Locarno Entre Acte

Von

|

Drucken Drucken

Gewaltorgien sind im heu­ti­gen Kino Gang und Gäbe. Auch die Eröffnungsfilme auf der Piazza, die­ses Jahr «The Sweeney» von Nick Love, zeich­nen sich dadurch aus. Dass es auch ganz anders gin­ge, zeigt «Une Estonienne à Paris», der bis­her dich­te­ste, wohl aber auch unschein­bar­ste Beitrag am Filmfestival.

Filmkritik und Krise

Filmkritik han­delt von Kritik. Darin ent­hal­ten ist Krise, was schon bei den Griechen hiess – sich ent­schei­den. Ein Kritiker ist jemand, der durch Krisen geht und sich ent­schei­det. Für oder gegen. Zum Beispiel für Menschenliebe und gegen Menschenhass. Für Poesie und gegen Machart. So sind für mich als Filmkritiker man­che gefei­er­ten Regisseure, ihre gar als «hei­li­ge Kühe» hoch­ge­ju­bel­ten Werke nur ver­sier­te Filmer von Machwerken – viel­leicht krea­ti­ve Handwerker, aber kei­ne Autoren, kei­ne Poeten. Poesie hat immer mit der Utopie zu tun – einer bes­se­ren Welt, ist lei­den­schaft­li­che Spurensuche mensch­li­cher Transzendenz – kei­nes­falls aber blos­se Abbildung oder gar Ästhetisierung mensch­li­cher Zerstörung. Wahre Meisterwerke der Filmkunst sind sol­che, die Zärtlichkeit ver­mit­teln, die auch in tief­sten Abgründen des mensch­li­chen Daseins noch Hoffnung ins beweg­te Bild rücken, die in uns etwas bewe­gen. Solche Bilder sind erst wirk­lich bewegt.

Big Business und Gewalt

Kulturkritik hat auch mit Kulturkampf zu tun, wozu meist höf­lich gelä­chelt wird. Als 1991 in «Wild At Heart» auf der Piazza in Locarno ein geköpf­ter Kopf über die Leinwand raste und sein Filmleben aus­hauch­te, fan­den das die mei­sten lustig. Fürwahr ein Gag im Film, doch nicht im Leben. Auch unter den Kritikern wag­te kaum jemand der all­ge­mei­nen Begeisterung ob der raf­fi­nier­ten Flugbahn eines Menschenkopfes, der eben noch sprach, zu wider­spre­chen. Eine noch heu­te löb­li­che Ausnahme war Walter Ruggle, damals Filmkritiker des «Tages Anzeiger», nun enga­gier­ter Verleiher und Mitproduzent von Trigon-Filmen. Es geht hier um kei­ne «Minima Moralia» (Adorno), son­dern um Verantwortung. Das Entsetzen über Amokläufe mit rea­len Toten in Deutschland, USA und anders­wo ist eben­so naiv wie bigott. Solange die Waffenindustrie nicht ruht, solan­ge die Kulturindustrie mensch­li­che Gewalt ritua­li­siert, gar als Kunstwerke zele­briert. Dass sich auch der eige­ne Sohn über «Pulp Fiction» amü­siert. Man bewun­dert das Schiessen und ver­gisst des­sen Folgen. Vielleicht sehen wir am Fernsehen davon zu viel, viel­leicht ban­nen wir den Schrecken im the­ra­peu­ti­schen Rollenspiel? Doch kön­nen die Opfer von Folter wirk­lich gene­sen, indem sie sel­ber fol­tern – self-saving by faking tor­tures?

David Lynch und Quentin Tarantino sind gefei­er­te Kultfiguren der Kultur-schicke­ria, und fin­den mas­sen­wei­se noch bil­li­ge­re Nachahmer in der Game Industry, im Web. Man muss sich über rea­le Gewalt nicht wun­dern und wun­dert sich doch. Film und Leben füh­ren eine ver­häng­nis­vol­le Ehe. Was für Stellvertreterkriege füh­ren die Nachsteller von Gewaltexzessen aus dem rea­len Leben im irrea­len Kino? Warum ergöt­zen sich so vie­le am Götzen Gewalt? Geht es der Filmindustrie nur um ihr Goldenes Kalb? Hat das gan­ze Trauerspiel ein System, ist z.B. Hollywood unter­wan­dert von der US-National Riffle Association?

Wie heis­sen doch gleich die Investoren von «Lethal Weapon»? – Michael Moore war an der Frage schon mal dran in «Bowling for Columbine» (USA 2002). Was macht auch für die Programmverantwortlichen von Locarno jedes Jahr wie­der Gewalt so sehr zum Faszinosum, dass sie das Festival auf der Piazza mit solch destruk­ti­ven Delirien eröff­nen? – Im letz­ten Jahr (2011) war es «Super 8» von Steven Spielberg (!), heu­er «The Sweeney» von Nick Love (GB 2012). Wobei man dem letz­te­ren nebst der unzu­mut­ba­ren Gewaltorgie immer­hin noch die sub­ti­le Studie einer nicht kor­rum­pier­ba­ren Männerfreundschaft nach­schrei­ben kann. Insofern führt eine Alternative aus der mecha­ni­sti­schen Spirale hin­aus. Doch ist die schwer nach­voll­zieh­ba­re Lust an der Darstellung von Gewalt nicht nur ein machi­sti­sches Phänomen. Es kom­pen­siert sich dabei nicht nur der unter­drück­te Urschrei männ­li­cher Nachfahren von Affen aus dem rea­len fru­strie­ren­den Büroalltag. So war eine Kollegin der schrei­ben­den Zunft über «Baise-moi» (FR 2000) von Virginie Despentes, wor­in zwei bekann­te Pornodarstellerinnen wahl­los Männer auf­reis­sen und nach offen gezeig­ten Sexualakten in einem unwah­ren Blutrausch abschlach­ten, hell­auf begei­stert – wohl aus femi­ni­sti­schen Rachegelüsten.

Auch der dies­jäh­ri­ge Wettbewerbsbeitrag aus Italien «Padroni di Casa» (IT 2012) des jun­gen Regisseurs Eduardo Gabbriellini kopiert bei Lehrmeistern des Gewaltfachs. Die Settings glei­chen sich im Theater wie im Film: Ob ein sol­ches «Fegefeuer in Ingolstadt» (von Marieluise Fleisser) statt­fin­det oder anders­wo, bei Fassbinder oder ame­ri­ka­ni­schen Western: Diesmal trans­fe­riert sich einer in den Apennin. Statt Goldsucher kom­men Fliessenleger aus Rom für einen Auftrag in eine Villa aufs Dorf und brin­gen ahnungs­los die Eiterbeule laten­ter Aggression hin­ter der Langeweile in der Provinz zum Platzen. Eine Kinostunde spä­ter lie­gen ein unge­schütz­ter Wolf leb­los unter der Plane auf der Ladebrücke des Pick-up und drei Tote im Treppenhaus. Wie die Verstörung wie­der von den Gesichtern ver­schwin­det, zei­gen sol­che Filme nie.

Small busi­ness und Gewalt

Gewalt ist nicht nur gut im Geschäft, als Handelsware und Abbild der Welt, wie sie viel­fach ist – Gewalt ist auch der Zement von Hierarchien, damit sie nicht bröckeln. Gewalt geschieht aus Angst und führt zu Angst. Gewalt ist das letz­te Mittel, wenn Menschen unfä­hig sind zu lie­ben. Sie ist die extrem­ste Form von Abgrenzung: Man zer­stört lie­ber das Fremde, das man nicht liebt, mit dem man sich nicht ver­bin­den kann. Solches geschieht im Film auch back­stage: 1983 spiel­te ich noch sel­ber auf dem Set. Es war ein Hirtendrama in Sardinien am schö­nen, stil­len, wür­zi­gen Arsch der Welt mit dem Autor von «Padre Padrone». Gavino Ledda wir­bel­te eine harm­lo­se Schlange durch die Luft, war gera­de dabei, sie unnö­tig zu töten im «Dienste» des Drehbuchs. Ich gebot ihm Einhalt und flog aus der Produktion. Danach kürz­ten sie «Hybris» (Italien 1984) um eine gan­ze Episode mit mir als Hauptdarsteller.

Hanna und die Leere

Was macht gutes Kino aus? Womit über­zeu­gen Schauspieler? – Als schlech­tes Beispiel erin­ne­re ich eine Hotelszene in «Antonieta» von Carlos Saura (ES 1981) mit der über­schätz­ten Hanna Schygulla, einst die Muse von Fassbinder: Eine Frau bezieht mit ihrem Gepäck ein Hotelzimmer – allein. Kein Anruf, kein Monolog als nur Schweigen mit sich selbst. Wie ver­geht nun die­se eine Minute? – In einer sol­chen Situation zeigt sich das wah­re Können einer Schauspielerin. Was tun wir sel­ber, wenn wir irgend­wo war­ten, uns ent­span­nen, inne­hal­ten? – Wir tun nichts, wir sind ein­fach. Und tun dabei doch vie­les, ohne zu wis­sen, dass wir es tun. Wir beschäf­ti­gen uns mit dem Fingernagel, strei­chen ein Haar vom Kleid, star­ren in die Flecken an der Wand, deren Form dabei zum Hals eines wie­hern­den Pferdes wird. Und den­ken dabei an Sex, Geld, an den Tod, an die Eisdiele – oder an gar nichts. Nun, Hanna Schygulla war nicht wirk­lich da, sie tat nur so und tat – in durch­schau­ba­rer Absicht – vie­les. Ihr Tun ver­riet Angst vor dem lee­ren Raum, vor der Tatsache, dass sie ihn nicht fül­len konn­te, aber woll­te.

Ode an eine Pantoffelheldin – «Une Estonienne à Paris»

Ganz anders ver­hält es sich mit den bei­den Darstellerinnen im bis­her dich­te­sten, wohl auch unschein­bar­sten Film der 65. Ausgabe des Filmfestivals von Locarno. Zwei Estländerinnen tref­fen sich in Paris: Anne (Laine Mägi) reist an aus dem Schneetreiben ihrer Heimat, nach­dem ihre Mutter ganz erkal­tet ist – zu Frieda (Jeanne Moreau), die schon lan­ge und gedie­gen an der Seine resi­diert. Anne soll sich um Frieda küm­mern, die eitel und depres­siv mit dem Alter hadert. Wer eine sol­che Inhaltsbeschreibung liest, weicht erst ein­mal aus zu schein­bar attrak­ti­ve­ren Filmen im Programmheft, bis er die drit­te und letz­te Chance zur Sichtung noch packt.

Man bereut es nicht, son­dern ver­folgt – plötz­lich hell­wach – die Tiefenschärfe der Kamera, wie sie unauf­ge­regt auch stum­me Gesichter Bände spre­chen lässt. Eine Stimmung wie im «Mädchen aus der Streichholzfabrik» (Finnland 1990) von Aki Kaurismäki legt sich in die ruhi­gen, kar­gen, aber umso viel­sa­gen­de­ren Bilder. Bilder, die – im Gegensatz zum dra­ma­tur­gisch ver­plan­ten Amerikanischen Kino – manch­mal ohne Bedeutung auf leb­lo­sem Interieur ruhen und gera­de dadurch Inhalt und Atmosphäre gewin­nen. Unterstützt von einem eben­falls exzel­len­ten Sound, lyri­schem Jazz zwi­schen Jan Garbarek und Stan Getz, ent­fal­tet sich zwi­schen den bei­den Frauen nach etli­chen Hürden eine Freundschaft. Dabei öff­net Frieda wohl eben­so wie Jeanne Moreau im rich­ti­gen Leben ihr wei­ches Herz unter der rau­en Schale. Womit wir auch beim authen­ti­schen Film und wirk­lich­keits­na­hem Schauspiel ankom­men: Denn Laine ali­as Anne ver­liert in einer Szene bei­na­he ihren einen Pantoffel und zieht die­sen wie­der über die Ferse. Ganz so, wie es im Leben zufäl­lig geschieht. Was die Amis wohl raus­schnit­ten, macht sie im Europäischen Kino zur Pantoffelheldin in einem Film mit guter Aussicht auf einen Leoparden.

Copyright © 2011 Kulturkritik • Kritische Stimmen zum Zürcher Kulturgeschehen Kulturkritik.ch ist ein Projekt der Plattform Kulturpublizistik • Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK)

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo