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«Musik hat in den Revolutionen eine wich­ti­ge Rolle gespielt»

Von Hannes Liechti – In der Serie «Musik für …» wer­den jeweils eine oder meh­re­re Persönlichkeiten aus dem Berner Kulturleben mit einer aus­ge­wähl­ten Playlist kon­fron­tiert. Diesen Monat trifft es Thomas Burkhalter, Musikethnologe und Gründer des Online-Netzwerks für loka­le und glo­ba­le Sounds und Medienkultur, Norient.com.

Das Berner Netzwerk, das ein Online-Musikmagazin führt und im Berner Progr zu Hause ist, gewann 2009 den Musikvermittlungs-Preis des Kantons Bern. Dennoch ist Norient vor­wie­gend Interessierten bekannt. Thomas Burkhalter, der Gründer des Netzwerks, ist dabei, dies zu ändern: In die­sen Tagen orga­ni­siert Norient unter ande­rem im Kino in der Reitschule bereits zum drit­ten Mal ein inter­na­tio­na­les Musikfilmfestival. Eine Playlist zum Musikfilm und zu eini­gen Ausschnitten aus dem Programm.

Compay Segundo und Ibrahim Ferrer
«Chan Chan»
ab dem Album «Buena Vista Social Club» (World Circuit, 1997)

Das war der letz­te Film, bei dem ich in der Pause das Kino ver­liess. Eigentlich gefällt mir die Musik. Mich hat aber irgend­wie gestört, dass der mäch­ti­ge west­li­che Musiker und Produzent Ry Cooder vol­ler Faszination nach Kuba kommt, sich sogleich auf die älte­ren Herren rund um Ibrahim Ferrer und deren Son-Musik stürzt, mit ihnen ins Studio geht und uns damit ein Bild von Kuba ver­mit­telt, als ob es auf der Karibikinsel nur die­se eine musi­ka­li­sche Tradition gäbe.

Was macht einen guten Musikfilm aus?

Ein guter Musikfilm steht den Protagonisten nahe und erzählt nicht ein­fach eine lang­wei­li­ge 0815-Geschichte. Er ver­mit­telt die Komplexität des Lebens der Musiker. Michael Spahr, der Mitorganisator des Norient-Musikfilmfestivals, hat ein­mal gesagt, der Filmemacher soll­te mehr Zeit vor Ort ver­brin­gen als beim Schreiben von Finanzierungsdossiers. Weiter muss ein guter Musikfilm eine ästhe­tisch span­nen­de Sprache spre­chen. Das kön­nen von «low bud­get»- bis «high end»-Produktionen ganz unter­schied­li­che Sprachen sein.

Buju Banton
«Boom Bye Bye»
ab der Single «Boom Bye Bye» (Shang, 1992)

Gäbe es für die Filme eures Musikfilmfestivals Auszeichnungen, so müss­te die Dancehall-Dokumentation «Hit Me With Music» den Preis für den besten Trailer gewin­nen. Eine gut geklei­de­te Dame mokiert sich dar­in bei­na­he eine Minute lang über den jamai­ka­ni­schen Musikstil und bemän­gelt, dass die heu­ti­ge Jugend kei­ne klas­si­sche Musik mehr höre.

Ja, die­ser Trailer ist unglaub­lich. (lacht) «Hit Me With Music» wür­de aber auch den Preis für den Film mit den mei­sten Trailern gewin­nen; auf Youtube fin­den sich zwan­zig ver­schie­de­ne!
«Boom Bye Bye» ist der wohl bekann­te­ste Dancehall-Tune in einer lan­gen Reihe schwu­len­feind­li­cher Texte. Buju Banton singt davon, Homosexuelle hin­zu­rich­ten.

Der Film hat 15 Kapitel, und jedes davon han­delt von einem ande­ren Thema. Dabei wird auch die gan­ze Homophobie-Geschichte dis­ku­tiert – sicher­lich nicht bis in die letz­te Konsequenz. Ein ande­res Thema ist etwa der Sex-ismus im Zusammenhang mit Tanzstilen des Dancehall, etwa dem «Daggering», wel­cher Sexualpraktiken imi­tiert. Die Künstler selbst betrach­ten die Performance als Kunst: «Verwechsle Kunst nicht damit, was wir im Alltag den­ken und machen», lau­tet ihr Credo.

Ist es legi­tim, Künstler – wie dies mit Buju Banton gesche­hen ist – nicht nach Europa ein­rei­sen zu las­sen, weil sie homo­pho­be Songtexte schrei­ben, die im dor­ti­gen Kontext als durch­aus »nor­mal« ange­se­hen wer­den?

Ich den­ke schon, dass es Grenzen gibt, wenn man jeman­den zu sich ein­la­den möch­te. Da las­sen sich ras­si­sti­sche oder homo­pho­be Positionen auch nicht damit ent­schul­di­gen, dass eine Äusserung in einem ande­ren kul­tu­rel­len Kontext viel­leicht eine ande­re Bedeutung hat. Ein Boykott kann in Einzelfällen durch­aus gerecht­fer­tigt sein. Ich bin kein Kulturrelativist bis zum Letzten und sage nicht, dass sich jede Kultur nur von innen her­aus bewer­ten lässt. Ein sehr heik­les Thema aller­dings.

Shukar Collective
«Dai Dai»
ab dem Album «Rromania»
(Eastblok Music, 2007)

Das ist das Shukar Collective: Eine Gruppe von rumä­ni­schen DJs und Roma-Musikern. Der Sound beruht auf einer Formel, die man immer wie­der fin­det: DJs und Produzenten aus Europa stel­len den Beat und Afrika, Asien oder Osteuropa die Verzierung. Das fin­de ich äus­serst hei­kel, weil die­se Formel ein Machtgefälle aus­drückt: Wir machen die Grundlage, die Anderen sind Variation, Klischee und Exotik. Es wäre hin­ge­gen auch zu sim­pel, den Beat als etwas rein Europäisches zu bezeich­nen. Es ist klar, dass Afroamerikaner einen gewal­ti­gen Einfluss auf die­se Musik aus­üb­ten.

Auf dem Programm des Musikfilmfestivals steht ein Dokumentarfilm über das Shukar Collektive.

Wir haben lan­ge dis­ku­tiert, ob wir die­sen Sound über­haupt an unse­rem Festival wol­len. Natürlich ist es Musik, die vie­len gefällt. Aber trotz­dem gibt es – so glau­be ich – inter­es­san­te­re inter­kul­tu­rel­le Mischungen.

Weshalb habt ihr den Film den­noch aus­ge­wählt?

Das Spannende an die­sem Film ist, dass sich immer mehr her­aus­stellt, dass das Shukar Collective eine Band ist, die inter­na­tio­nal zwar gewis­se Erfolge fei­ert, intern aber nicht wirk­lich funk­tio­niert: Im Verlaufe des Films ent­brannt ein Streit zwi­schen den Roma-Musikern und den rumä­ni­schen Produzenten.

El Général
«Rayes Lebled»
publi­ziert im Internet
(Facebook, 7. November 2010)

Das ist der Rapper El Général aus Tunesien, der den Song «Rayes Lebled» – «Der Präsident des Landes» – auf Facebook ver­öf­fent­lich­te, bald dar­auf von Ben Alis Regime ver­haf­tet und im Zuge der Revolution wie­der frei­ge­las­sen wur­de, wor­auf er in Tunesien zum Held und von den inter­na­tio­na­len Medien als Sprachrohr der Revolution gefei­ert wur­de.

Die Zeit schrieb: «Diese Musik hat das Land ver­än­dert.» Konnte sie das wirk­lich?

Musik hat in den ara­bi­schen Revolutionen eine wich­ti­ge Rolle gespielt. Aber nicht nur die Musik, die man auf You-Tube hören konn­te. Entscheidender war wohl die expe­ri­men­tel­le Subkultur. Das sind Leute, die seit Jahren tag­täg­lich in ihrem Übungsraum ver­su­chen, musi­ka­li­sche Qualität zu errei­chen und eine alter­na­ti­ve Musikkultur auf­zu­bau­en; in einer Welt, in der es rund­her­um vor­wie­gend Propaganda und Kommerz gibt. Das sind Künstler, die in die­sen Revolutionen musi­ka­lisch auf kein Podest gestie­gen sind, weil sie oft selbst demon­striert haben. Die Rapper waren mit Sicherheit auch wich­tig. Sie waren wohl aber mehr Soundtrack zu den Revolutionen und nicht die­je­ni­gen, die eine Revolution ent­fa­chen konn­ten. Dazu braucht es die gan­ze Gesellschaft.

El Général steht zwar für die demo­kra­ti­sche Revolution, rappt gleich­zei­tig aber auch vom Dschihad und gegen die Juden. Stellen Hip-Hopper auch eine gewis­se Gefahr dar?

Das glau­be ich nicht. Die Rapper bedie­nen sich einer Sprache, wie sie auf der Strasse gespro­chen wird. Lokal ist es wich­tig, dass Leute für die Redefreiheit kämp­fen. Problematisch wird es, wenn Hip-Hopper wie Général nach Europa ein­ge­la­den wer­den, da ihre Inhalte aus unse­rer Perspektive nicht ver­stan­den wer­den kön­nen. Aber eigent­lich soll­ten doch musi­ka­li­sche Qualitäten aus­schlag­ge­bend sein: El Général & Co. soll­ten ein­ge­la­den wer­den, weil sie gute Rapper sind. Momentan funk­tio­niert das anders: NGOs brin­gen die Leute nach Europa, weil sie eine poli­ti­sche Stimme gewor­den sind. Die hie­si­ge Hip-Hop-Community inter­es­siert sich dann aber über­haupt nicht für die gehyp­ten Senkrechtstarter, was ich durch­aus ver­ste­hen kann.

Das Musikfilmfestival zeigt gleich drei Filme zu Hip-Hop im Libanon und Marokko. Welche Rolle spielt der Hip-Hop in der ara­bi­schen Welt?

Der Hip-Hop ist aus­ge­spro­chen wich­tig. Er ist die ein­zi­ge Alternativkultur, die es schafft, vie­le Leute zu errei­chen. Die Rapper stel­len eine Art Brücke zwi­schen Subkultur und Mehrheitsgesellschaft dar. Irgendwelche Nerds fin­den sich in den ara­bi­schen Ländern in jeder musi­ka­li­schen Nische. Die spie­len dann aber mei­stens nur vor ihrem klei­nen Insiderpublikum, blei­ben auf die Hauptstädte beschränkt und wer­den durch die tra­di­tio­nel­len Medien nicht ver­brei­tet.

Gazelle feat. Weez
«Just Now»
ab dem Album «Chic Afrique» (Peer Music, 2009)

Xander Ferreira aka Gazelle tritt im Rahmen des Musikfilmfestivals im Club Bonsoir auf.

Ein kon­tro­ver­ser Discokönig aus Südafrika. Er spielt als weis­ser Künstler mit Rollen von schwar­zen Diktatoren, wie zum Beispiel im Video zu die­sem Song: Darin besucht er mit sei­nen zwei schwar­zen Bodyguards die Art Basel und ver­sucht den Leuten aus einem Koffer Geld anzu­dre­hen. In einem ande­ren Video lässt er auf der Farm sei­ner Eltern die schwar­zen Arbeiter schuf­ten, wäh­rend er selbst auf dem Feld tanzt. Das ist eine poli­ti­sche Provokation. Er spielt ganz bewusst mit den Post-Apartheid-Traumata, wel­che sowohl für die weis­se wie auch für die schwar­ze Bevölkerung in Südafrika nach wie vor exi­stie­ren. Gazelle selbst ist ein Projekt, wel­ches über die media­le Vermarktung als Gesamtprodukt von Musik, CD, Video und Performance funk­tio­niert. Xander Ferreira ist im Zusammenhang mit einer neu­en Generation afri­ka­ni­scher Künstler zu sehen, wel­che die Komplexität und Vielfalt des afri­ka­ni­schen Kontinents sehr ver­spielt und iro­nisch prä­sen­tie­ren will: Sie zei­gen ein Afrika von Tradition bis Moderne, von Kitsch, Trommeln über Synthesizer und Beats bis hin zu Strassengeräuschen.

www.norient.com

Foto: zVg.
ensuite, Januar 2012