en. Zwei kenn ich, den Disney und den von Tim Burton. Der drit­te? Kannst du das lesen, ich hab mei­ne Brille nicht dabei.
M: Du wie­der! Da steht Jan Svankmajer, 1988. Nie gehört. Wollen wir uns rasch setz­ten?
(Sie las­sen sich auf den Hockern vor den Fernsehern nie­der, set­zen die Kopfhörer auf und star­ren gebannt auf die über­ein­an­der auf­ge­häng­ten Geräte.)

Déja-vu im letz­ten Raum

K: (kurz vor Verlassen der Ausstellung im Strauhof, ein Zimmer im ersten Stock) Das ist jetzt das letz­te Zimmer? Es sieht ja fast genau gleich aus wie das erste. Schreibpult, Schreibwerkzeug, Blume. Und ein Bild an der rech­ten Wand. Aber die Zeit hat sich ver­scho­ben.
F: So weit ich mich erin­ne­re, waren es im ersten Raum Feder, Tinte und Papier, eine Rose und ein Apfel. Das sanft gezeich­ne­te Bild eines Bauernpaars. Und hier?
K: Hier der Computer. Eine Banane, eine ele­gan­te Calla in einer Glasvase. Das Bild (blickt sich um)?
F: Von Dalí. Klar. Die Werkschau von gestern bis heu­te, vom Tintenfass zum Computer. Wir haben ja in die­sen Räumen ver­schie­den­ste Autoren gese­hen. Carroll zum Beispiel, gebo­ren 1832, dann aber auch die­se neue, absur­de Art des Theaters von Kaspar Fischer, der erst 2000 gestor­ben ist. Die Autoren sind der Kern der Ausstellung, die Zeitachse gibt die Dramaturgie vor.
K: Stimmt, die Autoren und Künstler wer­den beim Gang durch die Ausstellung immer jün­ger. Die einen zeich­nen, die ande­ren dich­ten, die­ser arbei­tet eher gra­fisch und jener hat sich vor allem im Theater aus­ge­tobt.
F: Nonsense zeigt sich am Ende in erstaun­lich vie­len Facetten, oder?

In der Augustinergasse

U: Wollen wir noch einen Kaffee trin­ken oder go läde­le, so schö­nes Wetter heu­te?
Hm? He hal­lo?
B: Wie? Sorry, ich bin immer noch bei die­sen Metamorphosen von Kaspar Fischer. Das hab ich ja noch nie gese­hen. Das einer so zeich­nen kann, so fein und prä­zi­se, und dann ver­wan­delt sich der Baum in einen Kellner und der Kellner ein Pferd, ich fand das eben echt toll.
U: Und so viel­fäl­tig. Da konn­te man ver­ton­te Gedichte hören. Und die Fernsehsendungen von Loriot, die Gedichte von Morgenstern und die Performance von Fischer, das war auch ganz gut. Gäll, man woll­te gar nicht mehr raus da, man konn­te ja auch über­all drücken und Sachen von hin­ten und von vor­ne betrach­ten. Ich fühl mich grad wie ein klei­nes Kind, dem das Mami sagt, dass es jetzt die Spielsachen lie­gen las­sen soll und in die Schule muss. Jetzt, hier draus­sen müs­sen wir wie­der erwach­sen sein.
B: War auch alles so bunt da drin. Und, weisst du, Nonsense ist zwar kind­lich, aber so gar nicht kin­disch. Da geht’s dar­um, mal wie­der zurück zu den­ken und um die Ecken zu sehen. Kinder machen das öfter, benut­zen eher ihre Fantasie, dür­fen sich auch mal lächer­lich machen.
U: Recht hast du! Komm lass uns da vor­ne eben schnell in den Steiffladen gehen. Ich möch­te wie­der mal mit Teddys kuscheln.

In eige­ner Sache: Mit der «Zuschauerkritik» pro­biert kulturkritik.ch ein neu­es Kritik-Format aus. Nicht immer ganz ernst gemein­te Dialoge statt wuch­ti­ges Kritikergedönse, ein Dramulett anstel­le eines Monologs: Die «Zuschauerkritik» lebt von der Überzeugung, dass das, was der eine oder ande­re so meint und was die­ser und jener so denkt, viel­leicht nicht ganz unbe­deu­tend ist. Oder: Der Zuschauer ist der klü­ge­re Kritiker – kor­rekt?. Feedback will­kom­men per E‑Mail.

Copyright © 2011 Kulturkritik • Kritische Stimmen zum Zürcher Kulturgeschehen Kulturkritik.ch ist ein Projekt der Plattform Kulturpublizistik • Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK)