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Mathilde – eine gros­se Liebe

Von Lukas Vogelsang - Der in Marseille gebo­re­ne Sébastian Japrisot (1931 – 2003) lie­fer­te die Vorlage zum neu­en Film von Jean-Pierre Jeunet (Frankreich) und «des­sen» Star Amélie, oder eben rich­tig: Audrey Tautou. Vier von Japrisots psy­cho­lo­gi­schen Kriminalromanen wur­den seit den 60’er Jahren ver­filmt. Der neue Film ist eben­falls eine von Medien kre­ierte Bestsellergeschichte, geformt durch Sätze wie: «Ein poe­ti­scher, ein phi­lo­so­phi­scher Roman mit der Spannung eines Thrillers.» (Berliner Morgenpost) oder «Den berühm­te­sten Liebespaaren der Weltliteratur sind Mathilde und Manech hin­zu­zu­fü­gen.» (Der Tagesspiegel). Das lech­zen­de Publikum ist über­wäl­tigt, die gesam­te Produktion kann jeg­li­chem Traum nach guter Unterhaltung und befrie­di­gen­der Wiederholung stand­hal­ten. Muss sie auch, denn mit 46 Euromillionen ist «Un long diman­che de finan­çail­les» der teu­er­ste euro­päi­sche Filmproduktion. «Mathilde – eine gros­se Liebe» (der Originaltitel wur­de schon gar nicht erst über­setzt…) ist aber nicht ein­fach opu­len­tes fran­zö­si­sches Kino. Hollywood hat unlängst das poten­ti­al vom Star-Regisseur Jean-Pierre Jeunet erkannt und gebucht. Seine künst­le­ri­sche Freiheit muss man ihm aber las­sen – so ganz käuf­lich ist er nicht. Und in sei­ner Filmografie der Kinohits hat es nur einen Film, der nicht eine über­ra­gen­de Leistung zeig­te: Alien: Resurrection (1997). Mit Delicatessen (1992), La cité des enfants per­dus (1995), Le fabu­leux destin d’ Amélie Poulain (2001) hat er Meisterwerke der Kinowelt geschaf­fen.

Der Film beher­bergt aber noch wei­te­re Eigenwilligkeiten, wenig­stens für Frankreich. Der erste Weltkrieg hat­te in die fran­zö­si­sche Geschichte einen tie­fen Riss geschnit­ten: 1.3 Millionen Tote hat­te Frankreich zu ver­zeich­nen (von 10 Millionen ins­ge­samt). Filme, die noch in den 60’er Jahren die­ses Thema dar­stell­ten, wur­den in Frankreich teils ver­bo­ten (dar­un­ter auch «Path of Glory» von Stanley Kubrick. Erst in den 80’er Jahren locker­te sich die­se Zensur. Dieser neue Film gehört, salopp gesagt, auch ein Teil zur fran­zö­si­schen Selbstfindung.

Zum Film: Der Erste Weltkrieg geht zu Ende und die jun­ge Mathilde hat erfah­ren, dass ihr Verlobter Manech zu jenen fünf Soldaten gehör­te, die von einem Kriegsgericht ver­ur­teilt und als Todgeweihte ins Niemandsland zwi­schen den fran­zö­si­schen und deut­schen Schützengräben hin­aus­ge­schickt wor­den sind. Mathilde wei­gert sich sei­nen gemel­de­ten Tod zu akzep­tie­ren. Durch Kinderlähmung hin­kend und in bäu­er­li­cher und ein­fa­cher Umgebung woh­nend, sind ihre Möglichkeiten zwar beschränkt, doch der Wille gross. Sie hofft und sagt sich: «Wenn Manech tot wäre, dann wür­de Sie das spü­ren.» So sucht sie nach Details und der Wahrheit und bringt im Verlaufe der Recherchen das wah­re Schicksal der fünf Soldaten ans Licht. Ein Weg vol­ler Überraschungen und bru­ta­len Erkenntnisse, Detektive, Prostituierte und ver­wor­re­nen Geheimnissen.

Die Geschichte mag auf den ersten Überblick ziem­lich roman­tisch und kit­schig klin­gen. Das Drama zieht sich aber nicht nur über eine Liebesgeschichte, son­dern geht durch Weltgeschichte und emo­tio­nel­len Willen. Nur die starr­sin­ni­ge Hoffnung, der Glaube, die Unvernunft, die unver­dor­be­ne und jung­fräu­li­che Liebe, unbe­irr­ba­rer Optimismus tra­gen das Geschehen. Und dies ist natür­lich ein her­vor­ra­gen­der Tummelplatz für Jean-Pierre Jeunet und Audrey Tautou: Die Vorübungen zu die­sem Thema wur­den bereits mit «Amélie» gut ein­ge­spielt. So sind zwar ganz ande­re Charakteren in die­sem Film anzu­tref­fen, doch fast die glei­che SchauspielerInnen-Crew. Und noch mehr: Die eigen­ar­ti­gen, spie­le­ri­schen und gro­tes­ken Kameraführungen von Jeunet wur­den in Perfektion wei­ter gezo­gen. Diesmal ein­fach etwas ern­ster, glaub­wür­di­ger, fas­zi­nie­ren­der und ver­söhn­li­cher, als bei «Amélie». Die Kriegsszenen wer­den in kei­ner Art und Weise ver­un­glimpf­licht, kein Spott oder Hohn ist da. Die Bomben der Hoffnung und die des Krieges explo­die­ren in uns. Die 7 Wochen Dreharbeiten im Schützengraben sind auch dem Filmteam in die Knochen gedrun­gen. Jeunet war sich bewusst, dass die Geschichte gefähr­lich ist und im Gegenteil dazu schaff­te er ein ein­drück­li­ches und genia­les Werk, wel­ches in vie­len Szenen pein­lich berührt. Die Produktionsmillionen sind gut inve­stiert.

Besonders Spass machen die wie­der­keh­ren­den und nach­ge­stell­ten Szenen. Mit jedem Schnipsel, dem Mathilde auf ihrem knor­ri­gen Weg begeg­net, ändert sich die Erzählung und die Szene wird neu ein­ge­spielt – jetzt mit den neu­en Geschichtselementen. Das macht die Erzählung unbe­re­chen­bar und span­nend. Fast kein Moment ist vor­aus­seh­bar und wenn doch, so die­nen die­se Sequenzen der rei­nen ciné­a­sti­schen Erholung. Jeunet ist ein bril­lan­ter Erzähler und Gestalter, einer der weni­gen wah­ren Gaukler der Kinowelt. Die Illusionen sind per­fekt und wir fie­bern mit den Figuren – sei­en sie noch so kli­schiert ande­res ist gar nicht mög­lich. Ein klei­nes, des­il­lu­sio­nie­ren­des Beispiel: Der Gare d’ Orsay und auch ande­re Schauplätze waren leer und gar nicht exi­stent. Die SchauspielerInnen agier­ten vor einem Blue-Screen und wur­den spä­ter mon­tiert…

Die Dreharbeiten dau­er­ten von August 2003 bis Februar 2004, begin­nend in Korsika, dann Paris, Bretagne, in die Region Poitiers (Schützengraben-Szenen) und abschlies­send in den Bry-sur-Marne-Studios. Jeunet ist ein Perfektionist und das ist spür­bar. Seine Spontaneität ist abge­si­chert durch detail­ge­treue Storyboards und Videoaufnahmen, die jeweils Tage zuvor gedreht wer­den. Das heisst aber nicht, dass er kei­ne Änderungen zulas­sen wür­de, so meint das Team. Das Aufgebot an guten SchauspielerInnen ist beacht­lich. Jodie Foster spielt mit und Julie Depardieu, die Tochter von Gérard, Jean-Claude Dreyfus, Dominique Pinon und vie­le wei­te­re bekann­te Gesichter. Die Effekte und tech­ni­schen Finessen sind Jeunets Steckenpferdchen und dort ent­puppt sich immer wie­der sein enor­mes Potential: Die Farben, das Dekor, die Ambiente… man riecht förm­lich die Hoffnung der dama­li­gen Zeit.

Eines ist gewiss: Mathilde ist eine gute und befrie­di­gen­de Nachfolgerin für Amélie. Ein gros­ses Stück Zauber im Alltag und eine gros­se Illusion. Hoffentlich las­sen sich davon vie­le Menschen anstecken…

Bild: zVg.
ensuite, Februar 2005