Seit jeher unter­wegs: Literarische Fragmente 9

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Von Konrad Pauli – Die knapp Zweijährige scheint sich irgend­wo eine tie­fe Abneigung, ja Angst vor Vogelfedern ein­ge­fan­gen zu haben. Greift man unter­wegs nach einer Feder, will man sie ihr geben, gerät die Kleine gera­de­zu in Panik, ihr sträu­ben sich buch­stäb­lich die Haare. Eines Sonntags sind Grossmama und Grosspapa mit ihr unter­wegs – und unterm Baum liegt eine in vie­ler­lei Farben schim­mern­de Vogelfeder. Grosspapa hebt sie auf, führt zunächst ein begei­ster­tes Selbstgespräch über das Fundstück, was zumin­dest die Aufmerksamkeit des Mädchens weckt. Sobald sie sieht, wor­um es geht, wen­det sie sich ent­setzt ab, will ganz und gar nicht mit der Zartheit der Federchen in Verbindung gebracht wer­den. Grosspapa spricht mit der Feder, streicht mit den Fingern über sie, führt sie nun über die Hände, die Arme, die Stirn und den Nacken. Aus siche­rem Abstand, stets zur Flucht bereit, schaut die Kleine zu. Respekt und Neugierde hal­ten sich die Waage, las­sen sie einen Schritt nach vorn, und sofort wie­der zurück tun. Grosspapa, dem Anschein nach selbst­ver­ges­sen mit der Feder beschäf­tigt, ver­mag das Mädchen nun doch zu fes­seln; vor­sich­tig kommt es näher, auf spit­zem Fuss und mit vor­ge­streck­tem Hals, will, ohne sich zu ver­stricken, dem Geheimnis der Feder auf die Spur kom­men – wenn Grosspapa ihr mit der Feder frei­lich ent­ge­gen­kommt, sie die fei­nen Härchen spü­ren las­sen will, treibt er das Mädchen mit klein­ster Geste gera­de­zu in die Flucht. Grosspapas Strategie wei­tet sich inso­fern aus, als er Grossmama in die Liebkosung ein­be­zieht – und Grossmama äus­sert, absicht­lich über­trie­ben, Zeichen des Entzückens, was die Kleine zumin­dest von wei­te­ren Fluchtgedanken abhält. Man geht wei­ter, tut so, als sei die Feder ver­ges­sen, doch bald wird das spie­le­ri­sche Ritual fort­ge­setzt. Und end­lich gelingt es Grosspapa, das Federchen über des Mädchens Hand strei­chen zu las­sen. Die Kleine steht wie ver­stei­nert, starrt auf das Ungeheuerliche, lässt’s aber gesche­hen. Später nimmt das Mädchen die Feder, strei­chelt sich, dann auch Grossmamas und Grosspapas Haut. Mit gröss­ter Behutsamkeit, als könn­te etwas zer­bre­chen. Schliesslich fin­det sie gar ein wei­te­res Federchen, ein klei­nes zwar, aber die Angst ist weg und hat dem Vertrauen Platz gemacht.

Foto: zVg.
ensuite, September 2010

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