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Nie wie­der ist jetzt! Erika Freemans Jahrhundertleben

Von Dr. Regula Stämpfli – «Mir geht’s gut, wenn nicht heu­te, dann mor­gen.» Erika Freemans Optimismus macht Lust auf vie­le jüdisch-west­lich-ame­ri­ka­ni­sche Zukünfte. Nun ist ein wun­der­bar leich­tes Buch mit gros­sem Tiefgang erschie­nen über eine, die von sich selbst sagt, sie sei die «Enkelin Freuds».

Die Kombination «alte Frau mit jun­gem Mann» ist eine char­man­te Zusammensetzung. Sie ist viel frucht­ba­rer als der bekann­te Gegenpart «alter Mann mit jun­ger Frau». Der fast 60-jäh­ri­ge Dirk Stermann, sei­nes Zeichens bekann­ter ORF-Moderator («Willkommen Österreich»), gebür­ti­ger Deutscher, und die mitt­ler­wei­le 96-jäh­ri­ge Psychoanalytikerin Erika Freeman haben zusam­men ein Buch gemacht, das unter jeden Weihnachtsbaum gehört. Die Mittwochsgespräche der bei­den im Hotel Imperial in Wien ver­bin­den unter­schied­li­che Zeitebenen und sind hoch­ak­tu­ell. Es geht einer­seits um die Lebenserinnerungen der gros­sen US-ame­ri­ka­ni­schen Psychoanalytikerin und Entertainerin sowie um Wien, Israel und die USA heu­te. Es geht auch um die Storys die­ser Räume, die ohne jüdi­sche Menschen dem Untergang geweiht sind. Die Nazi- und die Sowjetherrschaft über Europa haben Leerstellen ver­ur­sacht, die bis heu­te schmer­zen. Erinnern wir uns hier des­halb nur an ein paar Frauen, die Wien ver­las­sen muss­ten und, wären die ver­damm­ten Österreicher damals nicht Nazis gewor­den, ganz Europa hät­ten mit­ver­än­dern kön­nen. Und zwar so, dass wir 2023 nicht wie­der in dem brau­nen, links­extre­men, anti­se­mi­ti­schen Sud in unse­ren west­li­chen Grossstädten zu ersau­fen droh­ten.

Da wären Maria Austria, gebo­re­ne Marie Karoline Östreicher, DIE Avantgarde-Mode- und Porträtfotografin, Lotte Lenya, die umwer­fen­de Kurt-Weill-Interpretin, Hedy Lamarr, Filmstar, Erfinderin von Funksteuerungen etc., Trude Fleischmann, eine wei­te­re Porträtfotografin der Moderne, und Vally Wieselthier, die Keramikkünstlerin der Wiener Werkstätten, um nur eini­ge zu nen­nen. Sie waren Jüdinnen, Intellektuelle, Weltmenschen, in Wien gebo­ren und wur­den mit Gewalt aus ihrer Heimatstadt ver­trie­ben.

Dieses «ver­trie­ben» klingt im Jahr 2023 nicht nach der Gewalt, die die­ser Begriff real ver­kör­pert. Mit die­sen Frauen hör­ten die Wesen, die Körper, die Dinge, die Palais, die sie bewohn­ten, die Schulen, die sie besuch­ten, die Institutionen, die sie erfan­den, von denen sie Teil waren, und die Zukunft für alle Frauen ihrer Art auf. Die Zerstörung des euro­päi­schen Judentums zieht bis heu­te Leerstellen nach sich und neu auch blu­ti­ge Spuren durch die fehl­ge­lei­te­ten Massen, die unse­re Demokratien mit Demonstrationen zer­stö­ren, indem sie ent­setz­li­che anti­se­mi­ti­sche Slogans schrei­en. Diese Fratzen und Fahnen ähneln so sehr dem Damals, dass das Heute für mich in deut­schen Städten fast uner­träg­lich gewor­den ist. «Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher», mein­te ein­mal Hannah Arendt, und selbst da ist schon ein Elon Musk.

Deshalb ist «nie wie­der» genau «jetzt»! Dazu passt das Buch über das Jahrhundertleben von Erika Freeman per­fekt. Wie wohl­tu­end der Titel: «Mir geht’s gut, wenn nicht heu­te, dann mor­gen». Ich las die fast 250 Seiten im schön­sten Café Wiens, im Café Korb. Zwischendurch schau­te des­sen Impresario, der gros­se Franz Schubert, vor­bei, ein Herz von einem Menschen, ein wun­der­schö­ner Mann. Diesem ist es übri­gens zu ver­dan­ken, dass wir alle von Erika Freeman hören. Denn es war Franz Schubert, der Erika Freeman ins Radio, ins TV und jetzt auch in den «Spiegel» brach­te; er stell­te sicher, dass nicht wie­der eine gros­se Wienerin von den Wienern erst dann ver­ehrt wird, wenn sie sich tot nicht mehr gegen die Vereinnahmung weh­ren kann.

Erika Freeman wur­de 1927 als Erika Polesiuk in Wien als Tochter einer Lehrerin und eines Arztes gebo­ren, mach­te in den USA eine unglaub­li­che Karriere, die die Staatengründung Israels, die Verbreitung von Sigmund Freuds Psychoanalyse in den USA sowie die ame­ri­ka­ni­sche Entertainmentindustrie umfass­te. Nach Wien kam Erika Freeman wie alle Exilwiener nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst gar nicht ger­ne zurück. Und 1961, das erste Mal wie­der in der Geburtsstadt, wur­de Erika Freeman von einem Sternehotel rüde wie­der auf die Strasse gesetzt. Doch 2019 fand sie in Wien eine neue Heimat. Sie traf an einer Veranstaltung, an der sie geehrt wur­de – «They tried to kill me, now they deco­ra­te me!» –, Franz Schubert, zog ins Hotel Imperial in Wien und blieb in der wie­der erblüh­ten schön­sten Stadt Europas. Diese «Rache an Hitler» geht sich gut aus im Hotel Imperial; Dr. Freeman wird dort wie eine Königin behan­delt, und das ist rich­tig so: «Hitler war nur ein ein­zi­ges Mal im Imperial. Ich woh­ne hier.» Erika Freeman über­leb­te den geschei­ter­ten Postkartenmaler aus Österreich, selbst ihr Vater konn­te den Nazi-Schergen ent­kom­men. Erikas Mutter hin­ge­gen über­leb­te die Verfolgung zwar bis fast zum Kriegsende, doch am schreck­li­chen 12. März 1945 ver­brann­te sie in einem Wohnblock nur weni­ge Minuten vom Hotel Imperial ent­fernt; er wur­de von den Bomben der Alliierten in Brand gesetzt. Davon erfuhr Erika Freeman glück­li­cher­wei­se erst viel spä­ter und sie trau­ert bis heu­te: «Ich ver­ste­he den lie­ben Herrgott nicht.» Es ist so kurz vor dem Ende, und dann stirbt die Mutter aus­ge­rech­net ob der Bomben der Befreier.

Schnitt in die Gegenwart: Freeman hat Familie in Israel, und der 7. Oktober hat alles ver­än­dert, was an Zuversicht und Sicherheit in Israel war. Auch Freemans Familie muss­te vor Bomben und Hamas-Terror nach Haifa und Tel Aviv flüch­ten, um sich in Sicherheit zu brin­gen. Erika Freeman meint dazu trocken: «Every war could be Vernichtung sein für die Juden.» Sie sagt dies in ihrer ein­zig­ar­ti­gen ame­ri­ka­nisch-wie­ne­ri­schen Mischung, mit Idiom und Schalk und Trauer, die unver­gleich­lich sind. Weiter meint sie gegen­über dem «Spiegel», der unbe­dingt über Aktualität reden will: «Judenhass ist eine Krankheit wie Krebs», doch sie wirft sofort hin­ter­her: «Sorgen mache ich mir kei­ne. Es macht dich nur schwach und dumm.»
Über Schnittlauchbrot, einem Ei im Glas, einem Joghurt natu­re «mit geris­se­nem Apfel und Himbeeren», der obli­ga­ten Melange und einer klei­nen Tasse vol­ler Kaffee tref­fen sich in Wirklichkeit und Buch der jun­ge Herr Stermann, auch bald 60 Jahre alt, und die ewig jun­ge Erika Freeman im besag­ten Imperial. «Be nice to yours­elf. You are entit­led. Du hast das Recht dazu. Write yours­elf litt­le Zettel how good you are and put them in your pockets», rät sie ihren Mitmenschen und ihren Patientinnen und Patienten, die sie immer noch online oder in einer der Residenzsäle des Imperial direkt behan­delt. Dr. Freeman – sie mag ihren Titel, denn «Frau Freeman» sei ihre Schwiegermutter gewe­sen – ist nicht nur sel­ber berühmt, son­dern hat auch illu­stre Verwandtschaft. Dazu gehö­ren Israel Ben Elieser, der Gründer der chas­si­di­schen Bewegung, und Ruth Klüger-Aliav. Letztere wur­de 1910 in Kiew gebo­ren, war ukra­nisch-israe­li­sche Zionistin, begrün­de­te im Jahr 1939 den israe­li­schen Geheimdienst Mossad mit und orga­ni­sier­te die Flucht Tausender bedroh­ter euro­päi­scher Juden. Ruth Klüger-Aliav ist die Schwester von Erika Freemans Mutter, die ihrer­seits die Vorlage abgibt für den Roman und den Film «Yentl», also die wah­re Geschichte einer Frau, die lesen, schrei­ben und leben will, wie die ortho­do­xen Männer dies dür­fen. Frauen spie­len die Hauptrolle in Erika Freemans Leben: Barbra Streisand, Hillary Clinton, Lauren Bacall, Anaïs Nin, Elizabeth Taylor und vie­le ande­re mehr. «Wir waren Schneeflocken, die die Frauenbewegung welt­weit zur Lawine mach­ten.» Die Männer, well, das waren Paul Newman, Woody Allen, Marlon Brando u. a., doch über Patienten spricht sie eigent­lich nie; die Namen sind alle durch die Prominenten sel­ber bekannt gewor­den. Dr. Freeman war in den USA im Radio zu hören, im Fernsehen dau­er­prä­sent – Arbeit hält sie bis heu­te am Leben. Ihr Motto? Sie ver­bannt alles Negative aus ihrem Leben: «Es zahlt sich nicht aus. Es macht krank. Es ist ansteckend. Also steck lie­ber mit Gesundheit an, nicht mit Krankheit.»

Traurig bleibt indes­sen Erika Freemans Beziehung zur Mutter. Die zwölf­jäh­ri­ge Erika rei­ste allein über Amsterdam nach New York und schrieb ihrer Mutter kein ein­zi­ges Mal. Weshalb? Weil sie sich weg­ge­schickt gefühlt habe. Dieses zwölf­jäh­ri­ge Kind, das wie alle Zwölfjährigen unge­recht und trot­zig bleibt und des­sen Gefühl die Türe zur Liebe der Mutter so ver­schlos­sen hat, dass die Tochter der Mutter nie sagen konn­te, wie sehr sie sie doch ver­ehrt hat­te. Das ist das Einzige, was sich Erika Freeman nicht ver­zei­hen kann. Dafür traf Erika Freeman durch einen unglaub­li­chen Zufall – viel­leicht soll­te man den Herrgott nicht ver­ste­hen, son­dern ihr (!) nur dan­ken – ihren Vater. Dieser war aus­ge­rech­net am höch­sten jüdi­schen Feiertag, an Jom Kippur, am Broadway und rann­te in sei­nen Bruder hin­ein – mehr Schicksal ist nicht mög­lich. Zwei tot­ge­glaub­te Juden sehen sich auf dem Broadway in New York: auf der Strasse, weil bei­de nicht in der Synagoge sind. Seitdem, so Erika Freeman, ist das Unmögliche nie mehr unmög­lich oder, wie ich die­ses Buch lese: Es ist höch­ste Zeit für Wunder – glau­ben wir nicht an die­se, son­dern machen wir sie doch, und zwar lie­ber heu­te als mor­gen.

Dirk Stermann. Mir geht’s gut, wenn nicht heu­te, dann mor­gen. Erika Freeman. Ein Jahrhundertleben, Rowohlt 2023.