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Menschen & Medien: Digitale Illusionen

Von Lukas Vogelsang – Früher, ja, frü­her, da gab es die­sen Zeitungsverkäufer in der Strasse, beim Loeb-Egge. «Drrrrrrr Bund» – Und heu­te? Wir krie­gen die Nachrichten per SMS, Twitt oder Email. Der Wert einer sol­chen digi­ta­len Nachricht ist gleich null. Die Wertschätzung eben­so. Es berührt nicht, ist anonym, unper­sön­lich, kalt und leer. «Drrrrrr Bund» – das hat­te noch Wärme an einem kal­ten Wintermorgen. Hatte Seele, war greif­bar, mensch­lich. Vor allem war die ana­lo­ge Welt eine Welt der Rituale. Wer am Morgen beim Loeb vor­bei ging, des­sen Gedanken wur­den jäh unter­bro­chen: «Drrrrrr Bund» – Und heu­te? Wir gehen mit Kopfhörer iso­liert an den Arbeitsplatz, star­ren in den Monitor, klicken uns mit Instantkaffee durch die Tagesnews und wen­den uns ab vom Gesellschaftlichen.

Digitale Zeitungen machen kei­nen Spass und brin­gen kei­ne Lebensqualität. Zeit zu haben ist eine Lebensqualität, folg­lich heisst: weni­ger Zeit – weni­ger Qualität. Eine Zeitung, die auf Kurzfutter getrimmt, Kurzlesestoff mit Kurznachrichten für Schnellleser und Schnellinformierte gemacht wird, ist qua­li­ta­tiv also gerin­ger ein­zu­stu­fen. Und es ist wirk­lich kei­ne Lebensqualität, wenn ich im über­füll­ten Zugabteil, einen Becher Kaffee in der einen Hand, ver­su­che, mit dem beweg­li­chen Rest mei­nes Körpers die Zeitung in der ande­ren Hand umzu­blät­tern, mit digi­ta­len Ohrenwärmern den Aussenlärm abhal­tend mich auf eine klei­ne Textpassage zu kon­zen­trie­ren – vor der näch­sten Haltstelle, wel­che die­ses gesam­te Jonglagewerk unwei­ger­lich zu Fall brin­gen wird. Das Ganze ist viel­leicht Kunst – aber mit Qualität hat das nichts zu tun.

Man könn­te jetzt mei­nen, Smartphone-Besitzer wür­den ein­fa­cher leben. Vielleicht, gewis­ser­mas­sen, bis zum näch­sten Tunnel, wel­cher die Internetverbindung wie­der für eine Weile unter­bricht. Medial digi­tal unter­wegs zu sein, hat gewis­se zeit­li­che Qualitätsmerkmale: Durch die lang­sa­men Übertagungsraten blei­ben uns doch immer wie­der ein paar Sekunden, um inne­zu­hal­ten und über gele­se­nes nach­zu­den­ken. Wir nähern uns also einer Besserung der Situation. Allerdings wer­den die Texte im digi­ta­len Bereich oft kür­zer, oder ein 10seitiger Bericht wird 318 Bildschirmseiten lang – das kann den klei­nen Qualitätsvorsprung gleich wie­der ver­nich­ten.

Falls wir uns aber in ein rich­ti­ges Kaffeehaus set­zen und genüss­lich ein «Coffee & News» gön­nen, wird das nicht gemüt­li­cher mit einem digi­ta­len Gerät. Eine rich­ti­ge Zeitung muss her. Halbwegs akzep­tier­bar ist noch ein Laptop, weil wir so wenig­stens arbeits­fä­hig wer­den – zumin­dest soweit dies digi­ta­le Freundschaftsbekundungen zulas­sen. Der Genuss wird aber auf der Strecke blei­ben (was in einem Starbucks-Coffeeshop nicht auf­fal­len wird – aber das ist ein ande­res Thema).

So. Jetzt haben wir uns digi­tal eini­ger­mas­sen ein­ge­rich­tet. Jetzt fin­den wir sogar noch eine Online-Zeitung, die uns gefal­len wür­de. Bitte, ver­su­chen Sie jetzt drei Artikel ganz durch­zu­le­sen. Das fällt uns inso­fern schwie­rig, weil der erste Artikel bereits eine Fotostrecke ent­hält, mit 28 Bildern. Der Zweite lenkt durch ein Trailer-Video ab, und führt uns noch über Youtube auf ein paar uns unbe­kann­te wei­te­re Videos. Beim drit­ten Artikel über­le­gen wir uns, wie wir wohl unse­ren Körper bes­ser posi­tio­nie­ren könn­ten – mit dem Buch oder der Zeitung war das ein­fa­cher, die Übung ein­ge­spiel­ter. Auch über­le­gen wir uns, ob wir lie­ber im Hochformat oder Querformat lesen, und ob man den Zeichensatz etwas grös­ser machen könn­te. Auch müss­te man sich mal Gedanken machen, ob man lie­ber eine Gummi-Schutzhülle oder eine aus Leder anschaf­fen will. Das Gerät rutscht in gewis­sen Positionen. Dann wären aber auch die Farben vom Bildschirm anzu­pas­sen – viel­leicht kann man auch gleich die Symbole ändern. Ob ich viel­leicht die Bedienung fra­gen soll, ob es mög­lich ist, das Ladegerät ein­zu­stecken? Ist eigent­lich mein Email schon beant­wor­tet wor­den? Ich glau­be, ich neh­me noch einen zwei­ten Kaffee.

Und wor­um ging es jetzt eigent­lich im Text?

Cartoon: www​.fauser​.ch
ensuite, November 2012