(Constantin Seibt) –

Es war heiss, stickig, irgendwann in den Neunzigerjahren. Eine Luft, um ohnmächtig zu werden. Der einzige Mann, der im Raum noch lebte, war der Redner. Seine Glatze leuchtete fahl unter einem einzigen Scheinwerfer.
Ich hatte viel von ihm gelesen. Eine Menge Aufsätze zu Schriftstellern, zwei Bände Autobiographie und sein grosses Buch «Aussenseiter». Hans Mayer war im Fach, das ich studiert hatte – Germanistik -, ein einsamer Könner: ein klarer, kühner, politischer Kopf.
Keine Ahnung, was das offizielle Thema von Professor Mayers Vortrag war. Denn das spielte keine Rolle. Er hielt eine Rede, die ausschliesslich aus zwei Elementen bestand: aus den Büchern, die er geschrieben hatte (mit Titel, Verlagsangabe, Verkaufspreis, meist auch mit Auflagezahl). Dazu erzählte er Anekdoten seiner Begegnungen mit Philosophen und Schriftstellern (Brecht, Benjamin, Thomas, aber auch Heinrich Mann). Wobei der Plural dabei hoch gegriffen war. Denn im Prinzip war es nur eine einzige Anekdote, nur mit wechselndem, aber stets grossem Namen. Professor Mayer erklärte dem Namen etwas, der Name bezweifelte es, aber Jahre später musste der Name Mayer in allen Punkten Recht geben.
Mein Hemd klebte mir am Körper, zur Hälfte vor Entsetzen. Meyers Vortrag war eine Veranstaltung meiner Redaktion, der WoZ. Und er war eine Katastrophe. Um mich herum roch ich den Schweiss der anderen Redakteure. Lauter Leute, die ich für härter, ernsthafter, erwachsener als mich hielt. Ich war nur der Entertainer.
Schliesslich war Mayer am Ende. Im Foyer, beim Rauchen, gesellte ich mich zu einer Gruppe von Redakteuren, auf der Suche nach geteiltem Leid.
«Was für ein Desaster», sagte ich.
«Wieso?», fragten die gestandenen Redakteure.
«Er hat nichts gesagt. Ausser, dass er viele Bücher geschrieben hat. Und immer Recht hatte.»
«Du weisst, wer Hans Mayer ist? Der wichtigste Literaturkritiker der Gegenwart.»
«Ich weiss. Aber der Vortrag war nichts als eine Orgie der Eitelkeit.»
Worauf der Kulturchef mich ernst ansah: «Es ist doch ein Ereignis, dass ein so grosser Mann bei uns auftritt!»
Zu meiner Verblüffung dachten fast zwei Drittel meiner Kollegen ähnlich. Die Botschaft von Hans Mayers Vortrag war die physische Anwesenheit von Hans Mayer. An diesem Abend verlor ich ein Stück meiner Jugend. Mein Bild – hier die erwachsenen, unbestechlichen Kritiker, dort ich, der jonglierende Seehund – bekam einen ersten melancholischen Riss.
Watte am WEF
Später, ebenfalls erwachsen, stellte ich fest, dass sich das Phänomen keinesfalls auf die WoZ beschränkte. Etwa bei meiner ersten Akkreditierung am World Economic Forum. Das Erstaunliche an den Diskussionen dort war, dass man beim Mitschreiben regelmässig den zweiten Teil des Satzes leer lassen musste, weil man ihn beim Aufschreiben des ersten Teils vergessen hatte. Zwar sassen dort die Chefs der grössten Konzerne des Planeten, aber ihre Sätze waren ununterscheidbar: ein Salat aus Wortformeln wie «roadmap», «reform», «leadership», «challenges» oder «opportunities».
Ich traute meinen Beobachtungen nicht. Die mächtigsten Leute der Welt veranstalteten das mieseste Entertainment der Welt.
«Kriege ich etwas nicht mit? Ist da irgendein Geheimnis dabei?», erkundigte ich mich bei einigen hartgesottenen deutschen Wirtschaftsjournalisten, mit denen ich gerade Gratissandwiches ass. (Free food, free drinks, free press.)
«Nö», sagten sie.
«Was tun wir dann hier?»
«Nirgendwo trifft man so viele wichtige Leute.»
«Aber erzählen die irgendetwas Interessantes?»
«Darum geht es hier nicht. Wo sonst kann man mit Bill Clinton, Joe Ackermann und Bill Gates in einem Raum sein?»
Eine Frage des Respekts
Oder bei der letzten Verleihung des Zürcher Journalistenpreises. Der Ex-Ringier, Ex-Tamedia, Ex-NZZ, jetzt FaZ-Verlagschef Tobias Trevisan hielt einen langen Vortrag, mit Lesebrille auf der Nase. (Hier das Manuskript im Netz.) Er sagte in einer halben Stunde nichts, was auch nur annähernd verblüffend gewesen wäre.
«Er hat fast nichts gesagt», beschwerte ich mich.
«Aber es ist doch toll, dass ein so wichtiger Mann sich die Zeit genommen hat, von Frankfurt her nach Zürich zu kommen», antwortete man mir.
Um ehrlich zu sein, das finde ich nicht. Er hätte in Frankfurt bleiben sollen. So wie Hans Mayer in Tübingen. Oder die Top-Manager in ihren Hotels. Wozu reden, wenn es nichts zu reden gibt?
Ein schlechter Vortrag kann jedem unterlaufen. Auch furchtbare Eitelkeit ist verzeihlich: Hans Mayer ist ein grosser, kluger Autor, trotz ihr. Tobias Trevisan einer der kompetentesten Verlagsmanager. Und die WEF-Teilnehmer haben sicher andere Kompetenzen, als die Welt zu retten.
Aber, ich glaube, das darf keinem Journalisten passieren: Schwurbel kommentarlos zu schlucken oder zu drucken – nur weil ein grosser Name ihn äussert. Das heisst nicht, Prominente härter anzupacken als sonst wen. Im Gegenteil: Man sollte ihnen denselben Respekt erweisen wie jedem Dahergelaufenen auch. Also zuhören. Und dann entscheiden: Was war Quark, was nicht?
Denn bei Vorträgen, Debatten und Interviews zählt als harte Währung nur: «Was wurde gesagt?» Dreht sich die Berichterstattung um die Frage: «Wer war alles da?», so war das Ereignis Müll.
Und das sollte man auch so schreiben. Aus Respekt. Weil man den berühmten Leuten wirklich zugehört hat.
De Sade in den Presserat
Der Marquis de Sade ist zwar sonst der letzte kompetenter Ratgeber, was Höflichkeit betrifft. Aber er hat einen Satz geschrieben, der in jedes Handbuch für journalistische Ethik gehört. Es ist die Begründung, wann man einen Verriss schreiben muss. Egal, wie persönlich oder politisch nah einem der Verrissene steht oder wie glanzvoll eine Veranstaltung besetzt war. Der Satz findet sich am Ende folgender kurzer Episode aus De Sades Hauptwerk «Juliette oder die Vorteile des Lasters».
Juliette und ihre Komplizin Lady Clairwil lernen am Hof in Neapel die Prinzessin Borghese kennen. Sie freunden sich an und verbringen die Nacht miteinander, mit den üblichen Orgien.
Am nächsten Morgen besteigen sie den Vesuv. Am Gipfel fesseln Clairwil und Juliette die Prinzessin und kündigen ihr an, sie in den Vulkan zu werfen.
Die Prinzessin erkundigt sich zu Recht, womit sie diese Behandlung verdient habe.
Worauf Juliette und Clairwil den Satz sagen: «Du langweilst, das genügt.» Und die Prinzessin in den Krater werfen.
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