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Millions can walk

Von Sonja Wenger – Sie waren buch­stäb­lich aus jedem Winkel des Landes gekom­men. Im Oktober 2012 tra­fen sich schät­zungs­wei­se 100’000 Menschen in der zen­tral­in­di­schen Stadt Gwalior, und mach­ten sich danach auf den Jay Satyagraha, den «Marsch der Wahrheit» in Richtung der 400 Kilometer ent­fern­ten Hauptstadt Delhi. Die mei­sten von ihnen gehör­ten den Adivasi an, der indi­ge­nen Stammesbevölkerung Indiens, die rund neun­zig Millionen Menschen zählt, und die mit zu den am stärk­sten mar­gi­na­li­sier­ten Teilen der Bevölkerung gehört. Ihre Forderung: Neue und wirk­sa­me Gesetze, die den Schutz und die Lebensgrundlage der Adivasi garan­tie­ren, und den Landlosen zu einem Stück Land für die Eigenversorgung und einem Leben in Würde ver­hel­fen sol­len.

Es war der zwei­te Marsch die­ser Art, nach­dem sich 2007 schon ein­mal 25’000 Menschen mit dem­sel­ben Ziel nach Delhi auf­ge­macht hat­ten. Damals war es zu schwe­ren Zusammenstössen mit der Polizei gekom­men, und die Politikerkaste hat­te danach, wie so oft und nicht nur in Indien, Versprechen abge­ge­ben, die sie nicht ein­zu­hal­ten gedach­te. Als dies abseh­bar wur­de, mach­te sich die bekann­te sozia­le Bewegung Ekta Parishad unter der Führung ihres Gründers Rajagopal P.V. dar­an, einen neu­en, noch grös­se­ren Marsch zu orga­ni­sie­ren. Während einem Jahr rei­sten Rajagopal und sei­ne MitarbeiterInnen durch das gan­ze Land, moti­vier­ten die Dorfbevölkerung, ver­link­ten 2000 Organisationen und 800 loka­le sozia­le Kämpfe mit­ein­an­der, und stemm­ten eine gewal­ti­ge logi­sti­sche Aufgabe für die wochen­lan­ge Versorgung von 100’000 Menschen auf ihrem Marsch.

Es sei ein rei­ner Zufall gewe­sen, dass er wäh­rend die­ser Vorbereitungszeit auf einer pri­va­ten Indienreise MitarbeiterInnen von Ekta Parishad ken­nen­ge­lernt habe, sagt der Schweizer Regisseur Christoph Schaub. Danach habe ihn die Idee, über den Marsch einen Dokumentarfilm zu dre­hen, nicht mehr los­ge­las­sen. Schaub ist dem Schweizer Publikum vor allem durch sei­ne Spielfilme «Giulias Verschwinden», «Jeune Homme» oder «Sternenberg» bekannt. Doch gera­de sei­ne frü­hen Filme beschäf­tig­ten sich inten­siv mit poli­ti­schen Themen. Dass sich Ekta Parishad expli­zit der Gewaltlosigkeit und der abso­lu­ten Gleichheit aller Menschen ver­schrie­ben hat, ihr Vorgehen aber auch völ­lig neue Ansätze im Kampf um die Rechte und den Schutz der UreinwohnerInnen, der Landlosen und aller sozi­al und gesell­schaft­lich Benachteiligten auf­zeigt, waren mit ein Grund, wes­halb sich Schaub ent­schloss, «Millions can walk» zu machen.

Mit Hilfe des indisch­stäm­mi­gen Schweizer Regisseurs Kamal Musale – Schaub selbst war wäh­rend sei­nen Recherchen von den indi­schen Behörden plötz­lich ohne Angabe von Gründen die Wiedereinreise ins Land ver­bo­ten wor­den – beglei­tet Schaub den Marsch im Film mit atem­be­rau­ben­den Bildern. Er zeigt zudem die poli­ti­sche Entwicklung dar­um her­um auf und por­trä­tiert nicht nur Rajagopal, sei­ne Bewegung und deren phi­lo­so­phi­schen Hintergrund, son­dern auch sie­ben der MarschteilnehmerInnen.

Mit sel­te­ner Wucht zeigt «Millions can walk», wel­che Wut im Bauch der Betroffenen bro­delt, wel­che Hoffnungen sie näh­ren, mit wel­cher Entschlossenheit und Opferbereitschaft sie sich auf eine beschwer­li­che und lan­ge Reise machen – und was sie dabei erle­ben. Besonders auf­wüh­lend, fas­zi­nie­rend und beein­druckend sind dabei die Aufnahmen des Alltags im länd­li­chen Indien, in all sei­ner Schönheit und sei­nem Reichtum, aber auch sei­ner all­ge­gen­wär­ti­gen Verschmutzung, der bit­te­ren Armut und Not. Nur sel­ten erhält man einen Einblick wie die­sen: prä­zi­se, authen­tisch, bei­na­he uner­bitt­lich. In Indien gibt es nichts zu beschö­ni­gen. Nicht ohne Grund fragt ein Marschteilnehmer, wie denn Indien zur Supermacht habe auf­stei­gen kön­nen ohne sich um sei­ne Armen zu küm­mern.

Der Jay Satyagraha von 2012 hat­te Erfolg und ende­te mit einer Vereinbarung zwi­schen der Zentralregierung und Ekta Parishad. Ein Jahr spä­ter sind acht­zig Prozent der Forderungen auf Gesetzesebene und in Kommissionen der indi­schen Bundesstaaten ver­ab­schie­det wor­den. Wie die effek­ti­ve Umsetzung der Gesetze vor­an­geht, wird die Zukunft zei­gen. Sollten es wie­der lee­re Versprechen gewe­sen sein, wer­den sich dann wohl Millionen auf den näch­sten Marsch machen.

«Millions can walk», Schweiz 2013. Regie: Christoph Schaub und Kamal Musale. Länge: 88 Minuten.

Anlässlich der Premiere des Films befin­det sich Rajagopal Ende Januar in der Schweiz. Mehr Informationen zu den geplan­ten Veranstaltungen fin­den Sie unter: www.millionscanwalk-film.com

Foto: zVg.
ensuite, Januar 2014