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Nein dan­ke, mich inter­es­siert

Von Peter J. Betts – «Nein dan­ke, mich inter­es­siert das gros­se Publikum nicht», sagt er. Er? Weil ihn das gros­se Publikum nicht inter­es­sie­re, er nur den direk­ten Kontakt suche zu den weni­gen, die ihm zufäl­li­ger­wei­se en pas­sant zuhö­ren kön­nen und wol­len, sagt er auf Anfrage par­tout sei­nen Namen nicht. Er? An einem Freitagabend gegen fünf Uhr sitzt er an einer Hausecke am rech­ten Aareufer in Thun auf dem Boden. Drei/vier Menschen ste­hen vor ihm. En pas­sant sieht man ihn kaum, etwa weil man auf das Spiel der Abendsonne auf dem Fluss ach­tet, sich dabei auf den Brunnen René Ramps hun­dert Meter wei­ter unten freut, dabei mit einer lin­ken Hand in sei­ner rech­ten spielt. Es ist ziem­lich ruhig. Dann ein paar uner­war­te­te Worte. Mani Matter habe mit einer ein­zi­gen Metapher erklärt, was das Leben sei, sagt er. Ob man es hören wol­le? Meine Frau und ich blei­ben ste­hen. Sechs Menschen ste­hen jetzt in der Nähe des fra­gen­den Mannes. Mit einer Stimme, die mich tat­säch­lich an Manis Stimme erin­nert, singt er ein Lied vom Mann, der knapp zu spät am Bahnhof ange­kom­men sei; beim Versuch, die näch­ste Abfahrtszeit aus dem Fahrplan her­aus­zu­le­sen auch den näch­sten Zug ver­pas­se; nach dem Entschluss, auf dem Perron zu war­ten, mer­ke, dass der näch­ste Zug eben auf einem ande­ren Perron abge­fah­ren sei – und so wei­ter. Mani beglei­te­te sich beim Singen mit einer Gitarre. Der Mann am Boden fährt beim Singen schein­bar flüch­tig über ein gros­ses, lin­sen­för­mi­ges Metallobjekt, dem offen­bar die Begleitmusik ent­steigt. Ein ver­steck­ter Lautsprecher? Er singt ein mir unbe­kann­tes Lied in fran­zö­si­scher Sprache. Ein sel­ber gemach­tes Chanson? Er? Er sieht unauf­fäl­lig und freund­lich aus: Brillenträger mit zu klei­ner Schirmmütze, ein Bisschen an Brecht, ein Bisschen an Fritz Widmer erin­nernd, zwi­schen dreis­sig und fünf­zig Jahre alt. Er hält das Instrument in die Höhe, sagt, oft wer­de er gefragt, was das sei. Nun, es sei eine Berner Erfindung und heis­se «Hang». Bei Krompholz sei eine eben erschie­ne­ne CD zu erwer­ben, es gebe nur noch weni­ge Exemplare zu kau­fen. Er sagt weder, wie die CD heisst, noch, was dar­auf zu hören ist. Sie erin­nern sich: ihn inter­es­siert das gros­se Publikum nicht. Die ande­ren vier Personen sind ver­schwun­den. Meine Frau und ich ste­hen noch vor ihm. Er schaut uns nicht an. Seine Hände bewe­gen sich schein­bar unab­sicht­lich und unko­or­di­niert über die Metalllinse, der wun­der­sa­me und durch­aus melo­di­ös struk­tu­rier­te Töne ent­stei­gen, min­de­stens so gut als Begleitmusik zu Liedern geeig­net wie Gitarrenklänge. Er wen­det die Linse und klopft leicht mit den Fingern über die Oberfläche: eine höchst melo­diö­se… Trommelkomposition? Ich kann ihn bei kei­nem Lächeln, über­haupt bei kei­ner Mimik ertap­pen. Seine Hände ruhen. Wahrscheinlich sei­nem Mund ent­strö­men eine Art Alphornmelodien oder dann Töne, die an die indi­sche Bambusquerflöte erin­nern – kei­ne sicht­ba­re Atemtätigkeit. Der ver­steck­te Lautsprecher? Es wird still. Er macht Tonzeichen in die Luft, sagt, an den Gesangunterricht in der vier­ten Primarklasse erin­nernd, dazu: «do», «re», «mi», «fa», «so», «la», «ti», «do». Er beginnt, über Pythagoras zu spre­chen, des­sen Neugier, Phantasie und strin­gen­tes Denkvermögen die mathe­ma­ti­schen Proportionen der ein­zel­nen Tonhöhen zuein­an­der erfass­ten und fest­leg­ten, lan­ge Zeit, bevor eine Technologie den nöti­gen wis­sen­schaft­li­chen Nachweis hat­te erbrin­gen kön­nen. Wirklich fol­gen kann ich ihm nicht. Er drückt mir eine lami­nier­te A4-Karte in in die Hand. Mir fällt das in Grossbuchstaben aus­ge­druck­te Wort «HANG» ins Auge. Das gross­for­ma­ti­ge Bild oben und die Schnapsreklame unten über­se­he ich. Ich nicke anbie­dernd-ver­ständ­nis­voll. Kein Lächeln sei­ner­seits. Es hand­le sich um eine Schnapsreklame, die er von Mani Matters Witwe erhal­ten habe. «Drambuie». Den hoch­pro­zen­ti­gen Likör aus diver­sen Whiskys und Kräutern ken­ne und ver­ab­scheue ich. Ich weiss auch, dass Drambuie auf gälisch «Trank, der glück­lich macht» heis­sen soll, und ich ken­ne die Mär, das Rezept des Likörs sei von «Bonnie Prince Charles» nach der von ihm ver­lo­re­nen ent­schei­den­den Schlacht gegen Lord Cumberland in der Mitte des acht­zehn­ten Jahrhunderts als Dank für sei­ne Rettung einem der weni­gen über­le­ben­den Mitstreiter geschenkt wor­den. Mir wird beim – Genuss des Getränkes sehr bald übel, mich macht es also kaum glück­lich. Er zeigt auf das Bild: die dunk­le Silhouette einer Kutsche mit Zylinder-behu­te­ten Passagieren im Gegenlicht, in der Abendsonne dem Meeresufer ent­lang­fah­rend, offen­bar dem gros­sen Glück ent­ge­gen. Er beginnt, Mani Matters Lied zu sin­gen; Begleitmusik aus der «Hang»: Mani, des­sen in ich-Form besun­ge­ner Protagonist das Glück auch nicht im Drambuie fin­det und sich in der ver­zwei­fel­ten Suche nach dem gros­sen und ech­ten Glück – erfolg­los – schliess­lich eine Kutsche erwirbt und dem Meer ent­lang­fährt. Er? Eine gute Performance schenkt den Miterlebenden immer ein Geheimnis. Man kann sei­ne Performance als Versuch miss­ver­ste­hen, das Gespräch zu eini­gen weni­gen lau­schen­den Personen zu suchen. Zwar erzählt er sei­ne Botschaft recht wort­reich den paar Zuhörenden. Aber wenn die auf das Gespräch ein­zu­ge­hen ver­su­chen, ihn bei­spiels­wei­se auch nur nach sei­nem Namen fra­gen um spä­ter mit ihm Kontakt auf­zu­neh­men, ant­wor­tet er nicht, höch­stens mit der ein­gangs erwähn­ten Begründung. Er ist aber weder ein Strassenmusikant noch ein Lehrer, Missionar oder Rhetoriker, wie man ihnen frü­her auf einer Holzkiste im Hydepark-Corner begeg­nen konn­te, viel­leicht auch kein Zauberer. Das Ganze, scheint mir, ist eine höchst ein­drück­li­che und, wie sich bei mir spä­ter her­aus­stellt, wir­kungs­vol­le Performance, ohne als sol­che dekla­riert wor­den zu sein. In ihrer Wirkung auf mich ver­gleich­bar viel­leicht mit dem bis auf den Slip nack­ten jun­gen Mann, von Kopf bis Fuss mit weis­ser Farbe bedeckt, reg­los in einen Schaukasten an der Münstergasse gezwängt, der Lidschlag ein­zig wahr­nehm­ba­res Lebenszeichen. Den habe ich auch nicht ver­ges­sen. Nachdem ich mei­nen Obolus ent­rich­tet habe, der Sammelbecher fehlt auch am rech­ten Aareufer in Thun nicht, ver­ab­schie­den wir uns mit einem höf­li­chen, wenn auch unbe­ant­wor­te­ten Nicken. «Hang» … Ein Musikinstrument? Ein Lautsprecher? Ein Geheimnis? Ich freue mich noch mehr und auch irgend­wie anders auf den Brunnen von René Ramp: eine gros­se Polyester-Kugel, oben leicht defor­miert, wie ein Apfel, nur dass dort Wasser her­aus­kommt und nicht ein Stiel. Sein Pendant (Polyester ermög­licht pro­blem­los auch ori­gi­nä­ren Künstlern das Herstellen von Multiples) steht beim Ziegler-Spital in Bern, ent­stan­den in einer Zeit, da vie­le Künstler mit Polyester arbei­te­ten; ich erin­ne­re mich an die «Eier» von Herbert Distel, die, z.T. auf den Meeren schwim­mend, welt­weit für beschei­de­nes Aufsehen sorg­ten, oder an die Skulpturen von Walter «Pips» Vögeli im Tierpark Dählhölzli, nur um ein paar ande­re Zeit- und Zunftgenossen aus Bern zu nen­nen. René, so tot wie Mani Matter oder Fritz Widmer, stell­te die weiss-glän­zen­de Kugel beim Ziegler-Spital in ein Wasserbecken mit Umwälzpumpe. Im grel­len Sonnenlicht brach­te das rund­her­um her­un­ter­flies­sen­de Wasser die Kugel schein­bar zum Rotieren. Algen setz­ten sich an. Der Hauswart rei­nig­te mit krat­zen­dem «Vim». René war fuchs­teu­fels­wild: er beab­sich­tig­te, dass die glän­zen­de Kugel mit Algen, spä­ter mit Moos und viel­leicht ande­ren Pflanzen bewach­sen wür­de. Heute sind Renés Kugeln in Bern und Thun voll­stän­dig bewach­sen und ber­gen die poten­ti­el­le Rotation als ihr Geheimnis, wie für mich «Hang». Er, der unge­nannt blei­ben möch­te, hat mich sehr nach­hal­tig auf alte Freunde vor­be­rei­tet: eine tol­le Performance!

PS Natürlich kön­nen Sie, wenn Sie wol­len, genau erfah­ren, was «Hang (Musikinstrument)» IST: Google. Mehr wis­sens­wer­tes WISSEN – ein Geheimnis weni­ger.

Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2012