Massimo

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Von Barbara Roelli – Tom sitzt am Küchentisch in sei­ner Zwei-Zimmer-Wohnung und starrt zum Kühlschrank. Der Kühlschrank ist rie­sig – ein Ungetüm. Vier Zügelmänner muss­ten mit anpacken, um ihn durchs schma­le Treppenhaus in die Wohnung zu bug­sie­ren. Dafür konn­te er all die Köstlichkeiten hor­ten, die sei­ne Mutter dem Vater so ger­ne auf­tisch­te. Damals, als bei­de noch leb­ten. Pastete, Pudding, Sülze und Speck. Und natür­lich – und das war ver­mut­lich der Hauptgrund, war­um sich sei­ne Eltern über­haupt einen über­gros­sen Kühlschrank lei­ste­ten: Der Vorrat an Schmorfleisch, wel­ches sei­ne Mutter jeweils sams­tags koch­te. Es war weni­ger ein Kochen, als viel­mehr ein stun­den­lan­ges Vor-sich-her-Simmern des Fleisches, bis die­ses unter leich­tem Druck der Gabel sei­ne Fasern ent­blöss­te und sich mühe­los in mund­ge­rech­te Happen tren­nen liess. Beim Gedeck am Tisch fehl­te das Messer – denn es wäre schlicht zum unnüt­zen Gegenstand gewor­den; beim Verspeisen eines Fleisches von solch zar­ten Charakter. Für Tom war am Samstag «Schmortag». Er beglei­te­te sei­ne Mutter schon früh am Morgen zum Metzger, der für sie die gewünsch­ten Fleischstücke bereits in ragout­ge­rech­te Würfel geschnit­ten hat­te. 600 Gramm Schwein, 600 Gramm Rind, 600 Gramm Lamm. «So wie immer», sag­te der Metzger, was kei­ne Frage war, und reich­te das Fleisch, in zart­ro­sa Plastik gewickelt, mei­ner Mutter über den Ladentisch. Dann rich­te­te er sei­nen Blick auf Tom und frag­te: «Und Du? Möchtest Du ein Wursträdli?». Dabei folg­te ein so schal­len­des Gelächter, dass der gigan­ti­sche Bauch des Metzgers wackel­te und die Zahnlücke zwi­schen sei­nen Schaufeln zum Blickpunkt sei­nes Gesichts wur­de.

Dann kam der Bauch hin­ter der Theke her­vor und eine dicke, rote Hand streck­te Tom eine – zum Viertel gefal­te­te – blas­se Scheibe Fleischkäse ent­ge­gen. Tom kam es so vor, als ob alles Blut, das je in die­ser Fleischkäsemasse gesteckt hat, in die Hand des Metzgers über­ge­lau­fen war.

Der Samstag war für Tom nicht nur «Schmortag» wegen des Fleisches, das sei­ne Mutter für die kom­men­de Woche zube­rei­te­te und in pas­sen­de Tupper abfüll­te; ange­schrie­ben mit den ent­spre­chen­den Wochentagen. «Schmortag» hiess der Samstag auch dar­um, weil Tom dann immer bade­te. Er bade­te lan­ge – so lan­ge, bis sei­ne Fingerspitzen vom heis­sen Badewasser ganz schrump­lig waren. Er stell­te sich dann vor, selbst ein Stück Schmorfleisch zu sein, in der Badewanne zu lie­gen und vor sich hin zu damp­fen, bis sich sein Fleisch von selbst von den Knochen löste … Tom schiebt die Erinnerungen in sei­nem Kopf bei­sei­te. Er sitzt noch immer in der Küche sei­ner Zwei-Zimmer-Wohnung und starrt auf den Kühlschrank. Der gibt ein mono­to­nes Summen in mitt­le­rer Tonlage ab. Manchmal auch gluck­sen­de Geräusche. Seit Toms Eltern tot sind, steht der Kühlschrank in sei­ner Wohnung. Manchmal spricht Tom mit ihm und nennt ihn Massimo. Massimo hiess auch der ima­gi­nä­re Freund von Tom, der bis zur Primarschule sein wich­tig­ster Freund war. Mit ihm schmor­te er im Badewasser oder zähl­te mit ihm die Sterne, wenn sie bei­de nicht ein­schla­fen konn­ten. Wenn Tom sei­ner Mutter beim Zubereiten der Mahlzeiten half, durf­te er immer auch ein Gedeck für Massimo auf­ti­schen. Die Mutter schöpf­te dann auch Massimo, und Tom ass für zwei. Als er dann ins Schulalter kam und mit den gleich­alt­ri­gen Kindern zu spie­len begann, ver­schwand Massimo lang­sam aus Toms Welt. Zu Beginn der ersten Klasse frag­te er die ande­ren Kinder, ob Massimo auch mit­spie­len dür­fe. Weil sie Massimo nicht sehen konn­ten, fan­den sie Tom komisch. Er hör­te auf zu fra­gen. Aber er ass wei­ter für zwei, wur­de gross, dann schwer.

Tom sitzt am Küchentisch – gegen­über vom Kühlschrank, den er manch­mal Massimo nennt. «Weisst Du, wor­auf ich jetzt Lust hät­te?» fragt Tom. Massimo gluckst: «Das Lammragout Deiner Mutter?» «Genau!», sagt Tom und rich­tet sich im Stuhl auf, als hät­te er nur auf die­se Eingebung gewar­tet. «Und füt­tern soll­test Du mich auch,» brummt Massimo und sperrt sei­ne Türe auf. Das Licht aus dem Innern des Kühlschranks erhellt die gan­ze Küche. Als sich Tom an die Helligkeit gewöhnt hat, sucht er mit den Augen nach etwas Essbarem. Auf dem dritt­ober­sten Tablar fin­det er ein ver­lo­re­nes, halb­lee­res Gurkenglas, im Eierfach steckt ein brau­nes Hühnerei mit Sommersprossen und im Flaschenbehälter, an der Innenseite der Kühlschranktüre, steht eine weis­se Petflasche mit Milch. Das ist alles. «Füttern sollst Du mich!» – Massimos tie­fe, mah­nen­de Stimme hallt in der Küche. Tom denkt an geschmor­tes Lammfleisch. Sein Magen knurrt, und ihm ist kalt, denn Massimos Türe steht immer noch weit offen. «Füttern!» – jetzt brüllt Massimo. Und Tom schreckt auf sei­nem Stuhl hoch. Er schnappt sich die rote Einkaufstasche aus Plastik, die an einem Haken neben dem Geschirrtuch hängt und knipst das Licht im Gang an. Dann tauscht er sei­ne Filzpantoffeln mit den schwe­ren Schnürstiefeln und ver­packt sei­nen mas­si­gen Leib im dunk­len Wintermantel. In der Schublade der geerb­ten Eichenkommode sucht er nach dem Couvert, in das er nach dem Zahltag eini­ge Geldnoten gesteckt hat. Er fin­det das Couvert und ver­sorgt zwei Hunderternötli in der Innentasche des Mantels. «400 Gramm Schweine‑, 400 Gramm Rind- und 400 Gramm Lammfleisch kau­fen», dik­tiert Massimo aus der Küche. Tom öff­net die Haustür und schaut durchs Fenster im Treppenhaus. Draussen hat es zu schnei­en begon­nen. «Schmortag», denkt er.

Foto: Barbara Roelli
ensuite, Januar 2010

 

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