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Nicolas Bouvier, 22 Hospital Street

Von Sonja Wenger - Wer war Nicolas Bouvier? Ein «Nomade», ein Schriftsteller und Fotograf aus Genf, der 1998 starb und ein im fran­ko­pho­nen Raum sehr renom­mier­tes Werk hin­ter­liess. Der Autor und Regisseur des Films Christoph Kühn («Sophie Taeuber-Arp» und «Irrlichter») beschäf­tig­te sich bereits seit lan­gem mit dem «Nomadentum als Lebensform» und fand in Nicolas Bouviers Texten ihm ver­trau­te Gedanken for­mu­liert, wel­cher er von sei­nen eige­nen Reisen her kann­te. Der Film beschränkt sich bewusst auf die gros­se Reise von 1952 bis 1956, wel­che «zum Ausgangsund Angelpunkt von Nicolas Bouviers tief­mensch­li­chen Lebenssicht und sei­ner spä­ter ent­wickel­ten Philosophie des Unterwegsseins» wur­de.

Zwei unzer­trenn­li­che Freunde, der Literat Nicolas Bouvier und der Maler Thierry Vernet las­sen sich 1952 durch nichts von ihrem Wunsch abhal­ten, gros­se Dinge zu erle­ben und die Welt zu berei­sen. Über zwei Jahre lang zogen die bei­den Freunde durch Jugoslawien, die Türkei, Iran, Pakistan und Afghanistan. Die Fülle ihrer Eindrücke und Erfahrungen hiel­ten sie in Fotografien, Texten und Bildern fest, bis sie nach zwei Jahren in Kabul stran­de­ten. Krankheiten wie Durchfall, Malaria und spä­ter Gelbsucht waren ihre stän­di­gen Begleiter und zehr­ten an den Reserven.

Des lan­gen Fortbleibens müde, bat Thierry Vernet sein Verlobte Floristella ihm nach Ceylon zu fol­gen, dem heu­ti­gen Sri Lanka, um sie dort zu hei­ra­ten. In einem Gästehaus an der 22 Hospital Street ver­brach­ten sie ihre Flitterwochen. Nicolas Bouvier fühl­te sich durch die­sen Schritt vor den Kopf gestos­sen und von sei­nem Reisegefährten ver­ra­ten, trifft sich spä­ter aber trotz­dem mit sei­nen Freunden. Da «Thierry Vernet genug gese­hen hat­te, um sein Leben lang zu malen.», zog es die Frischverheirateten zurück in die Heimat und sie lies­sen Nicolas Bouvier schwe­ren Herzens allei­ne zurück. Trotz sei­nes durch Krankheiten geschwäch­ten Körpers und einer deso­la­ten finan­zi­el­len Lage war Nicolas Bouvier fest ent­schlos­sen, die Reise fort­zu­set­zen. Doch nun folg­ten neun Monate eines unbe­greif­li­chen und uner­war­te­ten Stillstandes – eine Zeit schmerz­li­cher Selbstreinigung.

Krank ans Bett und die Insel gefes­selt wird Nicolas Bouvier von dämo­ni­schen Halluzinationen und selbst­zer­flei­schen­den Fragen heim­ge­sucht. Zwischen Insektengekrabbel und dem flap­pen­den Geräusch des stän­dig wie­der­keh­ren­den Ventilators erzählt Bruno Ganz’ Stimme von see­li­schen Qualen, wel­che einen in die eige­ne Gedankenwelt abschwei­fen lässt. Gestellte und nach­träg­lich stark ver­zerr­te Szenen ver­stär­ken die­sen (alp)traumhaften Eindruck noch zusätz­lich. Die Effekte, mit denen Nicolas Bouviers «Rutschen auf die ande­re Seite des Spiegels» dar­ge­stellt wer­den, sind bei­na­he phy­sisch wahr­nehm­bar. Seine Grenze zwi­schen Realität und Fantasie ver­wischt sich so stark, dass er nicht nur den Toten begeg­net, son­dern auch die eige­ne Todesangst über­win­den kann.

Nach der hit­zig-schwü­len, fast ein­schlä­fern­den Phase die­ses Seelentrips führt die Reise noch kurz nach Japan, nur um plötz­lich aus fami­liä­ren Gründen abge­bro­chen zu wer­den. Dafür mag man als Zuschauer dank­bar sein, denn wei­te­re Abschweifungen wären doch des Guten zuviel. Bedauerlich ist, dass man nur sehr wenig von dem «geläu­ter­ten» Menschen Nicolas Bouvier zu sehen bekommt. Sein nach­fol­gen­des Werk hat kei­nen Platz mehr in die­sem sonst so aus­führ­li­chen Film und auch er selbst kommt nie per­sön­lich zu Wort.

Der Film hat kei­nen wirk­lich chro­no­lo­gi­schen Aufbau und gehorcht eher den «will­kür­lich wir­ken­den Gesetzen der Erinnerung». Er soll auch gemäss Christoph Kühn kein Porträt sein, son­dern ein «medi­ta­ti­ver Film, indem sich Fiktionales und Dokumentarisches, Subjektives und Objektives gegen­sei­tig durch­drin­gen.» Das ist in der Tat gelun­gen und die mit sen­si­bler Musik unter­mal­ten Filmbilder kon­fron­tie­ren das Publikum viel­leicht mit der eige­nen Sehnsucht des Reisens.

Bild: © Nicolas Bouvier
ensuite, Mai 2005