Medien, Kunst, Wirklichkeit: Webdokus

Von

|

Drucken Drucken

Internet und sozia­le Netzwerke eröff­nen der Kulturpublizistik und Kulturschaffenden neue Spielräume: Online kon­su­miert ein Nutzer unab­hän­gig von Ort und Zeit kul­tu­rel­le Inhalte, kom­men­tiert und emp­fiehlt wei­ter, nimmt so am gesell­schaft­li­chen Diskurs teil und gene­riert auch eige­ne Beiträge. Medien- und Kulturschaffende sind gefor­dert in der Frage, wie sie die-ses Potential nut­zen. Multimediaformate wie die Webdokumentationen «360 Grad Langstrasse» von SRF und «Planet Galata» von ARTE zei­gen bei­spiel­haft, in wel­che Richtung die Reise gehen könn­te.

Abstecher in die Zürcher Langstrasse: Wie bei Google Street View durch die Zürcher Rot-licht-Meile fah­ren. Strassenlärm und Gelächter da und dort, Velos und Autos, die einen über­ho­len, wäh­rend man sich umschaut. In schwar­zen und roten Sprechblasen öff­net sich einem ein Universum: Da sind Tweets aus aller Welt, die das Wort «Langstrasse» ent­hal­ten, und qua­si als Eingangsschilder fun­gie­ren­de Stichworte, die zum Besuch eines Schulhauses, Tattoo-Studios oder des Clubs Zukunft ein­la­den. Dann bricht die Internetverbindung zu-sam­men. Kein Wunder, denn es ist eine gewal­ti­ge Datenmenge, die man beim Surfen auf der Webdokumentation «360° Langstrasse» des Schweizer Fernsehens abruft. Sie ver­webt Panorama- und Klangbilder, Videointerviews und Kurztexte zur ani­mier­ten und inter­ak­ti­ven Multimedia-Plattform.

«Die Webdokumentation 360° Langstrasse war eine Art PR-Aktion für die fünf­tei­li­ge Dok-Serie, die wir auf SF1 aus­strahl­ten», kom­men­tiert Christoph Müller, Redaktionsleiter Doku-men­tar­fil­me und Reportagen beim seit Anfang 2011 kon­ver­gier­ten Schweizer Radio und Fernsehen, gegen­über kulturkritik.ch. Man habe ein jun­ges, urba­nes Publikum anspre­chen wol­len, wofür sich das Internet sehr gut eig­ne, ergänzt Online-Redaktorin Sibylle Winter auf Anfrage. Mit der auf HTML 5 – statt, wie her­kömm­li­che Websites, auf der Flash-Technologie – basie­ren­den visu­el­len Sprache, die das Erlebnis Strasse in den Vordergrund stel­le, habe man nicht nur welt­weit mit­hil­fe von Twitter die Aufmerksamkeit von Internet-Nutzern auf sich gezo­gen, son­dern sei auch in der Webdesign-Szene inter­na­tio­nal auf Echo und Lob ges-tos­sen. So ver­lieh die inter­na­tio­na­le «Awwwards»-Jury «360° Langstrasse» Ende Januar 2012 den Titel «Site of the Year 2011».

Mehr als ein PR-Vehikel

Die Webdokumentation erwei­tert und ergänzt die Doku-Serie, macht den Zuschauer zum User. Hat er in der Folge «Seide, Sex und Nasensalbe» am TV die Sexarbeiterin Jenny und ihr Arbeitsumfeld ken­nen­ge­lernt, so eröff­net ihm die Webdokumentation mit dem Besuch der Isla Victoria, einer Beratungsstelle für Frauen, die im Sexgewerbe arbei­ten, einen wei­te­ren Blickwinkel auf die Thematik. Hat er das Seidenatelier von Andi Stutz im Fernsehen nur im Hintergrund gese­hen, so kann er es jetzt im Web mit Rundumblick bege­hen.

«360° Langstrasse» ist ein Beispiel dafür, wie man die Grenzlinie zwi­schen Journalismus, Dokumentarismus und Kunst aus­rei­zen und den Rezipienten aktiv invol­vie­ren kann. Auch die Webdokumentation «Planet Galata – Eine Brücke in Istanbul» des deutsch-fran­zö­si­schen Kulturfernsehens ARTE geht die­sen Weg. Hier klickt man sich durch Videoausschnitte des Dokumentarfilmers Florian Thalhofer, die Einblick in das Leben von Menschen in der tür­ki-schen Hauptstadt geben. Zum Beispiel in das des Friseurs, der sei­nen Salon vor acht Jahren im Fussgänger-Korridor auf der unte­ren Ebene der Brücke eröff­ne­te und heu­te täg­lich 300 bis 400 Kunden den Bart oder die Haare schnei­det. Oder in das der ehe­ma­li­gen ame­ri­ka­ni-schen Opernsängerin, die in der Stadt am Bosporus ihre wah­re Heimat fand. Oder in das des Jugendlichen, der auf der Brücke Spielzeug-Mäuse ver­kauft, aber eigent­lich Arzt oder Lehrer wer­den woll­te. Der User bahnt sich sei­nen Weg über die Brücke und stellt so sei­nen eige­nen Film zusam­men. Wenn er will, lädt er selbst Videos und Fotos von Istanbul hoch. «Planet Galata» wird damit zum Archiv und Ort der kol­lek­ti­ven Wahrnehmung.

Unkalkulierbarer Erfolg

User Generated Content (UGC) nennt sich die­ses Konzept in der Fachsprache. «UGC ist eine Art Ausweitung von Oral History», so SRF-Redaktionsleiter Christoph Müller. Menschen be-schrei­ben ihre Lebenswelt – heu­te nicht mehr nur münd­lich, son­dern mit Fotos, Videos und Kommentaren im Internet. «Das Arbeiten mit UGC ist aber nach wie vor auch ein gros­ses Tappen im Nebel, denn oft ist unbe­re­chen­bar, was funk­tio­niert und was nicht», gibt Chris-toph Müller zu beden­ken. Wie unwäg­bar die Reaktionen sind, zeigt das von SF rea­li­sier­te Web-Projekt «Wir über uns». Zwei Kinder doku­men­tier­ten mit der Kamera ihren Alltag in der Siedlung Grünau am Stadtrand von Zürich – dar­aus ent­stand eine viel beach­te­te «Repor-ter»-Sendung. Der Aufruf an Kinder aus ande­ren Gemeinden und Schulen, es den bei­den gleich­zu­tun und eige­ne Beiträge auf die SF-Website zu laden, stiess dann jedoch, so Chris-toph Müller, auf über­ra­schend wenig Echo.

Aufwändige Webdokumentationen wie die­je­ni­gen von SRF und ARTE sind in ihrer Wirkung auch des­halb schwer vor­aus­seh­bar, weil Klickraten kei­ne Auskunft dar­über geben, ob ein User männ­lich oder weib­lich, jung oder alt, arm oder reich ist. Entsprechend schwie­rig ist es, Schlüsse zu zie­hen für die Ausrichtung von Angeboten und die Definierung von Zielgruppen. Nichtsdestotrotz haben sol­che inter­ak­ti­ven Multimedia-Formate ein hohes Potential. Im Erfolgsfall gene­rie­ren sie nicht nur einen direk­ten Mehrwert, son­dern erhö­hen auch die Bin-dung mit einem neu­en, inter­net-affi­nen Publikum. Kommt hin­zu, dass Online-Beiträge, wenn sie in sozia­len Netzwerken Aufmerksamkeit erre­gen, eine län­ge­re Nutzungsdauer ha-ben als Zeitungsartikel und Sendungen in TV und Radio, die dar­über hin­aus nur ein geo­gra-phisch ein­ge­schränk­tes Publikum errei­chen. «360 Grad Langstrasse» ver­zeich­ne­te in den ersten sie­ben Wochen nach dem Launch Mitte August 2011 90’000 Besuche und 900 Tweets aus 15 ver­schie­de­nen Ländern. Noch im Dezember zähl­te die Seite 25’000 Besuche.

Die Kulturpublizistik ist gefor­dert, einen krea­ti­ven und gleich­zei­tig nutz­brin­gen­den Umgang mit den sich rasch fort­ent­wickeln­den Möglichkeiten im Internet und mit sozia­len Netzwer-ken zu fin­den. Besonders viel­ver­spre­chend sind Modelle, die nicht nur inhalt­lich, son­dern auch im Bereich Design und Technologie Neues zei­gen: wo der Besuch der Seite zum Erleb-nis wird. Und wo Inhalte per­so­na­li­sier- und teil­bar wer­den. Bei Webdokumentationen im Stil von «360 Grad Langstrasse» und «Planet Galata» wird es kaum blei­ben. Eher haben Medien und Kunst als Räume der Konstruktion des Wirklichen die wesent­lich­sten Schritte der Digita-lisie­rung noch vor sich.

Copyright © 2011 Kulturkritik • Kritische Stimmen zum Zürcher Kulturgeschehen Kulturkritik.ch ist ein Projekt der Plattform Kulturpublizistik • Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK)

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo