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Locarno zum Letzten – Abschlussbericht vom 67. Internationalen Filmfestival

By Andy Eglin

Die Luft ist raus, der som­mer­li­che Hype zu Ende. Der Droge Film folgt der Kater. Die Nähe zum Fernen weicht wie­der der Ferne zum Nahen. Der klei­ne Alltag hat die Piazza Grande wie­der. Wer jetzt nicht den Zug besteigt, bei dem macht sich Grabesstimmung breit. Die Südprovinz fällt wie­der in ihren Dornröschenschlaf der Gerechten, jener Lokalpolitiker, die päpst­li­cher als der jet­zi­ge Papst Roman Polanski die Tür wie­sen.

Die Rede zum Begräbnis der Hochkultur über­las­sen wir nicht Festivaldirektor Carlo Chatrian, von dem man nie weiss, wenn er auf die Bühne stakt, ist er ein Tanzbär mit auf­zieh­ba­rem Federwerk, spricht er aus­wen­dig Gelerntes: «Buona sera Piazza! Buona sera amici del cine­ma: Cinema è semp­re emo­zio­ne!» – oder ziert sei­nen jugend­li­chen Lockenkopf genia­li­sche Bescheidenheit. Er weilt auch schon in Venedig. Wir aber wol­len am Grab das 67. Internationalen Filmfestivals von Locarno noch ein­mal eini­ge Hochs und Tiefs Revue pas­sie­ren las­sen des schon Abgeflaggten, dass es etwas län­ger lebe als nur zwei ver­gan­ge­ne Wochen:

«Fils de» (Pierre Gustave Hervé, Frankreich 2014) – Section Signs of Life

Sie nen­nen sich vom San Fernando Valley bei Las Vegas bis in die Pariser Rue du Château d’Eau «Acteur» oder «Actrice». Denn ihre Schauspielkunst gilt dem «Akt». Sie spie­len dabei auch Theater, agie­ren in einem zwei­ten und drit­ten Akt, denn sie kön­nen immer und über­all, was kaum der bett­läu­fi­gen Realität ent­spricht.

Erotik war immer ein Grenzgebiet der Kunst. Seit man die­se vom Leben trennt. Sie fand auch immer wie­der Abbildung im Sakralen. Im Barock ent­klei­de­ten die Künstler den Himmel voll grie­chi­scher und römi­scher Götter, leg­ten den Figuren aus klas­si­schen Sagen da und dort einen knap­pen Schleier über das Verschämte. Es war nichts ande­res als der dama­li­ge Porno, wor­an sich das Publikum in den Salons, ja selbst noch in Kirchen ergötz­te.

Bis der Maler Gustave Courbet 1866 mit sei­nem berüch­tig­ten Bild Der Ursprung der Welt zen­sur­los zeig­te, was Lustgefühl und bio­lo­gi­sche Sache ist, woher die Fils de immer kom­men. Doch die Geschichte die­ses Bildes illu­striert wei­ter­hin den Zwiespalt der Gesellschaft: Entstanden im Auftrag eines tür­ki­schen Diplomaten, der auch das Türkische Bad von Ingres besass, ein wei­te­rer Klassiker der ero­ti­schen Malerei, ging Der Ursprung unter einer höl­zer­nen Abdeckung, zu öff­nen nur mit Schlüssel, über aben­teu­er­li­che Stationen 1955 an Jacques Lacan.

Obwohl sich der Psychoanalytiker als Aufklärer pro­fi­lier­te, liess er über dem Ursprung eben­so einen ver­schieb­ba­ren Rahmen bau­en, wozu sich Sigmund Freud wohl im Grabe dreh­te, der vor­ne eine harm­lo­se Landschaft zeig­te. Erst 1988 (20 Jahre nach 1968!) wag­te es das Brooklyn Museum in New York, das Bild L’Origine du mon­de öffent­lich zu ent­hül­len. Seit 1995 wird es im Pariser Musée d’Orsay streng bewacht. Denn im Juni 2014 kam es erneut zum Skandal, als sich eine jun­ge Künstlerin eben­so nackt mit geöff­ne­ten Beinen vor das Motiv ihrer Vulva setz­te als ein bewuss­ter Akt der Vermittlung zwi­schen Kunst und Wirklichkeit. Obschon sich das Publikum soli­da­ri­sier­te, wur­de sie ver­haf­tet.
Wie die Geschichte der Bildenden Kunst zeigt auch jene des Films immer wie­der den mensch­li­chen Drang und Gang ent­lang gesell­schaft­li­cher Tabus und dar­über hin­aus. Dagegen ist die stets wie­der auf­flackern­de femi­ni­sti­sche Por-No-Debatte nichts ande­res als ein wei­te­rer, ethisch ver­hüll­ter Abwehrreflex einer eben­so tief ankern­den repres­si­ven Moral, die quer durch alle Religionen und Philosophien letzt­lich nur das Patriarchat bedient mit der Forderung nach Wiederverhüllung des Natürlichen – des Ursprungs des Lebens.

Auch selbst­be­stimm­te SexarbeiterInnen und PornodarstellerInnen ste­hen aus-ser­halb die­ser Moral. Dabei brin­gen sie die­se nur in extre­mis auf den Punkt: Der Mensch als Objekt, kaum je Subjekt des Kapitals. Menschenwürde ret­tet sich so nur in eine bes­se­re «Selbstwertschöpfung», im höhe­ren Preis für die eige­ne Haut, statt sie an einem unter­be­zahl­ten Arbeitsplatz ver­kau­fen zu müs­sen. Nicht nur: In der Gegenkultur der ‚amo­ra­li­schen› Community fin­det auch Lebenslust statt, die wie­der­um einem liber­tä­ren Bürgertum als idea­li­sier­te Projektionsfläche dient für uner­füll­te Wünsche. Es ist nicht nur deren Sehnsucht der Haut, son­dern auch nach einer freie­ren Sprache für die Sexualität, nach­zu­le­sen in Paul Nizon’s Das Jahr der Liebe (1981), bei Gabriel García Márquez oder Jorge Amado. Ein Gewinn an Selbstverständlichkeit, wel­che das «Milieu» aller­dings in einen neu­en Kerker ein­schliesst mit dem Tabu für das Romantische. Dabei träu­men wohl die mei­sten Sexworker und Porno-«SchauspielerInnen» von einer bür­ger­li­chen Existenz, vom Aus- und Einstieg …

Fils de von Pierre Gustave Hervé stellt die­se Frage nach der ‚Entfleckung› von ‚Schuld›: Was mei­nen die Kinder Enora et Léni des Filmregisseurs, Pornoproduzenten und immer noch ‑dar­stel­lers ‚HPG› dazu, dass ihr Papi für ihr Wohl mit sei­nem robu­sten Ding «schau­spie­lert»? – Kann er zurück in ihre ‚Unschuld›? Vor dem Lichterlöschen Kinderbücher vor­le­sen? Und wie gestal­tet sich das rea­le Liebesleben, wenn der Ehemann von Gwenaëlle Baïd, sie sind seit 7 Jahren ver­hei­ra­tet, bereits mit über 600 Partnerinnen immer noch beruf­lich kopu­liert?

Während die ‚Yellow Press› das Privatleben der Hollywood Celebrities mit Heerscharen von Paparazzi aus­leuch­tet, blei­ben die Teilnehmer der «Gonzo»-Filmindustrie, obwohl inzwi­schen eben­so ertrags­stark wie die hono­ri­gen Major Studios, anonym. Niemand fragt nach ihrem rea­len Leben. Dabei tra­gen vie­le der Akteure einen Ring, haben Kids, sind allein­er­zie­hen­de Mütter. Sie bedie­nen eben hand­fe­ste­re ero­ti­sche Träume im Kämmerlein, des­sen Stille pri­va­ti­mer ist als der manch­mal gro­tes­ke Lärm in den Kinosälen der Hochglanzproduktionen aus der aner­kann­ten Traumfabrik. Naturgemäss ist der künst­le­ri­sche Aufwand und Gehalt einer Pornoproduktion in den wenig­sten Fällen ver­gleich­bar. Aber dar­um geht es hier nicht. Es geht um die Grenzüberschreitung eines sozia­len Tabus.

Es gibt in der eta­blier­ten Filmgeschichte des Autorenkinos berühm­te Beispiele, womit sich das liber­tä­re Bürgertum nach dem kul­tu­rel­len, west­li­chen Umbruch von 1968 den Protagonisten und Inhalten des Milieus annä­her­te. Worin die roman­ti­sche oder aben­teu­er­li­che Liebe nicht mehr nur empha­tisch ange­deu­tet, son­dern phy­sisch voll­zo­gen wur­de. Den Anfang mach­ten impro­vi­sier­te «Trash»-Filme aus dem Pop-Art-Underground von The Factory des Andy Warhol mit den alter­na­ti­ven Superstars Viva und Joe Dallesandro: Blue Movie, Flesh (1968), Trash (1970) und Heat (1972) erho­ben das Geschlechtliche eben­so wie die Langeweile und Warhol sei­ne seri­el­len Campbell’s Suppendosen zum wür­di­gen Abbild des mensch­li­chen Alltags. Nicht des­sen Erhöhung und Stilisierung war das Ziel, son­dern die Wahrnehmung des Gewöhnlichen als Sensation. Es war ein Protest gegen alles Etablierte, nutz­te aber gleich­zei­tig geris­sen die Mechanismen der Eitelkeit einer kul­tur­be­flis­se­nen Elite. Dabei eman­zi­pier­te der schmuck­lo­se Mitschnitt von Sexualität die­se von ihrer übli­chen Idealisierung, um sie nicht zei­gen zu müs­sen, um sie rosa­rot ver­klärt wei­ter­hin ver­drän­gen zu kön­nen.

Es folg­ten 1972 Der letz­te Tango von Paris (Bernardo Bertolucci, Italien) mit Marlon Brando und Maria Schneider bei der Verwendung von Butter für nicht gezeig­ten Analverkehr, 1974 Les Valseuses (Bertrand Blier, Frankreich) mit Isabell Huppert, Miou Miou und Gérard Depardieu, wobei ein Kind ent­stan­den sein soll. 1976 dreh­te Nagisa Oshima L’Empire des sens (Japan/Frankreich), wor­in sich ein Glied regt, was das Meisterwerk auf den Index brach­te. 1986 zeig­te der ita­lie­ni­sche Filmpoet Marco Bellocchio in Il Diavolo nel cor­po einen ech­ten ‚Blow Job› (Kritiken umschrie­ben die­sen bil­dungs­bür­ger­lich als ‚Fellatio›) einer enthu­sia­stisch natür­li­chen Maruschka Detmers, die danach 6 Jahre kei­ne Rolle mehr bekam. Und Bellocchio wur­de damals als Anwärter auf die ‚Palme d’Or› vom Filmfestival in Cannes aus­ge­la­den, weil er sich wei­ger­te, die­se Szene weg­zu­schnei­den. 1986 ver­such­te Catherine Breillat in Romance (France) die klas­si­sche Trennung des Autorenfilms zum Schmuddelkino zu durch­bre­chen mit dem Pornostar Rocco Siffredi, der auf dem Set wider Erwarten wegen der Kluft zur intel­lek­tu­ell über­le­ge­nen Regisseurin erst ‚ver­sag­te›. Der Theaterregisseur Patrick Chereau dop­pel­te nach mit Intimacy (Frankreich, 2001), wor­in sich ein Liebespaar zum anony­men Stelldichein trifft, bis die­se ‚Insel› ero­ti­scher Seligkeit von ihrer Alltagsidentität ein­ge­holt wird.

All die­sen Beispielen aus der ‚Skandalgeschichte› des Films ist gemein­sam, dass sich aner­kann­te Filmschaffende und Künstler in eine Tabuzone vor­wa­gen, wie Salonlöwen sich den Damen auf der Strasse nähern. Sie schnup­pern am gesell-schaft­lich Verruchten, dem sie eine grös­se­re Freiheit andich­ten. Kaum je gelang es jedoch den Damen und Herren von der Strasse, hier ver­gleichs­wei­se den Stars des Pornofilms, in die eta­blier­te Kunst auf­zu­stei­gen.

Das Internet macht aber auch dies mög­li­cher. Mit der rasan­ten Verbreitung von Pornofilmen in die Schlafzimmer hat die Pornografie einen nie dage­we­se­nen Konsum erreicht, was aller­dings noch nicht iden­tisch ist mit ihrer Akzeptanz: Dennoch erga­ben Umfragen in Frankreich eine Verbreitung bei bis 30jährigen bei­der Geschlechts von gegen 50%. 2014 titel­te DER SPIEGEL sein Aprilheft (15) mit «Jugend forscht» – auf dem Cover ein jun­ger Mann wie­der­um vor dem Ursprung der Welt, nun auf dem Flachbildschirm: «Jugendliche bezie­hen heu­te ihre sexu­el­le Bildung aus dem Internet. Ist das gut so? – Droht dem Abendland Gefahr? Muss die Pornogesellschaft auf die Couch? – Sexualforscher plä­die­ren für einen ent­spann­te­ren Umgang mit der Flut der Nacktfilme.»

‚Pornoschick› heisst das Phänomen des sozia­len Aufstiegs einer Branche aus den Suburbs von L. A. Das eta­blier­te Hollywood öff­net sei­ne Türen: Regisseur Steven Soderbergh (u.a Sex, Lies, and Videotape 1989, Erin Brockovich 2000, Ocean’s Eleven 2001, Che 2008) dreh­te mit Sasha Grey, ‚Performer oft he Year 2008› für kru­de, aber selbst­be­stimm­te ‚Gangbangs›, 2009 The Girlfriend Experience. Grey ver­folgt inzwi­schen eine zwei­te Karriere zwi­schen Art Gallery, Rock Music und dem ‚American Independent Film›, wird am Sundance Festival auf dem roten Teppich begrüsst und gibt Exklusivinterviews in Hochglanzmagazinen. Sie ist bei wei­tem nicht die ein­zi­ge. In Deutschland hol­te die tür­kisch­stäm­mi­ge Sibel Kekili mit der Hauptrolle in Gegen die Wand (Fatih Akın, 2004), ihrem ersten Dreh aus­ser­halb des Porno, gleich einen ‚Bambi›. Wofür ande­re Schauspielerinnen ein Jahrzehnt anste­hen. Heute spielt sie zur Prime Time auf ARD im Tatort eine Kommissarin. Innerhalb einer Wohnung ist das ein kur­zer Weg, in der Medienwelt eine Interkontinentalreise, was beweist, die Abwehrfront aus bigot­ter oder fun­da­men­ta­li­sti­scher Moral löst sich auf. Alice Schwarzer und die Kirche wer­den klein bei­geben, weil ihnen das Fussvolk in die Normalität von Porno ent­eilt.

Fils de, die Kinder von HPG, wer­den sich mit dem kom­mer­zi­el­len ‚Gliedwerk› ihres Vaters arran­gie­ren, womit er sei­nen anspruchs­vol­len Autorenfilm quer­fi­nan­ziert mit dem Thema sei­nes Ausstiegs aus dem Porno und Einstiegs in eine zwei­te ‚Nouvelle Vague› in Frankreich. Mit einer beweg­li­chen Kamera und einem authen­ti­schen Blick in den urba­nen Alltag zwi­schen Küche, Bett und Arbeit, dem Leben auf den Leib geschaut. Mit einer edlen Tonspur zum Blues der Existenz. Dennoch bleibt die Frage offen: Spaltet sich die Seele vom Körper, wird sie durch Porno stumpf? – Verätzt seri­el­le, anony­me ‚Lust› ganz­heit­li­che Liebesfähigkeit? – Nach etli­chem Streit schie­ben die Eltern Hervé/Baïd ihren Kinderwagen aus dem Film, fas­sen sich wie­der bei der Hand: «Wir blei­ben zusam­men.»

«Electroboy» (Marcel Gisler, Schweiz 2014) – Semaine de la Critique

Was zeich­net Hochstapler aus? – Sie täu­schen nicht nur Opfer, sie par­odie­ren auch das System! – Denn geschrie­be­ne Gesetze funk­tio­nie­ren nur dank den unge­schrie­be­nen! Diese machen den sozia­len Kitt aus, das ‚Comme il faut›. Wer sich an die unge­schrie­be­nen hält, kommt mit den geschrie­be­nen kaum je in Konflikt. ‚Erfolg› defi­niert sich meist durch den Pfad der Tugend ent­lang dem Wertekanon. Der gän­gi­ge Intelligenzbegriff ori­en­tiert sich am Erfolg. Das ergibt einen Kreislauf des Gehorsams, was die Intelligenz begrenzt. Vielleicht müss­te man sie am Beispiel der Hochstapler neu defi­nie­ren: Nicht nur als Fähigkeit zur Analyse des Gegebenen, zur agi­len Opportunität, son­dern auch zu Missbrauch und Parodie. So gesche­hen schon im Fall des Hauptmann von Köpenick, Schuhmacher Voigt, der sich 1906 als Offizier aus­gab, am hell­lich­ten Tag die Stadtkasse plün­der­te.

Heute wiegt Ruhm viel mehr als Geld, das in der Schweiz genug vor­han­den ist. Ruhm ist die Währung des Medienzeitalters. Also träum­te Florian Burckhardt, gebo­ren 1974 in Basel, nach Abitur und Primarlehrerdiplom von ‚Hollywood›, wäh­rend er auf dem Snowboard hohe ‚Flips› stand und ‚Lines› zog. 1993 war das Pionierzeitalter der ‚Rider›, die auch eine neue Ästhetik begrün­de­ten, einen Life Style in ‚Sack›-Kleidung mit hip­pem Layout in Szenemagazinen. Worin die Buch-sta­ben der Titel genau­so über Doppelseiten spran­gen wie sich wag­hal­si­ge Snowboarder in die Tiefe stür­zen. Als Gründer von Independent und Freelancer bei Board Generation mit der höch­sten deut­schen Auflage, im Rückenwind eines neu­en Werbemarkts, brach­te er sein Selbstbewusstsein in die Startlöcher. Es brauch­te nur noch einen hüb­schen Anzug, Brillantine im Haar, einen zudie­nen­den Kumpel, und los ging der neue ‚Rodolfo Valentino› aus der klei­nen Schweiz in die Schwulenszene von L. A. Mit einem One-Way-Ticket, wird schon. Hinein in den Molloch, der Millionen Träume ver­schlingt und wie­der aus­spuckt. Er erfand sich eine Curriculum, das nie­mand in Zweifel zog, noch über­prüf­te, da in USA die Schweiz zum Verwechseln fern ist mit Schweden. Er gab sich im Rausch sei­nes Spiegelbilds als Star aus und wur­de auch einer. Nicht im Filmgeschäft, aber auf dem Laufsteg für Dolce & Gabbana, Prada und Gucci, von L. A. nach Mailand, London und Tokio: Swiss ‚Wonderboy› und Dorian Gray. Atemberaubend auf der hohen Leiter, bis zum Sturz, der immer kommt. Früher oder spä­ter. Bei ihm spä­ter. Er umschifft die­sen mit plötz­li­chen Kehrtwendungen, lässt Verehrer, nicht Verehrerinnen, mit Tränen in der Leere ste­hen, wäh­rend er die sei­ne mit neu­en Höhenflügen aus­he­belt, als gäbe es kein Gesetz der Schwerkraft: Wieder in Zürich und in Berlin orga­ni­siert er rie­si­ge Parties, klotzt 5 CDs mit Elektropop, defi­niert sel­ber, was wer, wenn nicht er ansagt, und Tausende hip­pen mit – er wird «Electroboy», bran­det sich selbst als Label. Zieht naht­los bei R.O.S.A.S. ein, der Pionier- und Top-Werbeagentur für cross­me­dia­le visu­el­le Kommunikation, tüf­telt auf dem ver­gol­de­ten Stuhl an bun­ten Filmchen für die Webseiten grau­er Mäuse, sprich Marketingleiter nam­haf­ter Konzerne, die auf der neue­sten ‚Wave› der Jugend mit­sur­fen wol­len zu bes­se­ren bör­sen­ko­tier­ten Bilanzen. Aber jede rol­len­de Welle hat ein Ende, ufert lei­se aus, ver­sickert im Kies…

Als wäre nichts gewe­sen. Und doch war da vie­les: Fotos, Interviews, Erstaunen und gebro­che­ne Herzen. Und immer wie­der die knap­pen, beis­send intel­li­gen­ten Einsichten eines genia­len Hochstaplers, war­um alles so kam, wie es unmög­lich schien. Heute ist Florian Burckhardt nur noch ein Schatten sei­ner selbst, wenn er sich je war, oder nur ein Spieler jetzt ohne Karten, lebt er iso­liert, licht­scheu und mul­ti­pa­ra­no­id mit sei­nem Hund in einer mitt­le­ren deut­schen Stadt – im Grauen.

Der Dokumentarfilm Electroboy hät­te den Preis der ‚Semaine de la Critique› mehr als ver­dient – und ging doch leer aus. Nicht nur, weil ein Hochstapler, der zumin­dest zeit­wei­lig reüs­siert, den Verhältnissen gna­den­los den Spiegel vor­hält, son­dern auch, weil in die­sem ‚Cinema véri­té› ein Stück rea­le Therapie statt­fin­det:

Wir wer­den Zeuge des Treffens einer Familie, zer­rüt­tet seit dem frü­hen Unfall-tod des Bruders, am Steuer der Vater mit über­setz­ter Geschwindigkeit – als An-fang vom Ende. Und sehen real life zu, wie aus dem ver­meint­li­chen Ende wie­der ein Anfang wird. Das ist viel authen­ti­scher als das bereits bespro­che­ne Porträt Cure (Sabine Gisiger) über Verdienste eines eta­blier­ten Therapeuten in USA.

«Frère et Sœur» (Daniel Touati, France 2014) – Cineasti del pre­sen­te

«Filme über Kinder sind kin­der­leicht, Du brauchst nur eine Kamera hin­zu­stel­len,» schnarrt der Soziologieprofessor aus Mailand etwas ver­ächt­lich. Indes ande­re, den Schreibenden inbe­grif­fen, ver­zückt aus dem Dunkeln in den Regen tre­ten. Aus einem wun­der­ba­ren Universum von Spiel und Ernst der Geschwister Marie (8) und Cyril (6), die sich völ­lig frei vor der Kamera bewe­gen. Was allein schon eine Meisterleistung ist. Zu die­sen bei­den Selbstdarstellern und Laien ein sol­ches Vertrauen auf­zu­bau­en, ihnen so nah auf die Gesichter zu rücken, sie so gedul­dig wäh­rend zwei Jahren zu beob­ach­ten – wie sie sich die Welt aneig­nen. Wir sind live dabei, wie Gedanken in Sprache sprin­gen, lesen die Mimik ihres ersten auto­no­men Denkens. Dabei ist die­se Welt der Kinder nicht viel anders als die Erwachsener. Wir erken­nen uns wie­der. Die gan­ze Klaviatur der Gefühle der Spezies Mensch ist schon da, nur weni­ger gefil­tert, wird laut und lei­se, krea­tiv und destruk­tiv – sucht aus Zorn über Kränkung nach einer Lösung. Genauso ist es, wenn wir imi­tie­ren, beleh­ren und posie­ren. Und auch Kinderhumor ist, wenn die­se trotz­dem lachen.

Wir sind als ein­zi­ge Erwachsene zuge­gen – im Zuschauerraum. Auf der Leinwand blei­ben die raren Stimmen der Eltern strik­te im Off. Das ist der Kunstgriff die­ses erstaun­li­chen Kinderporträts. Das macht die Bühne frei für ein Welttheater im Kleinen von atem­be­rau­ben­der Präsenz. Keine Sekunde ist ver­tan. Wir lau­schen jedem Ton und Wort, neh­men teil an der genui­nen Hingabe. Wie der Zauber von Musik und Tanz ent­steht, die­se in bereits gros­se Persönlichkeiten über­ge­hen. – Dennoch bre­chen sich an die­sem Meisterwerk eines Dokumentaristen unse­re Geister, wie auch der klei­ne Bruder und sei­ne grös­se­re Schwester sel­ten einer Meinung sind. Was beweist, das Kino ist trotz TV und Web auf dem iPad noch längst nicht tot. Solange es Freunde zum Diskurs her­aus­for­dert. Kinderleicht.

Grenzen ‚mit­ten durchs Herz›

Für vie­le bedeu­tet ‚Freiheit› kaum mehr als eine Zigarette rau­chen oder ‚freie Fahrt für mein schnel­les Auto›. Deshalb den­ken Mehrheiten über Minderheiten, die nach mehr ‚Freiheit› ver­lan­gen: «Was bil­den die sich ein!» –

Grammatikalisch ist das eine Frage, also müss­te man den Satz mit einem Frage-zei­chen ver­se­hen. Aber sol­ches Denken ist kein Fragen. Wer kaum je ‚Freiheit› bean­sprucht, noch ver­misst, will auch nichts von ihr wis­sen. Der Satz wirkt sich folg­lich als Anklage aus gegen alles Fremde – er ist ein Abwehrreflex all jener, die sich als Tugendwächter in ihrem Gefängnis zu des­sen Türsteher machen. Gar noch miss­bräuch­lich mit dem Schlagwort der ‚Freiheit›. Damit outen sich alle Populisten – auch in der Schweiz. Bis auch die­se Türsteher mal an eine Grenze kom­men, wo ihnen der Durchgang ver­wehrt wird. Dann erst fängt mensch­li­ches Bewusstsein an – mit der Frage nach der ‚Freiheit›: Wenn man Fragen stellt, statt die­se mit vor­fa­bri­zier­ten Antworten zu ver­hin­dern.

Mauern sind auch sol­che frag­lo­sen Antworten – will­kür­lich errich­tet quer durch die Landschaften und zwi­schen Volksgruppen. Territorien und Ideologien sind eben­so star­re Ausrufe- statt Fragezeichen. Nur Fragen füh­ren zum Frieden, denn sie bedeu­ten das Menschenrecht auf Respekt. ‚Offizielle› Antworten wol­len meist Fragen abwie­geln. Fragekultur ist Friedenskultur – ihr Gegenteil ist die Diktatur.

Als Francis Fukuyama 1992 in Harvard sei­ne These vom «Ende der Geschichte» for­mu­lier­te, war das eher gren­zen­los naiv, als in sei­nem Denken gren­zen­los frei. Er war als Amerikaner nach dem Ende des Kalten Kriegs typi­scher­wei­se noch befan­gen im Blockdenken. Somit ver­stand er den glück­li­chen Fall der Mauer 1989 als Heilsversprechen für eine nun freie Welt. Womit er ‚Geschichte› als fort­schrei­ten­de Befreiung defi­nier­te. «Befreit» zum Kapitalismus höre sie auf. Wir wis­sen es heu­te bes­ser. Auch nach Auflösung der Sowjetunion und ihrer tota­li­tä­ren Ideologie herrscht nach wie vor fast über­all Unfreiheit und Gewalt. Das macht die ‚Geschichte› wei­ter not­wen­dig als Summe aller ‚Geschichten›. Um auch Jean-Luc Godard zu wider­spre­chen, der einen eben­so törich­ten Satz wie Fukuyama von sich gab: «Man kann im Kino heu­te kei­ne Geschichten mehr erzäh­len. Es ist schon alles gesagt.»

Nein, wir müs­sen die Geschichten des ewi­gen Menschentraums von der ‚Freiheit› immer wie­der erzäh­len. In allen Schattierungen und wider­sprüch­li­chen Facetten. ‚Freiheit› defi­niert sich meist durch ihre Bedrohung. Sie ist nebst der ‚Liebe› des Menschen kost­bar­stes Gut. Das sind auch die wich­tig­sten Inhalte der Filmkunst als Raum für Utopie. Auch die ‚Liebe› ver­bin­det sich mit der Freiheit oder erstickt an ihrem Gefängnis. Beide leben von ech­ten Fragen und ehr­li­chen Antworten. Es gab die­ses Jahr in Locarno noch eini­ge Filme, die sich die­sen Achsen der Existenz – «x» für Freiheit und «y» für Liebe – bemer­kens­wert stell­ten:

«Exit» (Chienn Hsiang, Taiwan/Hongkong, 2014) – Cineasti del Presente

Am Anfang die­ses eben­so zar­ten wie har­ten fern­öst­li­chen ‚Kammerspiels› wird Ling, eine allein­ste­hen­de Näherin von 45 Jahren, ent­las­sen. Immerhin darf sie eine Nähmaschine mit nach­hau­se neh­men, die wie sie nicht mehr gebraucht wird. Damit führt sie Reparaturen aus, näht Ballkleidchen für jün­ge­re Frauen, die Tango tan­zen und noch aktiv sind auf dem Heiratsmarkt. Während sie selbst, viel zu früh im Klimakterium, als Frau ‚nicht mehr repro­duk­tiv› ist. Ihr Mann hat sich aus dem Staub zu einer ande­ren gemacht. Ihre Tochter drückt alle ihre Anrufe weg. Der ein­zi­ge Mensch, den sie noch sieht, ist die eige­ne Mutter im Spitalbett.

Bis hier­her also ‚Bonjour Tristesse›, Depression pur. Wer noch im Kino sit­zen bleibt oder die­se Kritik wei­ter liest, muss ein Masochist sein. Der liebt mor­bi­des Licht in anony­men Wohnkasernen und ste­ri­len Fastfood vom Plastiktresen. Der hat nicht schon Dutzende lamen­ta­ble asia­ti­sche Grossstadtdramen gese­hen als ein­zi­ge Alternative zu den noch mehr ver­brei­te­ten Metzeleien von Mafiagangs auf Motorrädern mit Kung-Fu-Akrobatik. Wofür sich eine hohe Funktionärin der «Asian Movie Industry» auch noch im Rampenlicht der ‚Piazza Grande› brü­ste­te.

Doch Exit hält eine uner­war­te­te Überraschung bereit für den, der sit­zen bleibt. Im Spital liegt im Bett gegen­über der Mutter hin­ter dem Vorhang ein Verletzter, der trotz Morphium unsäg­lich stöhnt. Er wird kaum betreut, wes­halb sich Ling ver­stoh­len sei­ner annimmt, womit sie mit aller Konvention bricht. Sie benetzt sei­ne sprö­den Lippen, kühlt sei­ne Stirn. Es erwacht eine Liebesgeschichte nur zwi­schen zag­haf­ten Händen. Sie ken­nen sonst nichts vom andern, wer­den sich nie in die Augen sehen, denn der ver­letz­te jun­ge Mann ist vor­erst blind und dann ent­las­sen. In ihrer gering­sten Berührung fin­det das tief­ste Geheimnis und gröss­te Leidenschaft statt. Ein stum­mer «Pas de deux mains» als Tanz vol­ler Schönheit, mit aller Zärtlichkeit und Wucht der Liebe. Was die Taiwaner Schauspielerin Chen Shiang-chyi hier­bei mimisch fili­gran aus­drückt, wie viel ihr Gesicht wort­los erzählt, ist abso­lu­te Weltklasse von Schauspielkunst und erschüt­tert durch eine kaum erwar­te­te Botschaft: Denn Exit meint nicht den Tod, son­dern das Leben, die­sen vita­len Ausbruch aus Schmerz und Einsamkeit in die Freiheit zur Liebe. Exit war in der Meisterschaft der Reduktion, im bezau­bern­den Schattenspiel sich fin­den­der Hände, wohl kaum je wur­de Vereinigung schon so zart dar­ge­stellt, auch ein stil­les Highlight des dies­jäh­ri­gen Festivals, das lei­der ohne Preis blieb.

«Broken Land» (Stephanie Barbey, Luc Peter, CH 2014),
Semaine de la Critique

Die zwei wich­tig­sten Grenzverläufe der Welt tren­nen nicht nur Kontinente, den armen Süden vom rei­chen Norden. Es fin­det an ihren Zäunen, Gräben, Wachtürmen, Radar- und Hundestationen, mit­tels Drohnen und Bodensensoren, auf ihrem Wasser und in ihren Wüsten auch ein Kulturkampf um Zivilisation statt.

Die Flüchtlingsströme von Südamerika nach USA und von Afrika nach Europa wer­den immer grös­ser, die Schlepper noch aus­beu­te­ri­scher, die Todesfälle zur Normalität. Darüber wird täg­lich berich­tet, die Reizschwelle für Anteilnahme inner­halb der Komfortzonen immer dra­sti­scher. Die Dramen, wem es hin­über gelingt, set­zen sich auch jen­seits der Grenze fort. Die Immigranten wer­den zur poli­ti­schen Manipulationsmasse für rechts­na­tio­na­le Populisten und ihre blind-wüti­gen Anhänger, wel­che die nörd­li­chen Demokratien und von der Verfassung garan­tier­te Bürgerrechte aus­he­beln.

Die «Tortilla Wall» erstreckt sich von den Grenzstädten San Diego und Tijuana am Pazifik über 3’144 Kilometer bis nach Brownsville (Texas) am atlan­ti­schen Golf von Mexiko. 2006 über­quer­ten offi­zi­ell 250 Millionen in bei­den Richtungen die Grenze, geschätz­te 350’000 Menschen wan­dern jähr­lich ille­gal in die USA ein. 2000 wer­den tot gebor­gen – ver­dur­stet oder erschos­sen (Quelle: Wikipedia).

Es gibt schon etli­che Fernsehdokumentationen über den mar­tia­li­schen Zaun, die Massen, die ihn anstür­men, und die mili­tä­risch hoch­ge­rü­ste­ten Grenzpatrouillen, die genau das ver­hin­dern wol­len. Aber noch nie galt ein Dokumentarfilm jenen Amerikanern, die in die­sem ‚No Man’s Land› von will­kür­li­cher staat­li­cher Grenze ein­ge­sperrt sind, so dass Indianer ihre Heiligtümer in Sicherheitszonen nicht mehr besu­chen kön­nen und Familien in einem Klima der Menschenjagd mit ihren Kindern leben müs­sen: «Sie geben vor, die Grenze für uns zu beschüt­zen, und machen unser Leben zur Hölle. Täglich müs­sen wir auf dem Schulweg meh­re­re Checkpoints pas­sie­ren. Sie kon­trol­lie­ren uns immer wie­der, obschon sie uns alle ken­nen. – It’s hard to teach my kids any trust becau­se in the out­side world is con-stant­ly fear!» – Dieser besorg­ten Mutter ste­hen gedul­de­te, auch in gefälsch­ten Uniformen mor­den­de Bürgerwehren gegen­über mit Jagdinstinkt, aber wenig Bildung: «Das ist doch kein Rassismus, wenn wir unse­re Grenze ver­tei­di­gen. Wir wis­sen nicht, haben sie Bomben, sind es Mörder. Wenn wir die­sen Zaun nicht hät­ten, wie vie­le, glau­ben Sie, wür­den von Bangladesh hier­her kom­men? – Millionen! Wir ver­tei­di­gen hier den höch­sten Lebensstandard und die beste Nation der Welt gegen das gan­ze Universum.» – Deshalb hängt am fünf Meter hohen Wüstenzaun in Riesenformat ein fro­sti­ges Plakat: …Good fen­ces make good neigh­bours. Robert Frost.» Die Wirkung ist beschei­den.

Broken Land ist auch eine Spurensuche von Tausenden jun­gen Männern, die unter Lebensgefahr ihr Glück und das ihrer zurück­ge­las­se­nen Familien suchen. Direkt sehen wir kei­nen ein­zi­gen Flüchtling. Erfahren aber von Anwohnern, die auch ille­ga­le Hilfe lei­sten, Verpflegung und Wasservorräte hin­ter­le­gen, dass die häu­fi­gen Bussarde hier alle fett wären von den Leichen. Von eini­gen lan­den die sterb­li­chen Überreste, wobei auch die Gebeine noch ihre Geschichte erzäh­len, von Alter und Herkunft, bei ein­fühl­sa­men Anatomen in den Grenzspitälern, die bemüht sind, die Angehörigen zu ver­stän­di­gen, wenn sich die­se aus Fotos und Ausweisen erschlies­sen las­sen: «Das Schlimmste ist, wenn Familien, Mütter und Kinder Jahre in Ungewissheit aus­har­ren, ob ihre Liebsten noch leben!» – So sind auch an der Grenze des ‚American Way of Life› alle mensch­li­chen Gegensätze sess­haft. Die Fratze und das Lächeln. Broken Land gibt die­sem Schweigen in der Wüste, den lee­ren Kanistern, der Würde man­cher letz­ten Behausung unter kar­gen Büschen ver­stö­ren­de Bilder und Stimmen, die noch lan­ge nach­klin­gen.

«Dancing Arabs» (Eran Riklis, Israel/Frankreich/D 2014) – Piazza Grande

Eyad (14) ist ein hoch­be­gab­ter Schüler und der gan­ze Stolz sei­ner ara­bi­schen Familie. Sein Vater wur­de einst von der Universität aus­ge­schlos­sen wegen der Teilnahme an Demonstrationen für die Rechte der Araber. Eyad soll nun des­sen gesell­schaft­li­che Ehre wie­der her­stel­len. Wegen sei­ner Bestnoten erhält er tat-säch­lich einen Freiplatz an der renom­mier­te­sten High School Jerusalems mit krea­ti­ven Freiheiten wie auf einem ame­ri­ka­ni­schen Campus: Man spielt Theater, musi­ziert und zitiert euro­päi­sche Freigeister. Dabei wer­den er und die sinn­lich offe­ne Naomi zum inni­gen Liebespaar. Bis deren Eltern aus der jüdi­schen Elite davon erfah­ren. Nun zeigt sich unter dem libe­ra­len Firnis nack­ter Rassismus. Naomis Eltern wol­len sie von der Schule neh­men. Stattdessen ver­zich­tet Eyad und nimmt einen Job als Tellerwäscher an. Sein ehe­ma­li­ger Zimmerkumpel Jonathan lei­det an Muskelschwund, kann eben­falls nicht mehr zur Schule. Eyad nimmt die Einladung der Mutter an, Jonathan zu betreu­en und wird zu des­sen Sterbebegleiter. Naomi fällt nach anfäng­li­chem Liebeskummer nicht weit vom Stammbaum und macht Karriere in einer Eliteeinheit der Armee, was zwei­fel­los ihr aka­de­mi­sches und beruf­li­ches Fortkommen in der aus­ge­präg­ten israe­li­schen Ständegesellschaft beför­dern wird. Deren unter­ste Stufe die Araber ein­neh­men, obwohl eben­falls Bürger Israels. Als Jonathan stirbt, nimmt Eyad mit Einverständnis der Mutter des­sen Name an und schafft unter fal­scher Identität die Aufnahme an die Universität.

Dancing Arabs zeich­net lie­be­voll und far­big ver­schie­de­ne Milieus im moder­nen Israel, deren ober­fläch­li­ches Zusammenleben, aber auch des­sen rigi­de sozia­len Trennwände, wel­che Eyad den Aufstieg zum Akademiker nur unter Verleugnung sei­ner wah­ren Herkunft mög­lich machen. Dabei ist Dancing Arabs wohl eben­so ein Klischee für ara­bi­sche Lebensfreude wie wir ger­ne das all­jähr­li­che Tanzfest der Zigeuner in Saintes-Maries-de-la-Mer als Folklore besu­chen, zuhau­se aber ihre Standplätze mei­den. Dancing Arabs ist bei aller Psychologie der Figuren eine bit­te­re Anklage gegen den Staat Israel und sei­ne Elite. Der einst gegrün­det von Verfemten, längst sel­ber zum Rassismus neigt. Aus Opfern wur­den Täter.

«Durak» (Yury Bykov, Russland 2014) – Internationaler Wettbewerb

Man neh­me die Pressefotos von Wladimir Putin der letz­ten Monate, höre sei­ne Friedensrhetorik mit lei­ser Stimme und einem Blick aus blau­en Augen wie der Heilige von El Greco, was schon Georg W. Bush und Gerhard Schröder irre­führ­te, nun auch noch alle ‚Putinversteher›, was wohl auch an der Intelligenz liegt – und befin­det sich schon inmit­ten der Geburtstagsfeier von Durak (der Verrückte) von Honorablen einer rus­si­schen Kleinstadt. Es wird Wodka kre­denzt (cre­de­re = glau­ben) auf die Verdienste von «Mutti», der Bürgermeisterin, wel­che die Stadt in zwan­zig Jahren hoch­brach­te. Das ‚Familiäre› sug­ge­riert sozia­le Verbindlichkeit, kaschiert aber nur das rea­le Machtgefälle. Stalin hat­te den Beinamen ‚Väterchen›.

«My film repres­ents most of Russian life. The models of human rela­ti­ons that have exi­sted for hundreds of years. Russian poli­tics is based on lies,» sagt der 33-jäh­ri­ge Yury Bykov von sei­ner Hardcore-Parabel über kor­rup­te rus­si­sche Zustände. Wir wol­len die Russen nicht ver­teu­feln. In Missing (Costa-Gavras, 1982) lügen die Amerikaner genau­so über das Verschwinden eines Studenten in Santiago, als der CIA Agusto Pinochet an die Macht mor­de­te. Auch Henry Kissinger kann bis heu­te dreist dar­über lügen. Lüge scheint der Kitt einer jeden Pyramide aus Willkür und Macht.

Ein Hochhaus ist eine Konstruktion wie die Gesellschaft, bei­de ruhen auf einem Fundament. Wenn sie soli­de gebaut sind. Die Zweckentfremdung von Budgets in Privatschatullen statt in die öffent­li­che Bausubstanz kann bei­des zum Einstürzen brin­gen. Lügengebäude haben eine schlech­te Statik. So neigt sich das Hochhaus an die­sem Abend der Geburtstagsparty gefähr­lich im Schneetreiben und Wind. Dima Nikitin, ein grund­ehr­li­cher Klempner der Stadtverwaltung, ent­deckt einen Riss durch alle Badezimmer und Stockwerke. Er eilt ans Fest und schlägt bei den Verantwortlichen Alarm. Man müs­se sofort eva­ku­ie­ren. Diese wim­meln ihn erst ab, schimp­fen ihn inkom­pe­tent. Endlich inspi­zie­ren zwei Stadträte die Gefahr vor Ort. Es ist ihr Todesurteil. Denn nun sind auch sie Zeugen. Die Rettung käme zu teu­er. Also tun die Verursacher der Missstände gar nichts. Auch «Mutti» sind die Hände gebun­den, weil in der Nomenklatura jeder des andern ‚Einkünfte› weiss. Auch die Bürgermeisterin ver­dankt ihre Karriere dem Polizeichef. Der lässt als Symbolfigur für die Macht noch immer in Händen von Militär und KGB (heu­te FSB) sei­ne Kollegen Zeugen von der Miliz erschies­sen. Nur Klempner Nikitin las­sen sie lau­fen, ein rus­si­scher ‚Michael Kohlhaas›, der statt mit sei­ner Familie zu flie­hen, auf eige­ne Faust ver­sucht, die aso­zia­len Bewohner aus dem Wohnsilo zu ret­ten. Als grau­sa­me Ironie auf die Geschichte von sei­nem Idealismus wird er nicht von der staat­li­chen Mafia, son­dern von denen, die er ret­ten will, gelyncht.

Es ist erstaun­lich, dass ein so hart gezeich­ne­tes poli­ti­sches Drama mit schar­fer Kritik an Putins ‚System› gera­de jetzt den Weg in den Westen fin­det. Noch muss es in Moskau libe­ra­le Kräfte geben, die Oppositionelle gegen wie­der­erwach­ten Staatsterror unter­stüt­zen.

Trotz der fata­len Endzeitgeschichte – wie Kafkas Romane von alle­go­ri­scher Tragweite – will der Regisseur sei­nen Film, beru­hend auf eige­nen Erfahrungen, den­noch nicht als pes­si­mi­stisch ver­stan­den wis­sen. Die Botschaft des Films sei letzt­lich hoff­nungs­voll. Indem sich der Klempner, ein Mann aus dem Volk, der Zynik des Apparats und der Korruption ent­ge­gen­stellt. Für sei­ne star­ke Interpretation des Zivilisten Nikitin, der ein­fach nur Verantwortung über­neh­men
will und dabei zu Tode kommt, erhielt Artem Bystrov in Locarno den ‚Goldenen Leoparden› für die beste männ­li­che Hauptrolle.

«The cha­rac­ter wins when he does ever­ything he can pos­si­bly do to suc­ce­ed. What is important is to try. The result is not important. The attempt to reach suc­cess is important, regard­less of whe­ther suc­cess comes or not.» – Zu einem Vergleich mit Dostoyevsky’s Idiot (Durak!) winkt Regisseur Yury Bykov ab: «Dostoyevsky’s cha­rac­ter is patho­lo­gi­cal. My film’s cha­rac­ter is prag­ma­tic, but he has a moral code. The cha­rac­ter is not affec­ted by this social dise­a­se. Thank God the­se peo­p­le exist to give us this high exam­p­le of truth. We need such peo­p­le.»

Auf dem Maidan in Kiew ver­sam­mel­te sich gera­de eine sol­che Zivilgesellschaft und ver­lang­te erfolg­reich nach mehr Selbstbestimmung für sich und die Ukraine. In alten Reflexen behaf­tet von 1956 und 1968, insze­niert Russlands Führung aus der ideo­lo­gi­schen Schule des ehe­ma­li­gen KGB wie­der einen Krieg, der sich zum Brandherd auch für Europa aus­zu­wei­ten droht. Einmal mehr ste­hen Panzer gegen Freiheit. Die Geschichte lehrt, die Freiheit ist letzt­lich nicht auf­zu­hal­ten.

«Mula sa kung ano ang noon» (Lav Diaz, Philippinen 2014),
Internationaler Wettbewerb

Die fast sechs Stunden Länge von Woher wir kom­men in deut­scher Verkürzung des Siegerfilms des Internationalen Wettbewerbs von Locarno 2014 sind bereits Legende. Solchen Legenden geht ihr Ruf vor­aus, sel­ten nach, denn die wenig­sten haben das Original in vol­ler Länge gese­hen. Gelegenheit dazu wird nebst wei­te­ren Festivals auch kaum mehr sein, denn nur weni­ge Liebhaberkinos wer­den das gewal­ti­ge Epos zei­gen, viel­leicht ARTE im Nachtprogramm. Schon mal hielt sich ein Film an kei­ne Vorgaben des Vertriebs und Marktes: Ariane Mnouchkine und ihr Pariser Théâtre du Soleil bei der Verfilmung von Molière (1978), eben­falls ein über­wäl­ti­gen­des Epochenbild von 4–5 Stunden Länge auf der per­sön­li­chen ‚Longlist› der 50 besten Filme aller Zeiten. Dieses Werk gibt es nur noch auf DVD.

Ganz ähn­lich ver­hält es sich in der Literatur etwa mit Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, des­sen tau­send Seiten kaum jemand durch­steht. Gleichwohl spricht ‚man› – weit mehr als die Leser – von einem Jahrhundertwerk. Und wie sich Musil die Freiheit nimmt, auf den ersten Seiten ein­fach nur die Wolkenlage über Wien an einem Augusttag vor dem ersten Weltkrieg zu beschrei­ben, wie er über die Meteorologie die zuneh­men­de Spannung beschreibt, die sich als Ernst Jüngers Stahlgewitter töd­lich ent­la­den wird, so ent­wickelt auch Lav Diaz in Mula sa kung ano ang noon erst all­mäh­lich die Zeichen der Zeit, wel­che ins Kriegsrecht und die Diktatur von Ferdinand Marcos (1972 – 1981) mün­den.

Doch die­se Diktatur ist nur ein Symptom der Verhältnisse, nicht deren Ursache. Der Spielfilm zeigt in Schwarzweiss eine vor­in­du­stri­el­le Gemeinschaft auf dem Lande zwi­schen gackern­den Hühnern, Reisfeldern und Ozeanklippen, wie sie nicht nur in Asien immer noch vor­zu­fin­den ist. Der Verzicht auf Farbe hat nicht nur öko­no­mi­sche Gründe, son­dern macht die Szenerie noch sug­ge­sti­ver, redu­ziert von jeder Ablenkung. Die Radikalität der Bilder und Handlung erin­nert an Suna no onna (Die Frau in den Dünen) von Hiroshi Teshigahara, Japan 1964.

Das Dorf ist ein klas­si­scher Huis clos, ein über­schau­ba­rer Kosmos mit Figuren, die nicht von ihm los­kom­men. Sie zap­peln wie in einem Spinnennetz in ihrer Verstrickung. Ein Waisenjunge wächst bei sei­nem ‚Onkel› auf, der ihm erzählt, sei­ne Eltern hät­ten ihn für immer ver­las­sen. Am Ende des Films erfah­ren wir: er ist selbst der Vater des Jungen und hat als Liebhaber der Mutter die­se und ihren Mann erschla­gen. Da ist eine jun­ge Frau, die ihre epi­lep­ti­sche Schwester pflegt, mit die­ser Bürde allein gelas­sen, die­se zuletzt ver­gif­tet und mit ihr ins Meer geht. Da ist der Priester, der nur das Beste will und im ent­schei­den­den Moment das Schlechte tut. Als revo­lu­tio­nä­re Banden infil­trie­ren und der auto­ri­tä­re Staat als Antwort eine Militärbasis errich­tet, erschei­nen die­se nur als logi­sche Ausbrüche aus der sozia­len Enge. Diese Ereignisse haben auch einen histo­ri­schen Bezug.

Was das post­hu­me Gemälde des phil­ip­pi­ni­schen Regisseurs von sei­ner Kindheit aus­zeich­net, ist wie er dies zeigt: Er hält tat­säch­lich die Lupe auf die Zeit, lässt sie gesche­hen, unter­wirft die Bilder wie­der ihrer unauf­ge­reg­ten Ruhe, erdet sie an den Dingen, wie sie sind. Das ist weder lang- noch kurz­wei­lig. Gut Ding will Weile haben. Denn nach anfäng­li­chem Widerstand gegen die­se «Echtzeit» ohne übli­che Verkürzung und Beschleunigung unter­wirft man sich ihrem Diktat. Plötzlich ist man nicht mehr nur Betrachter, son­dern tritt selbst ein in die­se archai­sche Welt.

Die Bilder begin­nen zu atmen und wir in ihnen. Wir sit­zen nicht mehr im Kino, son­dern vor Ort. Werden vom ste­ten Monsunregen eben­so nass – im Trockenen.

Ein sol­ches Wagnis gegen­über dem Zuschauer setzt sehr viel Mut vor­aus. Auch Andrei Tarkovsky ging es ein, bezeich­nen­der­wei­se – im Titel wesens­ver­wandt – in Nostalghia (Russland/Italien, 1983), wor­in ein trop­fen­der Wasserhahn die Zeit wie­der dehnt in ihr ech­tes Erleben. Blicke ich nach Jahrzehnten auf die­sen Film zurück, so weiss ich nichts mehr von des­sen Handlung – der Wasserhahn tropft noch heu­te. Genauso ver­hält es sich mit einem Film von Ingmar Bergman, des­sen Titel ich nicht ein­mal mehr erin­ne­re. Doch sei­ne Wanduhr tickt wei­ter­hin in den Raum, macht die Zeit spür­bar auf ihrer ewi­gen Bahn ent­ge­gen all unse­rer Zerstückelung. Woher wir kom­men meint auch uns. À la recher­che du temps.

Wahrscheinlich macht genau dies das Geheimnis fil­mi­scher Meisterschaft aus: Im Kern geht es nicht um die Handlung, deren Sinn und Zweck, son­dern um die inne­ren, meta­phy­si­schen Bilder – ein trop­fen­der Hahn, die Stundenglocke einer Uhr. In Mula sa kung ano ang noon ist es ste­ti­ger Monsunregen als Trauer über die Verlorenheit der Existenz und der Sturm der Meeresbrandung als ihre Wut.

: http://www.kulturkritik.ch/2014/locarno-zum-letzten-abschlussbericht-vom-67-internationalen-filmfestival/