Matthias Gawriloff

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Von Hannes Liechti – In der Serie «Musik für …» wird jeweils eine Persönlichkeit aus dem Berner Kulturleben mit einer aus­ge­wähl­ten Playlist kon­fron­tiert. Diesen Monat trifft es Matthias Gawriloff, Direktor des Berner Symphonieorchesters (BSO).

Vor drei Jahren kam Matthias Gawriloff von der Deutschen Kammerakademie Neuss am Rhein als neu­ge­wähl­ter Orchesterdirektor nach Bern. Seither hat sich viel getan: Mario Venzago ist neu­er Chefdirigent und im Juli die­ses Jahres ist die Fusion von Orchester und Stadttheater zum Gebilde KonzertTheaterBern Tatsache gewor­den. Als Folge der Fusion wird Gawriloffs Stelle auf­ge­löst. Der aus­ge­bil­de­te Klarinettist wird des­halb Bern im Sommer 2012 ver­las­sen. Wir wer­fen einen Blick auf fünf Werke aus dem Programm sei­ner Abschiedssaison.

Arnold Schönberg
«A Survivor from Warsaw» op. 46 für Sprecher, Männerchor und Orchester (1947)
BBC Singers, Chorus & Symphony Orchestra (Pierre Boulez, 1990)

Ein sehr beein­drucken­des Stück. Hoch poli­tisch und aktu­el­ler denn je. Es gab ein­mal ein wun­der­ba­res Programm von Jonathan Nott, dem dama­li­gen Chefdirigenten in Luzern: Er führ­te den «Überlebenden aus Warschau» zusam­men mit einer Klezmerband und den «Hebräischen Themen» von Prokofjeff auf.

Thema des Werks ist die bru­ta­le Niederschlagung des Warschauer Ghettoaufstandes durch die Nationalsozialisten. Worin liegt für Sie die Aktualität des Werks?

Die Rechtslastigkeit unse­rer Gesellschaft ist oft noch vor­han­den. Jegliche Art von poli­ti­scher Äusserung über das Dritte Reich, sei es musi­ka­lisch, in der Kunst oder in der lite­ra­ri­schen Aufarbeitung hal­te ich des­halb für enorm wich­tig. Die Erinnerung muss unbe­dingt wach gehal­ten wer­den, damit es nie wie­der zu sol­chen Geschichten kommt.

Wenn Sie also ein Stück wie den «Überlebenden aus Warschau» auf das BSO-Programm set­zen, ist das auch in einem poli­ti­schen Zusammenhang zu ver­ste­hen?

Ich fin­de, dass die Musik grund­sätz­lich für sich selbst ste­hen muss. Wenn wir aber den «Überlebenden aus Warschau» zusam­men mit «Schelomo» für Violoncello und Orchester von Ernest Bloch in einem Konzert pla­nen, dann kann man das Konzert in sei­nem Gesamtzusammenhang durch­aus als poli­ti­sche Aufarbeitung der Geschichte betrach­ten.

Ludwig van Beethoven
«I. Allegro con brio» aus der Symphonie Nr. 5 in c‑Moll op. 67 (1803–08)
Simón Bolívar Youth Orchestra
(Gustavo Dudamel, 2006)

Das ist natür­lich ein Schlüsselwerk der klas­si­schen Musik. Wir haben das Glück, die Sinfonie inner­halb eines Jahres gleich zwei Mal zu hören. Das ist für das Berner Publikum ein rie­si­ger Gewinn: im ver­gan­ge­nen Januar mit dem jun­gen wil­den Pietari Inkinen und im kom­men­den Dezember mit Chefdirigent Mario Venzago, einer aus­ge­wie­se­nen Exzellenz in der Musik der Klassik und Romantik.

Auf Wikipedia ist von über 150 CD-Einspielungen der Sinfonie die Rede. Haben Sie per­sön­li­che Referenzaufnahmen?

Es gibt tat­säch­lich nur weni­ge Aufnahmen, die dem Stück wirk­lich gerecht wer­den. Ich bin ein abso­lu­ter Fan von Maestri wie Furtwängler, Celibidache und selbst­ver­ständ­lich dem frü­hen Karajan. Der spä­te­re Karajan ist mir dann aber zu roman­tisch, zu gewal­tig. Die Orchester soll­ten nicht all­zu gross sein: 16 erste Geigen sind für die fünf­te Sinfonie nicht nötig.

Diese Aufnahme wur­de vom Simón Bolívar Youth Orchestra unter der Leitung des gefei­er­ten Jungstars Gustavo Dudamel ein­ge­spielt.

Die Aufnahme habe ich mir bis­lang noch nicht ange­hört. Ob Dudamel die fünf­te Sinfonie in einer völ­lig neu­en Version inter­pre­tie­ren kann, weiss ich nicht. Da zie­he ich von der jün­ge­ren Generation bei­spiels­wei­se einen Paavo Järvi vor. Dudamel ist aber ein hin­reis­sen­der Typ und ein wun­der­ba­rer Dirigent. Ich erin­ne­re mich etwa an das Sylvesterkonzert 2010 auf Arte: Das war unglaub­lich, ein Fest der klas­si­schen Musik!

Warum muss ein Werk wie Beethovens Fünfte immer wie­der auf­ge­führt wer­den?

Weil wir das, was der mensch­li­che Geist her­vor­ge­bracht hat, am Leben erhal­ten müs­sen, um immer wie­der auf­zu­zei­gen, wozu wir als Menschen gei­stig in der Lage sind. Warum müs­sen die Schüler im Literaturunterricht immer wie­der die glei­chen Bücher lesen? Weil wir dort mehr ler­nen kön­nen über uns als kul­tu­rel­le Wesen. Nur Mathematik und Vermessungstechnik – damit wer­den wir schei­tern.

Rolf Martinsson
«Concert Fantastique» Klarinettenkonzert Nr. 1 op. 86 (2010)
Martin Fröst & Malmö Symphony Orchestra (Shi-Yeon Sung, 2010) (You-Tube Video)

Sie sind sel­ber Klarinettist. Was cha­rak­te­ri­siert Martin Frösts Spiel?

Martin Fröst ist ein Phänomen. Er inter­pre­tiert klas­si­sche Musik auf eine ein­zig­ar­ti­ge Weise. Einzigartig des­halb, weil sein Spiel so logisch, so neu und so leben­dig ist. Er spielt ande­re Tempi und wen­det unge­wohn­te Phrasierungen an. Und doch bleibt alles voll­kom­men logisch. Fröst legt sehr vie­le Emotionen in sei­ne Musik und bewegt sich mühe­los zwi­schen sämt­li­chen Stilen. Er ist über­all zuhau­se. Es gibt Klarinettisten, die per­fekt lei­se spie­len kön­nen, dafür klingt das Laute nicht so toll. Fröst kann alles – er ist unver­kenn­bar. Ich lie­be sein Spiel.

Der Komponist Rolf Martinsson schreibt über sein Klarinettenkonzert: «Zwei Dinge sind ent­schei­dend: Erstens ist das Soloinstrument eine Klarinette und zwei­tens heisst der Solist Martin Fröst.»

Komponisten, die ihre Werke spe­zi­ell für einen Musiker kon­zi­pie­ren, ken­nen die­sen sehr gut. Sie wis­sen, wel­che tech­ni­schen Eigenheiten der Solist beherrscht. Weiter impro­vi­sie­ren vie­le Solisten wie Fröst. Dadurch ent­ste­hen Phrasen, die den Komponisten inspi­rie­ren und die er in sei­ne Komposition mit ein­flies­sen lässt. Das Stück ist gera­de des­halb span­nend, weil es sehr stark von Martin Fröst per­sön­lich gefärbt ist.

Warum ist im Kultur-Casino ver­gleichs­wei­se nur wenig moder­ne Musik zu hören?

Wir leben in Bern! Als Leiter eines Klangkörpers muss man wis­sen, in wel­cher Stadt man lebt und wel­che Attitüde das Publikum hat. Die Tatsache, dass wir in der letz­ten Saison das Cellokonzert von Henri Dutilleux – eines der wich­tig­sten Werke des 20. Jahrhunderts – auf das Programm set­zen konn­ten, zeigt, dass ich in Bern in den letz­ten drei Jahren durch­aus etwas bewir­ken konn­te.

Anton Bruckner
«II. Adagio. Sehr fei­er­lich und sehr lang­sam» aus der Symphonie Nr. 7 in E‑Dur (1881–83)
Sinfonieorchester Basel (Mario Venzago, 2011)

Fantastisch! Wer spielt das?
Mario Venzago diri­giert das Basler Sinfonieorchester.

Bereits die ersten drei Sekunden waren über­wäl­ti­gend. Dieser Klang, wow! Ich habe mir gleich gedacht: Der Maestro weiss, wie so etwas klin­gen muss.
Weshalb sind Sie so begei­stert?

Mario Venzago kann mit einem Klangkörper sin­gen. Dabei geht es um natür­li­che Bewegungen, um Impulse. Wenn Kinder sin­gen, dann tun sie das nie metro­no­misch, son­dern ein­fach so, wie es gera­de her­aus kommt. Genau das macht Venzago mit dem Orchester. Zwischen den 60er- und den 80er-Jahren war die­se Art des Dirigierens noch ver­pönt. Das war damals die Blüte der Neuen Musik: Architektur ohne Ende, Starrheit pur.
Mario Venzago ach­tet als Dirigent nicht nur auf die kor­rek­te Intonation der ein­zel­nen Instrumente, son­dern ganz beson­ders auf die Dynamik: Da kann es sein, dass das Solo-Fagott ein­mal lei­ser spielt als das zwei­te Fagott. Es ist höchst fas­zi­nie­rend, wie Venzago mit dem Orchester arbei­tet. Eigentlich soll­ten für die Proben Tickets ver­kauft wer­den und die Konzerte müss­ten umsonst sein.

Angenommen, Sie hät­ten zwei CD-Aufnahmen der­sel­ben Brucknersinfonie zur Verfügung. Wählen Sie Sergiu Celibidache oder Mario Venzago?

(lacht) Da spre­chen Sie aber ein gros­ses Wort gelas­sen aus! Venzago spielt zur Zeit ja alle Brucknersinfonien ein. Ich konn­te mir das gan­ze Rohmaterial durch­hö­ren. Da sind Momente dabei, die sind unver­gleich­lich. Nun ist es aber auch so, dass es bei Celibidache Momente gibt, die genau­so unver­gleich­lich und atem­be­rau­bend sind.

Johann Sebastian Bach
«Ein feste Burg ist unser Gott» Eingangs-cho­ral zur Kantate BWV 80 (1728–32)
Bearbeitung für Orchester von Leopold Stokowski (1947/48)
BBC Philharmonic Orchestra
(Matthias Bamert, 2005)

Das hin­ge­gen klingt furcht­bar. Dieser Klang ist schlicht falsch; viel zu ober­stim­men­la­stig. Die Pauken sind zu domi­nant und klin­gen wie hol­län­di­sche Tomaten: Sie sehen schön aus, aber schmecken nach nichts.

In England herr­schen ganz ande­re Rahmenbedingungen als bei uns. Die Musiker wer­den mehr zu Orchestermusikern aus­ge­bil­det und gehen manch­mal kaum über das Blattlesen hin­aus. In nur ein­ein­halb Proben wer­den höchst anspruchs­vol­le Konzertprogramme und Aufnahmen rea­li­siert, die teil­wei­se gar nicht so schlecht sind. Aber, für eine rich­tig gelun­ge­ne Aufnahme muss man Zeit haben, sich mit dem Stück zu beschäf­ti­gen, und nach einem Klang zu suchen. Wenn Mario Venzago vor dem Orchester steht, hat er eine bestimm­te Klangvorstellung. Diese wird mit dem gepaart, was das Orchester anbie­tet. Daraus ver­sucht Venzago einen ein­zig­ar­ti­gen Klang zu for­men. Und das braucht Zeit, die das BBC Philharmonic Orchestra für die­se Aufnahme defi­ni­tiv nicht hat­te. Das hört man. Ich bin gespannt, wie Mario das machen wird.

Foto: zVg.
ensuite, September 2011

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